Kapitel 39

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Ich hatte gerade noch genug Zeit, um ein paar Meter nach hinten zu springen, bevor dort, wo ich gerade noch gestanden war, ein fetter Felsbrocken zu Boden krachte. Eine Sekunde später und er hätte mich erschlagen.

Um mich herum wurden Schreie laut. Ein Teil der Werwölfe drängte zurück in Richtung Ausgang, sodass der Weg dorthin verstopft war. An eine der noch stehenden Höhlensäulen gepresst starrte ich die Felsen an, die vor mir herabstürzten. In der ganzen Höhle wurden Dreck und Gestein aufgewirbelt.

Ich kniff die Augen zusammen. Durch die Staubwolke hindurch fielen die ersten Sonnenstrahlen in die Höhle.

Nach ein paar Sekunden war alles vorbei. Der Boden bebte nicht mehr und langsam begann sich der Staub zu legen. Ich blickte nach oben. In der Decke befand sich ein etwa fünf Meter breites Loch.

Erst jetzt fiel mir auf, dass es in der Höhle außergewöhnlich still geworden war. Ein leises, überraschtes Murmeln erhob sich.

Ich entdeckte eine Frau neben mir, welche zuerst ihre Hände musterte und dann vorsichtig ihr Gesicht berührte. Sie hob den Kopf und starrte mich aus großen, blauen Augen an.

Sie war in dieselben Lumpen gekleidet wie die Spinnenmenschen.

„Was soll das?", hörte ich eine Stimme fauchen. Zwischen ein paar Felsen kletterte ein Mädchen hervor. „Kämpft gefälligst weiter!"

Ich brauchte einen Moment, bis ich erkannte, wer die wütende Zwölfjährige sein sollte. „Fany", murmelte ich.

Als sie ihren Namen hörte, richtete sich ihr Blick auf mich. Die schwarzen Spinnenaugen waren verschwunden, doch ihre braunen Knopfaugen wirkten genauso böse. Allerdings bei weitem nicht mehr so furchteinflößend.

„Du..." Fany kam in meine Richtung gestampft. Ehe sie mich erreichte, waren da auf einmal Mel und Maude, welche jeweils einen ihrer Arme packte.

„Du hast schon für genug Ärger gesorgt, also still jetzt", schnaubte Maude. Fany fauchte und tobte, doch die beiden ließen nicht los.

„Jake und Jared sind wohlauf", sagte Mel, bevor ich die Frage stellen konnte. Ich nickte.

„Und du halt jetzt verdammt nochmal den Mund", fauchte Maude, als Fany erneut zu toben begann.

Ich ignorierte sie und streckte den Hals. Tatsächlich, dort hinten saßen Jake und Jared. Aber wo war Spidey? War sie nicht bei ihnen gewesen?

Ehe ich zu ihnen gehen und sie fragen konnte, schoss mir ein anderer Gedanke durch den Kopf. „Arac", stieß ich hervor. Er war genau unter den herabstürzenden Trümmern gewesen.

Ich setzte mich stolpernd in Bewegung und lief über den losen Steinboden.

„Arac?", rief ich, so laut ich konnte. „Arac, wo bist du?"

Keuchend blieb ich stehen und blickte um mich.

„Hier", hörte ich eine leise Stimme.

Ich drehte mich um. Dort, neben einem großen Felsbrocken, lag Arac am Boden. Ich eilte zu ihm und kniete nieder. Ohne lange nachzudenken presste ich meine Hände auf die stark blutende Wunde in seiner Bauchgegend.

„Hey, Lina", keuchte Arac. Seine Stimme klang schwach, aber als ich ihn ansah, lag auf seinen Zügen ein leichtes Lächeln.

Blau. Er hatte strahlend blaue Augen, mit denen er nun in den wolkenlosen Himmel blickte. Über der Höhle zwitscherten bereits wieder die ersten Vögel.

„Durchhalten", befahl ich. Doch so sehr ich meine Hände auch auf die Wunde presste – Arac blutete immer stärker.

„Schon okay", keuchte er. „Du hast mich bereits gerettet."

Die Bewohner von Harrowville (Band 1: Spinnen) | Wattys 2022 ShortlistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt