Alles fing damit an, dass ich mit meinen Eltern in eine neue Stadt zog. Nun, eigentlich war es ein Dorf. Ein kleines, heruntergekommenes, nebliges Dorf mit drei Straßen und fünf Häusern. Okay, vielleicht nicht ganz so klein. Auf jeden Fall unbedeutend genug, um sich nicht einmal die Mühe zu machen, die hölzerne Ortstafel zu erneuern, welche nur noch an einem Seil baumelte und vor Schimmel nahezu unlesbar war.
Ich saß im Rücksitz des Autos, als wir daran vorbeifuhren, und kniff die Augen zusammen. Was stand da? Hollow? Halloween? Hogwarts?
„Harrowville wird dir gefallen, mein Schatz", hörte ich die fröhliche Stimme meiner Mutter vom Beifahrersitz.
Ich schnaubte und zog mir die Kapuze meines Pullovers weiter über das Gesicht.
„Endlich sind wir einmal weg von dem Stress und der Hektik der Großstadt, nicht wahr?"
Mein Vater gab zur Antwort ein Brummen von sich, das alles hätte bedeuten können. Fast so, als ob es nicht seine Schuld wäre, dass wir hierherziehen würden. Er hatte einen neuen Job als Polizeihauptmann angenommen, angeblich, um seine Karriere auf längere Sicht voranzubringen. Absoluter Schwachsinn, wenn ihr mich fragt. In einem Kaff wie diesem gab es pro Jahr vielleicht drei Ladendiebstähle. Und eventuell ein paar Axtmörder, die sich im Wald herumtrieben.
Um mir meine Stimmung nicht weiter damit zu versauen, dass ich aus dem Fenster starrte, wandte ich mich meinem Handy zu. Keine neuen Nachrichten. Ich seufzte. Nicht einmal Empfang gab es hier! Also begnügte ich mich damit, durch meine Galerie zu gehen und alte Bilder anzusehen.
Mein Vater rumpelte über irgendetwas. Ich hob den Kopf. Mein Blick fiel auf die ungepflasterte, löchrige Straße und ich schnaubte erneut. Auf der rechten Seite standen die ersten Häuser.
Schön waren sie nicht anzusehen. Ich entdeckte kein einziges, dessen Wandfarbe nicht irgendetwas zwischen dunkelgrau und einem staubigen Weiß war, und an den meisten bröckelte der Putz bereits ab. Dafür hatte jedes Haus einen Garten.
Nach fünf weiteren Fahrminuten blieb mein Vater stehen. Meine Mutter klatschte in die Hände. „So, da sind wir!" Sie öffnete ihre Fahrertür und stieg aus, während ich tiefer in meinem Sitz versank. Am liebsten hätte ich zu heulen begonnen. Von allen Häusern, die ich bisher gesehen hatte, war das hier mit Abstand das hässlichste: Die Fensterläden waren teils heruntergebrochen, teils gar nicht erst vorhanden, und die Holztür sah so alt aus, dass ich mir sicher war, ich würde mir einen Spahn einziehen, wenn ich sie nur berührte. Der Garten passte gut dazu: Er war vollkommen verwildert. Nur in einem Eck wuchs eine Eiche, deren Äste bis zu den Fenstern des Hauses reichten.
„Na los, Lina, worauf wartest du noch?" Meine Mutter riss die Autotür auf und lächelte mich an. Entweder war ihr nicht bewusst, in welcher Laune ich mich befand, oder sie ignorierte es.
Mit einem Ächzen löste ich mit aus dem Sitz und verbrachte erst einmal eine Minute damit, mich ausgiebig zu strecken. Fünf Stunden Autofahrt waren mir eindeutig zu lange.
„Komm doch und hilf auspacken!", rief meine Mutter. „Dein Zimmer ist das zweite von links, wenn du die Treppe hinaufgehst." Mit einer schwungvollen Bewegung drückte sie mir eine Kiste in die Arme, unter deren Last ich beinahe zusammengebrochen wäre.
Innerlich fluchend trat ich in das Haus. Der Flur führte geradeaus zu einem Treppenaufgang, während rechts von mir ein großer Wohn- und Kochbereich lag. Mein innerliches Gefluche verstummte.
Hier drinnen sah es irgendwie ... gemütlich aus - zumindest nicht so schlimm wie draußen. Im Wohnbereich standen ein großes Sofa und ein dazu passender Fernseher, und die Küche sah aus, als wäre sie gerade erst renoviert worden.
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Die Bewohner von Harrowville (Band 1: Spinnen) | Wattys 2022 Shortlist
WerwolfAls Lina mit ihren Eltern nach Harrowville zieht, erwartet sie dort nicht mehr als ein langweiliges Dorfleben. Denkt sie zumindest. Womit sie nicht rechnet, ist, dass es im Dorf von Werwölfen und Vampiren nur so wimmelt. Und während sie sich mit w...