Kapitel 16

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Noch immer mit Noah im Kopf, stieg ich aus der Bahn aus. Der Bahnhof in meinem Viertel sah wesentlich besser aus, als der im Hafenviertel. Hier waren keine beschmutzten Wände, kaputte Bänke oder defekte Automaten. Alles sah ordentich und gepflegt aus.
Auch die Häuser in meiner Straße bildeten einen harten Kontrast zu den, die ich ihm Hafenviertel gesehen hatte. Noahs Worte spuckten mir im Kopf umher. Menschen wie du scheren sich nicht um Probleme von Menschen wie mir.
Vielleicht hatte er damit Recht gehabt. Die Menschen in meinem Viertel hatten keinerlei Interesse an dem Wohl der ärmeren Viertel. Hier zählte nur, wer den gepflegtesten Rasen und die teuersten Autos in der Einfahrt hatte.

Es war wirklich ein wenig deprimierend, aber vor der Woche mit Noah wäre mir all das niemals aufgefallen. Obwohl ich von mir selbst immer behauptet hatte, nicht so zu sein, wie all die reichen Schnösel.

Komplett in meine Gedanken versunken, lief ich die Straße entlang, sodass ich überhaupt nicht merkte, dass jemand auf mich zukam. Erst als sich eine Hand auf meine Schulter legte, wurde ich in die Realität zurückgerissen. Und das so ruckartig, dass ich eine Hand auf mein pochendes Herz legen musste, damit es in meiner Brust blieb.

"Gott verdammt!", gab ich entsetzt von mir. "Erschreck mich doch nicht so Henri." Mein Nachbar und Kindergartenfreund stand grinsend neben mir. "Sorry, aber du hast nicht reagiert, als ich dich gerufen habe.", sagte er achselzuckend. Mir schoss die Röte ins Gesicht. "Ja, ich war etwas in Gedanken., gab ich verlegen zurück. Henri lachte laut. "Ja, das habe ich gemerkt."

"Hey, kein Grund sich lustig zu machen.", beschwerte ich mich. "Warum hast du mich überhaupt gerufen?" Henri versuchte sein Lachen unter Kontrolle zu bringen, aber ein fettes Grinsen blieb auf seinem Gesicht. Er hielt mir einen Stapel Briefe hin. "Die wurden versehentlich bei uns in den Briefkasten geworfen. Eine Karte von deinem Vater ist auch dabei."

Ich nahm die Briefe entgegen und suchte die Karte aus dem Stapel. Es war eine einfache Postkarte. Sie zeigte eine Bergkette und davor ein riesiges luxuriöses Hotel. Auf der Rückseite stand in der Handschrift meines Vaters. Liebe Grüße von uns, bis Freitag. In Liebe Dad.

Ich schnaubte. Oh wow, wenn das nicht aufmerksam war. Die Karte hätte er sich ehrlich sparen können. "Ist immerhin nett gemeint.", grinste Henri ironisch. Ich nickte. "Oh ja, diesen Text zu verfassen, und die 50 Cent für die Karte zu zahlen war schon echt ne Leistung." Genervt beförderte ich die Karte wieder zurück in den Stapel.

"Sag mal...", begann Henri wieder zu sprechen. "Kann es sein, dass diese Woche nie zu Hause warst?" Fragend schaute ich zu ihm auf. "Wie kommst du denn darauf?" Henri zuckte mit den Schultern. "Naja, ich versuche seit zwei Tagen diese Briefe bei dir abzugeben. Aber jedes mal wenn ich bei euch geklingelt hab, hast du nicht aufgemacht." Er sah mich fragend an und ich versuchte abzuschätzen, ob es clever wäre ihm von meiner Woche zu erzählen. Doch dann kam ich zu dem Schluss, dass er es ja sowieso bald erfahren würde. Ich hatte versagt und die Kette nicht gefunden, Godzilla wird wahrscheinlich die ganze Nachbarschaft zusammen brüllen.

„Naja...", begann ich und erzählte ihm die ganze Geschichte. Bei Henri wusste ich, dass er mich nicht verurteilen würde, dass hatte er noch nie getan, egal welche Dummheit ich begannen hatte. Und es tat gut jemandem außer Talli davon zu erzählen.

Ich erzählte ihm von der Party, meiner Gedächtnislücke, der Suche nach Noah und dann der Suche mit Noah nach der Kette. Meine Begegnung mit dem Möchtegernmafiaboss Flex ließ ich allerdings aus. Ich weiß nicht, ob Henri darauf auch so locker reagiert hätte. Ich erzählte von der Androhung meiner Stiefmutter mich ins Internat zu stecken. Henri hörte mir still zu.

Gegen Ende der Erzählung kamen die ersten Tränen und ich konnte sie einfach nicht mehr zurück halten. „Ich will aber nicht weg, ich will nicht in dieses beschissene Internat!", heulte ich rum.

Henri legte einen Arm um mich. „Alles gut Lissi. Ich bin mir sicher dein Vater wird das nicht zulassen.", sprach er beruhigend auf mich ein. Ich schniefte und sah ihn verheult an. „Doch, Yvonne wird solange auf ihn einreden, bis er nachgibt, das war bis jetzt immer so." Ich hielt einen weiteren Schub Tränen zurück. „Sie wartet schon bestimmt ein Jahr, um mich endlich ins Internat stecken zu können."
Henri schaute mich grübelnd an. „Wow, und ich hatte immer gedacht, du machst Witze, wenn du sie Godzilla oder Stiefdrache nennst."

Ich schüttelte vehement meinen Kopf. „Darüber würde ich niemals Witze machen."
Henri schmunzelte leicht. „Du armes Ding tust mir echt leid.", sagte er und nahm mich nochmals in den Arm.

Wir standen eine ganze Weile so auf dem Bürgersteig, bis Henri sich aus der Umarmung löste. „Ich muss dann mal wieder rein, meine Mutter wundert sich bestimmt schon, wo ich bleibe." Er deutete vage auf das Haus hinter ihm und ich nickte. „Wir sehen uns.", murmelte er zum Abschied und trottete zum Haus.

Ich ging ein Haus weiter zu meiner Haustür und versuchte diese aufzuschließen, doch meine Hände zitterten zu sehr. Von meiner kleinen Heulattacke. Beim dritten Mal schaffte ich es endlich.

Seufzend schloss ich die Haustür auf. Der Tag war echt total für den Arsch gewesen. Ich hatte die Kette nicht gefunden, ich würde einer Zukunft im Internat entgegensehen und zu allem Überfluss sah ich jetzt auch noch verheult aus. Genervt pfefferte ich die Haustür wieder zu und schlurfte ins Wohnzimmer. Für einen weiteren Weg reichte meine Energie einfach nicht mehr. Ich ließ mich auf die Couch fallen, starrte die Decke an und blieb reglos liegen. Bis mein Handy mir verkündete ich hätte eine Nachricht bekommen.
Genervt kramte ich das Gerät aus meiner Tasche. Eine Nachricht von Talli.

Und??? Wie ist es gelaufen?

Ich machte mir nicht die Mühe ihr die ganzen Geschehnisse des Nachmittags zu schreiben, sondern drückte gleich den Anrufbutton. Es dauerte nicht lange und Talli ging ran.
„Lissi!", schallte es aufgeregt durch den Hörer. „Du musst mir alles erzählen, was ist passiert, wie war Noah und habt ihr die Kette." Ich holte tief Luft. „Das wichtigste zuerst, nein, wir haben die Kette nicht. Das heißt ich werde meine Tage jetzt auf einem Internat in der Schweiz fristen." Seufzend lies ich Luft wieder entweichen und wartete auf Tallis Reaktion.
„Scheiße.", kam es vom anderen Ende der Leitung.  Oh ja, das hatte sie gut gesagt...

Leute, mein Buch hat einfach beim Kreativweltenaward von ElizaHartBooks den zweiten Platz in der Kategorie Chicklit/Humor gemacht. Auch wenn das nicht das achte Weltwunder ist, freue ich mich riesig darüber 🎉

Aus dem abgedrehten Leben der Lissi ConnorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt