Kapitel 34

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 „Ein Problem? Was für ein Problem?", fragte ich.

Während Maude mich auf die Beine zerrte, trat nun auch Mel in den Raum. „Meine Eltern wollen mit dem Rest des Rudels die Spinnenmenschen angreifen", sagte sie. Ihre grünen Augen waren todernst.

Ich rieb mir den letzten Schlaf aus den Augen und sprang auf.

Jared, welcher noch im Halbschlaf gewesen war, erhob sich ruckartig. „Sind die beiden jetzt übergeschnappt?", fragte er mit fassungsloser Miene. „Sie haben doch deine Verletzungen gesehen, oder?"

Mel schüttelte den Kopf. „Fragt mich nicht. Zieht euch etwas an, wir müssen los – sie sind schon längst unterwegs."

Ich eilte zu meinem Kleiderschrank und griff wahllos nach meinen Sportsachen. Ein kurzer Blick über die Schulter verriet mir, dass auch Jake und Jared gerade in frische Klamotten schlüpften – keine Ahnung, wo sie die schon wieder herhatten. Wahrscheinlich aus dem Kleiderschrank meines Bruders geklaut.

Blitzschnell zog ich mich um. Meine Unterwäsche ließ ich an – wenigstens hatte ich vor dem Schlafengehen noch geduscht.

Erst, als ich fertig angezogen war, fiel mir auf, dass ich angestarrt wurde. Ich drehte mich ruckartig um. Schnell wandten Jake und Jared die Blicke ab, doch bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, packte Maude bereits mein Handgelenk und zog mich mit sich. Zu fünft eilten wir nach unten.

„Lina?", hörte ich meine Mutter rufen. Oh, anscheinend waren meine Eltern mal daheim, anstelle auf irgendwelchen geheimen Missionen. „Wohin geht ihr?"

„Erklär ich später!", rief ich zurück und eilte aus dem Haus, ehe ich meine Schuhe vollständig angezogen hatte. Einmal stieg ich auf meine eigenen Schnürsenkel und wäre beinahe hingefallen. Mit einem Fluchen stoppte ich ab, um meine Schuhe zuzubinden, während Maude die Garagentür aufriss.

„Hey, ihr beiden!", rief sie Spidey und Websie zu. „Ich hoffe, ihr seid für einen Kampf bereit!"

Mit zugebundenen Schnürsenkeln richtete ich mich auf. Verdammt, jetzt hatte ich auf einen Haargummi vergessen!

„Hier." Ich blickte zu Mel, welche mir einen entgegenhielt, der wahrscheinlich doppelt so fett war wie meine Haare selbst. „Sorry, das ist alles, was ich habe."

Ich zögerte. „Brauchst du den nicht selbst?"

Mel schüttelte den Kopf. „In Wolfsgestalt? Eher nicht." Die Luft um sie herum begann zu flimmern und kurz darauf stand eine silberne Wölfin mit strahlend grünen Augen vor mir.

„Bist du dir sicher, dass du mit uns mithalten kannst?", fragte Jared, welcher auf einmal neben mir stand. Auf seinen Zügen lag ernsthafte Sorge.

Websie gab ein Klicken von sich und trat näher zu mir. Die Riesenspinne ging leicht in die Knie.

„Seht ihr mal lieber zu, dass ihr mit uns mithalten könnt", erwiderte ich. Ich kletterte auf Websies Rücken und hielt mich fest, so gut es ging.

Ein kurzes Grinsen huschte über Jareds Züge. „Mal sehen", sagte er und verwandelte sich. Für einen Moment waren seine goldenen Augen noch auf mich gerichtet.

Wie auf Kommando setzte sich die gesamte Gruppe in Bewegung. Spidey übernahm die Führung, knapp gefolgt von den beiden Werwölfen. Websie, Jake, Maude und ich folgten kurz danach. Ich wagte es kaum, die Augen offenzuhalten, aus Angst, ich könnte gleich einen Zweig ins Gesicht bekommen. Doch selbst bei dem Tempo, das wir an den Tag legten, gelang es Websie irgendwie, mich vor sämtlichen Ästen zu bewahren.

Ich kniff die Augen zusammen. Der Wald rauschte in einer Mischung aus roten Blättern und Nebel an uns vorbei. Am Himmel befanden sich nur wenige Wolken, die im ersten Licht der Morgenröte bunt leuchteten. Ich klammerte mich etwas fester an Websie. Hoffentlich schafften wir es zu den Höhlen, bevor es vollkommen hell wurde! Nicht, dass meine beiden Spinnen noch unter dem Sonnenlicht leiden mussten...

Abrupt wurden die beiden Werwölfe langsamer. Websie bremste so plötzlich ab, dass ich beinahe kopfüber von ihr gestürzt wäre. Ein leises Knurren kam aus Mels Kehle, dann flimmerte es um sie herum. Jared und sie verwandelten sich zurück in Menschengestalt.

„Ich kann sie riechen", sagte Mel leise. „Den Rest des Rudels. Der Wind steht gut für uns. Sie scheinen noch nicht bei den Höhlen angekommen zu sein."

„Es gibt mehrere Eingänge", sagte ich. „Spidey und Websie dürften sie kennen. Wir sollten uns von der anderen Seite nähern und dafür sorgen, dass alle, die nicht kämpfen können, sofort evakuiert werden."

„Wusste nicht, dass wir plötzlich auf der Seite der Spinnen stehen", sagte Maude mit hochgezogenen Augenbrauen. Ihre Augen glühten rötlich.

„Es geht darum, einen Kampf zu vermeiden, bis wir eine bessere Lösung gefunden haben", erwiderte ich mit einem Schnauben. Zu meiner Überraschung widersprach mir niemand. „Spidey, kannst du uns nach drinnen führen?", fragte ich.

„Mach einen großen Bogen um die Werwölfe", warf Mel ein. „Sobald sich der Wind dreht, entdeckten sie uns, wenn wir in der Nähe bleiben."

Spidey gab ein Klicken von sich und setzte sich erneut in Bewegung. Ich klammerte mich an Websie fest, als diese ebenfalls lossprintete, als gäbe es kein Morgen mehr. Jetzt waren die beiden Spinnen sogar schneller als die Werwölfe.

Erst nach ein paar Minuten hielten sie an. Etwas wackelig glitt ich von Websies Rücken und wäre fast umgekippt. Im Vergleich dazu war jede Achterbahn ein Kinderspiel!

Spidey schob einen Felsbrocken beiseite und öffnete einen Höhleneingang.

„Sieht ja einladend aus", sagte Maude mit einem Blick in das dunkle Loch.

„Na dann los", murmelte ich und setzte den ersten Schritt nach drinnen. Neben mir ging ein Licht an. Ich blickte über die Schulter und sah Jake, welcher knapp hinter mir ging und eine Taschenlampe in den Händen hielt. „Ich dachte schon, dass wir die brauchen könnten", sagte er und trat noch etwas näher zu mir.

Mit einem leicht mulmigen Gefühl ging ich weiter. Es dauerte nicht allzu lange, bis an den Wänden die ersten leuchtenden Steine auftauchten.

Jake schaltete seine Taschenlampe aus. „So etwas habe ich noch nie gesehen", hauchte er. „Was ist das?"

„Keine Ahnung, wahrscheinlich irgendeine chemische Reaktion oder so", antwortete ich leise. Ich kam mir fast komisch dabei vor, zu sprechen, wo wir gerade direkt in das Nest unserer Feinde spazierten. Falls es denn wirklich unsere Feinde waren. Von Arac hatte ich nichts mehr gehört – ob er es überhaupt hierher zurückgeschafft hatte? Ich schüttelte den Kopf und ging weiter. Jeder einzelne Schritt hallte im Gestein wider.

Nach einer Weile machte der Gang eine Biegung und ich landete in einem großen Saal. Im ersten Moment erkannte ich ihn fast nicht wieder – das hier war der Schlafsaal, durch den Spidey und Websie mich nach draußen gebracht hatten! Mit dem Unterschied, dass er jetzt vollkommen leer war.

„Wo sind alle?", fragte Mel. Sie klang genauso angespannt, wie ich mich fühlte. Hilflos zuckte ich mit den Schultern. Waren wir zu spät? Hatten die Werwölfe schon angegriffen?

Websie gab ein Klicken von sich und setzte sich erneut in Bewegung. Sie schlug einen der fünf Gänge ein, die von dem Saal wegführten – noch eine Kleinigkeit, die mir nicht aufgefallen war. Ohne die beiden Spinnen hätte ich es hier nie hinausgeschafft!

Ich folgte Websie und die anderen taten es mir gleich. Gerne hätte ich gesagt, dass der Weg mir bekannt vorkam, aber hier sah nach wie vor alles gleich aus: überall nur graues Gestein und dunkle Erde.

Dann landeten wir in einem Gang, an den ich mich noch genau erinnerte. Was daran lag, dass sich auf einer Seite Zellen in der Wand befanden. Langsam ging ich weiter und schauderte, als ich daran dachte, dass ich fast auf unbestimmte Zeit hier festgesessen wäre.

Auf einmal blieb Websie stehen und drehte sich zur Seite.

„Was ist los?", fragte ich leise und trat näher. Das musste die Zelle gewesen sein, in die Arac mich gesperrt hatte. Mit dem Unterschied, dass sie auch diesmal nicht leer war.

„Lina", sagte Arac mit großen, schwarzen Augen. „Was machst du denn hier?" 

Die Bewohner von Harrowville (Band 1: Spinnen) | Wattys 2022 ShortlistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt