Michael gibt sich Preis und Hass

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Mittlerweile sind zwei Wochen vergangen und Michael und ich hören jeden Tag, wirklich jeden Tag um die gleiche Zeit, die Kelly Family Platte. Er sitzt dann neben mir, bewegt sich im Takt, aber nicht einmal kommt ein Ton über seine unsichtbaren Lippen. Mittlerweile gruselt es mich ein bisschen, immer seine Kapuze anzuschauen, wenn ich ihm etwas erzähle. Das einzige, was ich mal von seiner Haut sehe, sind die perfekten, grazilen Hände. Ich glaub es nicht, dass ein Junge so schlanke Finger haben kann. Immer mehr Neugierde braut sich in mir auf, wenn ich daran denke, wie dann wohl der ganze Kerl aussieht. So von der Figur her, gibt es nix zu meckern, nur ist er ein bisschen klein. Ich schätze ihn so auf 12 bis 13 Jahre. Er sieht bestimmt total heiß aus, aber warum zeigt er das nicht? Oder er wurde mal verstümmelt, bei einem Brand, oder... Haaaalt, stoppe ich mich selber beim gemeinsamen Abendessen und beiße lustlos in mein Käsebrötchen. Mir gegenüber sitzt Michael und schmiert sich Butter. Verstohlen schaue ich ihn immer wieder an, bis mich Frau Rudolf aus meinen Gedanken reißt. "Ruby, hab ich dir eigentlich schon gesagt, dass du Michael nicht anstarren sollst?" Ich zucke ertappt zusammen und bevor ich antworten kann, kräht ein kleiner Streber:"Ruby liebt diesen Versager doch! Wussten sie das nicht? " Mit einem wütendem Zischen springe ich auf und packe den Jungen am Hemd, während ich zische:"Halt die Fresse, Streber! " "Ruby! Lass Jacob im Ruhe und verlasse den Saal! ", kreischt Frau Rudolf, während alle, wirklich alle anfangen zu lachen. "Ja ja, aber ich warne dich Streber, ein falsches Wort gegenüber mir oder Michael und du siehst Sterne tanzen! ", fauche ich noch, bevor ich mit hocherhobenen Kopf den Essenssaal verlasse. Draußen fluche ich einmal kräftig um wenigstens ein bisschen mein Frust rauszulassen, als sich eine Hand auf meine Schulter legt.

Mit einem erschrockenen Quietschen fahre ich herum und atme dann erleichtert auf, als ich sehe, dass es nur Michael ist, der mir offensichtlich gefolgt ist. Er nimmt meine Hand und zieht mich eilig hinter sich her in mein Zimmer, wo er mich zum Bett zieht und mir bedeutet, mich hinzusetzen. Was hat er denn jetzt vor? Verwirrt lasse ich mich auf die Decke sinken und erstarre, als er sich an die Kapuze greift. Will er etwa? Doch er lässt die Hände sinken und hechtet zum Plattenspieler, den er auch gleich anmacht und "When the last tree" den Raum erfüllt. Dann sehe ich wie er tief durchatmet und sich wieder an die Kapuze greift. Als er sie mit Schwung nach hinten wirft, schlage ich mir entsetzt die Hände vor den Mund. Vor mir steht, ein bisschen verlegen: Paddy Kelly! Völlig erstarrt sitze ich da und starre mein Idol an. Ist er es wirklich? Da öffnet er den Mund und sagt leise:"Ja Ruby, ich bin echt, ich bin Paddy Kelly und Michael. " Bei seiner Stimme treten mir Tränen in die Augen und ehe ich überlegen kann, heule ich auch schon los. Mein Herz rast so schnell, mein Atem ist ein trockenes Schluchzen und ich verstehe gar nichts mehr. Warum ist er hier? Was macht Paddy Kelly, der berühmte Boy in einem Internat? Da höre ich hastige Schritte und dann umschließen mich zwei starke Arme. An Paddy's oder Michael's Brust weine ich und weiß nicht warum. Er streicht mir beruhigend über den Rücken und  erklärt mir dabei:"Wir jüngsten, also ich, Maite und Angelo sind vom Jugendamt weggeholt worden und verteilt in Deutschland, in Internate gekommen. Damit mich niemand erkennt, habe ich diese Pullis getragen. Aber warum weinst du jetzt? " Ich hebe den Kopf und sehe ihn durch einen Tränenschleier an. "Ich...ich weiß es nicht. ", bringe ich dann schniefend hervor und muss plötzlich über mich selber lachen.
Dann meldet sich mein Ego wieder, was mich aufspringen lässt und mich hastig zum Spiegel laufen und meine Schminke kontrollieren lässt. Verdammt, alles verlaufen! Paddy beobachtet mich bei meinen verzweifelten Versuchen, den Schaden zu beheben und fragt dann:"Hast du denn eigentlich nichts geahnt? " Ich zucke zusammen und mein Kajal strich wird schief. "Nein! Irgendwie hab ich das Gefühl gehabt, dich zu kennen, aber ich wusste von nichts!" Im Spiegel sehe ich, wie er nachdenklich nickt und ich frage:"Warum hat man euch von euren Geschwistern getrennt? Mit mir hätten die das nicht machen können! " Er lacht hell auf und mir wird fast schwindelig. Was macht der Paddy Kelly hier in meinem Zimmer? Doch schnell wird sein Blick wieder ernst als er antwortet: "Ja Ruby. Du bist stark." Ich unterbreche ihn und schreie fast: "Stark? Wenn hier einer stark ist, dann ja wohl du! Ich würde es nie schaffen, vor hunderten Leuten zu singen!" Wieder huscht ein lächeln über sein noch kindliches Gesicht, was aber auch schon markante Züge annimmt. Er steht auf und kommt langsam auf mich zu. "Nein Ruby. Ich bin nicht stark, mir macht die Arbeit auf der Bühne Spaß. Hier macht dir nichts Spaß, ne? Und trotzdem geht kein  Tag zuende, wo du nicht lächelst! Du bist stark! Mehr als du überhaupt merkst!" Ich starre ihn bei seinen ernsten Worten nur an und frage mich innerlich, was er noch alles über mich weiß, wa ich nicht merke. Er sieht mich lange an und ich halte das tiefe Blau in seinen Augen kaum aus. Endlich öffnet er den Mund und spricht weiter, hastig diesmal, als hätte er Angst, dass ihm die Stimme bricht:"Ruby, ich bin nicht stark. Als das Jugendamt aufgetaucht ist und mir und meinen kleinen Geschwistern befohlen hat zu packen, habe ich mich heulend im Schrank versteckt und gehofft, sie übersehen mich. Ich hatte so eine Angst, Maite und Angelo haben alles mitgemacht, aber ich wollte nicht weg. Als die Koffer im wagen waren, habe ich laut geheult und um mich geschlagen. Sie mussten mich mit Gewalt in das Auto zerren. Siehst du? Ich bin nicht stark, ich bin ein neutorischer Feigling. Ich will geborgen in meiner Family leben und beschützt werden. " Bei seinen letzten Worten schluckt er schwer und ich kann Tränen in seinen Augen schimmern sehen. Mir steht der Mund offen und ich versuche zu begreifen, was er da gerade gesagt hat. Ich habe Paddy immer als mein Vorbild gesehen. An ihn gedacht, wenn ich mal wieder kurz vorm heulen war. Ich hab immer gedacht: Nicht heulen, Paddy ist auch so tapfer und sieht immer das gute in allem! Sei wie er! Sei stark! Zeig bloß nicht deine schwache Seite!
Und das war alles nur Einbildung? Alles eine große Lüge? Das Bild von meinem lachenden Idol zerplatzt wie eine Seifenblase und die harte Realität trifft mich, wie ein Faustschlag. Paddy ist ein kleiner Feigling! Ein Muttersöhnchen! Oder eher ein Vatersöhnchen.

Fassungslos sehe ich Paddy an, der mich ebenfalls anschaut und plötzlich habe ich eine riesengroße Wut im Bauch. Mir schießen die Zorntränen in die Augen, als ich schreie:"Raus! Ich hasse dich! Raus! " Er schaut mich erst irritiert an, dann weiten sich seine Augen entsetzt. Er hebt die Hände, um sie mir an die Wangen zu legen, doch blind vor Wut schlage ich seine Hände weg und stoße ihn Richtung Tür, packe die Platte von ihm, zerbreche sie und werfe sie ihm in das angstvolle Gesicht. Die Enttäuschung ist größer als mein vor Schmerz schreiendes Herz und ich brülle:"Verschwinde! Du warst immer mein Anker! Mein Fels in der Brandung und jetzt stellt sich heraus, dass du nur eine Heulsuse bist! Ich hasse dich! " Ich nehme eins meiner Bilder von ihm und werfe es mit aller Kraft nach ihm. Er geht erschrocken rückwärts und das Bild kracht klirrend gegen die Wand. Er sieht mich an und fleht:"Ruby, come on. Beruhige dich! Bitte, ich wusste ja nicht..." Wieder knallt ein Bild gefährlich nahe neben ihm an die Wand und er flüchtet sich vor dem Splitter Regen aus der Tür. Mit einem letzten Wutschrei knalle ich die Tür zu und sehe mich dann hasserfüllt um. Ich nehme alles was irgendwie mich an ihn erinnert hat und zerreiße, zerbreche es und schleudere es gegen die Tür. Dann werfe ich mich schluchzend auf mein Bett, vergrabe mein Gesicht im Kissen und schreie vor Schmerz, Enttäuschung und Wut. Nach einer geschlagenen Stunde, habe ich keine Stimme und keine Tränen mehr und setze mich langsam auf, als es an der Tür klopft. Es erklingt vorsichtig die Stimme von Frau Rudolf. "Ruby? " Schon wieder kocht der Zorn in mir hoch und blindlings schnappe ich die Vase und werfe sie gegen die Tür. Dann krächze ich:"Hau ab! "Langsam höre ich, wie sich Schritte entfernen und lasse mich auf den Rücken fallen, was mir einen Wutschrei entreißt. Ich springe auf, reiße das Poster von einem strahlenden Paddy herunter und zerreiße es in viele kleine Fetzen. Mein Idol, was mir immer Mut gemacht hat, ist eine Heulsuse! Ein Feigling! Ein Nichtskönner! Dann merke ich, dass ich todmüde bin und lasse mich wieder auf den Rücken fallen, wo ich auch gleich einschlafe, aber von Paddy's entsetzten Augen träume.

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