Ich war mir nicht ganz sicher, wann das Gespräch von konstruktiv zu chaotisch gekippt war. Ein paar Minuten lang hatten Jake und Jared tatsächlich normal miteinander diskutiert – jetzt warfen sie sich wieder eine Dummheit nach der anderen an den Kopf.
Ich stöhnte und vergrub das Gesicht in meinen Händen. Wenn das so weiterging, war der Tag vorbei, bevor wir zu einer Lösung gekommen waren. Aber okay, sollten die beiden ruhig streiten.
„Alles klar, das reicht", schnaubte Jared und stand so ruckartig auf, dass der Sessel hinter ihm umfiel. „Mir ist scheißegal, was du von meiner Idee hältst, ich werde losgehen und nach dem Typen suchen, und zwar alleine."
„Zu zweit", besserte Jake ihn aus. „Ich lass dich doch nicht alleine in den Wald laufen."
„Zu dritt", fügte ich hinzu. Wenn die beiden unbedingt losziehen wollten, würde ich mitkommen. Vielleicht fand ich ja so heraus, was Arac überhaupt für ein Problem mit mir hatte.
„Maude wird auch mitkommen, denke ich", sagte Jake. Er blickte um sich. „Wo steckt sie eigentlich?"
„Ist sie nicht oben bei Mel?", fragte ich.
Jared schüttelte den Kopf. „Jetzt, wo du es sagst: Ihr Geruch ist nicht mehr ganz frisch. Sie muss wohl gegangen sein." Verständlich – bei der Streiterei hätte ich vielleicht auch einfach gehen sollen.
Jake stieß einen Fluch aus.
Irgendetwas klickte in mir. „Warte", murmelte ich. „Sie ist doch nicht alleine-" Ich verstummte. „Oh, verdammt", murmelte ich. Blitzschnell sprang ich auf und holte einen Rucksack. Innerhalb weniger Minuten hatte ich alles, was ich brauchte: etwas zu trinken, eine Jacke, falls es später kälter werden würde, sowie ein Messer, für den Fall, dass es zu einem Kampf kam. Ach ja, und Tampons, denn die Regel kommt immer dann, wenn man sie am wenigsten braucht.
Ich trat zu Jake und Jared nach draußen, welche bereits ungeduldig warteten. „Also, in welche Richtung müssen wir?", fragte ich. Jared schnupperte, und sah dabei so lustig aus, dass ich fast gelacht hätte. Was in Anbetracht der Lage wohl etwas unangebracht wäre.
„Hier entlang", sagte er und steuerte den Wald an. Meine letzte Hoffnung, dass Maude einfach nach Hause gegangen war, weil sie keine Lust mehr auf uns gehabt hatte, verblasste.
Also gut, zurück in den Wald. Irgendwie kam mir das alles sehr bekannt vor – nur war diesmal zumindest Tag und ich konnte rundum die Vögel zwitschern hören.
Sonderlich einladend wirkte der Wald heute trotzdem nicht: Das meiste Laub war bereits zu Boden gefallen und hatte sich von orangenen und roten Farbtönen in einen braunen Matsch verwandelt. Um mich herum ragten kahle Baumkronen in die Luft. Wenigstens roch es gut, auch wenn die kühle Luft schon fast in meiner Nase brannte. Nicht mehr lange, dann würde hoffentlich der erste Schnee kommen.
Darauf freute ich mich schon. In der Stadt hatte es vielleicht einmal in Jahr eine dünne Puderschicht gegeben, doch hier standen die Chancen auf einen verschneiten Winter gut. Ob es wohl weiße Weihnachten geben würde? Ich hoffte es. Zumindest einmal in meinem Leben wollte ich draußen Schnee haben, während ich drinnen Weihnachtskekse futterte und Geschenke auspackte. Aber in Anbetracht des Klimawandels und der zunehmenden Umweltverschmutzung konnte ich wohl eher eine dicke Schicht Staub und Abgase erwarten.
Na ja, auch egal – jetzt gerade hatte ich ein anderes Problem: nämlich mit Jake und Jared mitzuhalten. Ich wusste nicht, wer von ihnen als Erstes losgelaufen war, aber anscheinend hatten beide dabei vergessen, dass ich keine übernatürlichen Kräfte hatte. Keuchend rannte ich ihnen nach, doch egal, wie sehr ich mich beeilte, der Abstand schien immer größer zu werden.
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Die Bewohner von Harrowville (Band 1: Spinnen) | Wattys 2022 Shortlist
WerewolfAls Lina mit ihren Eltern nach Harrowville zieht, erwartet sie dort nicht mehr als ein langweiliges Dorfleben. Denkt sie zumindest. Womit sie nicht rechnet, ist, dass es im Dorf von Werwölfen und Vampiren nur so wimmelt. Und während sie sich mit w...