Etwa eine Stunde später hatten ich und Noah auch die letzten beiden Adressen abgeklappert. Meine letzten beiden Chancen die Kette wieder zu finden. Ergebnislos.
Als ich aus dem letzten Gebäude ins freie trat, fiel mir das Atmen schwer. Unruhig lief ich auf und ab, und wedelte mir mit der Hand Luft zu. Frische Luft, ich brauchte frische Luft. Ich stand kurz vorm hyperventilieren.
Noah stand noch immer im Eingang des Wohnblocks und schaute mir eine Weile zu. Irgendwann kam er auf mich zu, hielt meine Hände fest und zwang mich auf den Bürgersteig zu setzen. Sein Gesicht war seltsam verzogen und ich konnte sehen, dass er mit der Situation gerade überfordert war. Wäre es gerade nicht so ernst gewesen, hätte ich beinahe gelacht.
„Alles gut Lissi?", fragte er besorgt. Ich atmete noch immer schwer, schüttelte aber den Kopf. In meinen Augen sammelten sich Tränen. „Ich bin der unfähigste Mensch, den es gibt. Ich schaffe es ja nicht mal auf eine Kette aufzupassen und wenn der Stiefdrachen das rausfindet steckt sich mich eiskalt in ein Internat. Aber nicht so ein tolles Internat, nein, sie will dass ich in so ein superreiches Internat gehe. Dort soll ich benehmen lernen und mich verhalten wie eine dieser Trophäenweiber, die sich alte reiche Säcke anlachen. Ich will aber nicht so werden! Ich will diese ganze Superreichen Mist, den sie macht nicht machen. Sie spendet für wohltätige Zwecke, weil das reiche Leute nun mal so machen, aber wenn ich sage, dass ich selbst mit anpacken will, dann höre ich nur nein. Eine feine Dame macht sowas nicht. Sie steht nur da und lächelt und gibt anderen ihr Geld.", sprach ich hysterisch.
Um so mehr ich sprach , umso schneller und hysterischer wurde ich.
Ich glaube kaum, dass Noah irgendetwas, von dem was ich gesagt hatte, verstanden hatte, aber er hörte mir trotzdem zu. Bis ich irgendwann nichts mehr sagen konnte, und mir die ersten Tränen über die Wange liefen.Er wartete geduldig bis ich fertig war.
„Sorry.", schniefte ich irgendwann und blickte ihn, bestimmt total verheult, an. Er schüttelte den Kopf. „Nichts wofür du dich entschuldigen müsstest." Er seufzte tief. „Aber ich glaube ich muss mich bei dir entschuldigen." Seine Worte kamen völlig unerwartet. Ich starrte ihn verdattert an. „Was? Nein! Wofür denn?", stotterte ich. Noah grinste verlegen. „Ich hab immer gedacht solche reichen Kinder wie du hätten keine Probleme und wüssten nicht wie sich Menschen wie ich fühlen. Aber du hast mir gerade gezeigt, dass ihr auch Probleme habt, nur nicht dieselben wie wir. Also, es tut mir leid, dass ich dich für verwöhnt und hochnäsig gehalten hab."Ich starrte Noah einfach nur an, unfähig auf seine Worte zu reagieren. Nach einer Weile löste ich mich aus meiner Starre und tat etwas, was sowohl mich, als auch Noah überraschte: Ich zog ihn in eine Umarmung.
Noah war kurz wie versteinert, doch dann erwiderte er die Umarmung. Der Moment hielt aber nicht lange an und er löste sich aus meinem Klammergriff. „Okay genug, die Leute schauen bestimmt schon.", sagte er und richtete sich auf.Ich schaute mich jetzt erst um und stellte eines fest. „Sitze ich hier gerade auf dem Boden? Bäh, ist das eklig!", rief ich angewidert und sprang auf. Hektisch suchte ich nach irgendwelchen Dreckflecken auf meinem Pulli.
„Und da ist sie wieder, unsere verwöhnte Prinzessin.", schmunzelte Noah. Ich schaute ihn böse an. „Wer weiß, was alles schon auf diesem Boden lag. Glasscherben, Zigarettenstummel, vielleicht hat da sogar jemand hingespuckt." Ich schlug mir die Hand vor den Mund. „Vielleicht sogar jemand mit Krankheiten. Oh Gott, ich muss den Pulli sofort waschen. Nein, besser nicht, dann ist die Waschmaschine auch infiziert. Am besten ich schmeiß ihn weg." Noah konnte sich sein Lachen nicht mehr verkneifen. Laut und schallend tönte sein Lachen durch die Gegend. „Ganz ruhig.", er legte mir die Hand auf die Schulter. „So schlimm ist es hier nun auch nicht. Aber wenn du wirklich vorhast, das Ding wegzuschmeißen, dann gib ihn lieber mir. Ich kenne einige Leute die sich über einen solchen Pullover freuen würden."
Betreten blickte ich zu Boden. Ich musste mich wirklich wie eine Prinzessin benehmen.„Vielleicht wäre es besser ich bringe dich jetzt zum Bahnhof.", meinte er nach einer Weile des betretenen Schweigens. Ich nickte stumm. Was blieb mir auch anderes übrig? Die Kette hatte ich nicht gefunden, einen anderen Anhaltspunkt hatte ich nicht und Noah hatte bestimmt auch keine Lust sich weiter mit mir durch die Gegend zu schlagen.
Gedankenverloren folgte ich Noah, als er den Weg zum U-Bahnhof einschlug. Noah sagte nicht ein einziges Wort, genauso wie ich. Ich wusste nicht mal, ob ich mir wünschte, dass er etwas sagt. Hätte man mich heute früh noch gefragt, dann hätte ich bestimmt nein gesagt. Aber jetzt? Der Nachmittag war eigentlich ganz toll gewesen, bis auf das winzige Detail mit meiner Kette.
Ich hatte Noah heute von einer ganz anderen Seite kennengelernt. Und diese Seite gefiel mir, die gefiel mir sogar richtig gut. Gern hätte ich mit diesem Noah mehr Zeit verbracht. Nur leider war ich mir überhaupt nicht sicher, ob Noah das genauso sah.Noah blieb schließlich vor meinem Gleis stehen. Die Anzeigetafel über unseren Köpfen verriet, das meine Bahn in fünf Minuten kommen würde. Etwas unsicher blieb ich vor Noah stehen.
"Also, wir sehen uns dann morgen noch mal?", fragte ich etwas unsicher. Noah nickte. "Ich bringe dir das Geld lang und dann ist es vorbei." Wenn ich es so laut aussprach, klang es irgendwie komisch. Ich wollte nicht, dass es vorbei war. Einerseits weil ich die Kette noch nicht gefunden hatte, andererseits, weil ich gern noch ein wenig mehr Zeit mit Noah verbracht hätte.
Noah schien auch nicht so recht zu wiisen, was er tun sollte. "Komm morgen einfach bei mir lang. Kannst ja vorher schreiben, dass du los machst, oder so." Er hob den Arm, als wollte er mich umarmen, lies ihn dann aber wieder sinken. Er ging ein paar Schritte rückwärts. "Also dann bis morgen.", sagte er leise und ging. Kurz bevor er um eine Hausecke verschwand, drehte er sich noch einmal um. Ich stand seit er losgelaufen war wie versteinert an derselben Stelle und starrte ihm hinterher. Als er sich nach mir umdrehte, schoss mir die Röte ins Gesicht. Ruckartig wandte ich mich ab. Gott, war das peinlich...
Viel später erst, als ich bereits in der Bahn saß, konnte ich wirklich über unsere (zugegeben recht seltsame) Verabschiedung nachdenken. Noah hätte einfach so gehen können, wie er es die letzten Tage auch gemacht hatte, aber er hatte sich noch einmal umgedreht. Konnte das vielleicht etwas bedeuten? Hatte er auch eine Veränderung zwischen uns gespürt? Oder bildete ich mir das alles ein?
Wann hatte ich überhaupt angefangen mir solche Gedanken über Noah zu machen? Am Anfang der Woche war ich mir so sicher, dass ich ihn nicht leiden konnte und wollte das alles einfach nur so schnell wie möglich hinter mich bringen. Und nun? Jetzt wollte ich unbedingt mehr Zeit mit ihm verbringen. Himmel, war das alles Kompliziert!
Das erforderte unbedingt einen Anruf bei meiner besten Freundin und eine große Schüssel Eis, um den Kopf wieder klar zu bekommen.
DU LIEST GERADE
Aus dem abgedrehten Leben der Lissi Connor
HumorEs war einmal im Märchen, da verlor Cinderella nach einer berauschenden Ballnacht ihren Schuh. Mir ist letztens so ziemlich dasselbe passiert: Nach einer berauschenden Partynacht hab ich ein sehr wertvolles Schmuckstück verloren. Meine beste Freundi...