Jared
Selbstverständlich hörte Jared Jakes Rufe, aber das half ihm nicht weiter. Die Gegner, die er vor sich hatte, waren so schon kaum zu bewältigen. Sobald er sich auch nur für eine Sekunde umdrehte, würden sie sich von hinten auf ihn stürzen und ihn in Stücke reißen.
Aus den Augenwinkeln sah er gerade noch, wie sich ein riesiger Typ näherte. Dann war er plötzlich weg. Jared atmete auf und konzentrierte sich auf seine Gegner. Er brauchte nicht allzu lange, um sie vorerst in die Flucht zu schlagen – vor allem, da Mel auf einmal wieder an seiner Seite war. Ihr graues Fell war teils flächendeckend rot gefärbt.
Für eine Weile kehrte Ruhe ein und Jared atmete einmal tief durch, ehe er sich zurückverwandelte. Wenn er zu lange in seiner Wolfsform blieb, kostete ihn das zu viel Energie. Mel tat es ihm gleich. Jared wandte sich in ihre Richtung, um etwas zu sagen, doch die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Ein paar Meter entfernt lag Jake am Boden und rührte sich nicht mehr. Spidey hockte bereits an seiner Seite und gab ein aufgeregtes Klicken von sich.
Jareds Herz sank. Er rannte zu Jake und ging vor ihm in die Knie. „Hey, Jake, hörst du mich?" Vorsichtig schüttelte er ihn. Und entdeckte dabei die Bisswunden an seinem Arm.
„Scheiße", stieß Mel hervor, welche nun ebenfalls bei ihm angelangt war.
Jared tastete nach Jakes Puls. Er war kaum noch vorhanden. „Verdammt, was machen wir jetzt?", keuchte er und fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung durch die Haare.
Mel presste die Lippen aufeinander. „Nichts", murmelte sie und ihre Schultern sanken herab. „Jake wird diese Verletzungen nicht überleben."
„Nein." Jared schüttelte den Kopf. Jake war verletzt worden, weil er ihm den Rücken gedeckt hatte. Es musste doch irgendetwas geben, um ihm helfen zu können!
„Wir müssen weiter", sagte Mel. Ihre Stimme klang belegt. „Lina ist immer noch alleine."
Jared schluckte schwer. „Es ... Es gibt eine Möglichkeit ihn zu retten", murmelte er.
„Wovon redest du?" Mel starrte ihn mit gerunzelter Stirn an, dann weiteten sich ihre Augen. „Jared, nein", sagte sie. „Das kannst du nicht tun. Ist dir überhaupt klar, was es bedeutet, eine Partnerschaft mit jemandem einzugehen?"
„Jake würde meine Heilkräfte mit mir teilen", erwiderte Jared. Seine Hände zitterten leicht. Je länger er wartete, desto niedriger wurden Jakes Überlebenschancen.
„Oder du könntest sterben!", fuhr Mel ihn an. „Wenn du das tust, könnte er dich mit in den Tod reißen! Und selbst, wenn nicht – ihr wärt euer Leben lang verbunden! Eine Partnerschaft ist unlösbar, das weißt du!"
„Na endlich, da seid ihr ja alle, ich-"
Jared blickte zur Seite und entdeckte Maude, welche in ihre Richtung gelaufen kam. Ein paar Schritte vor ihnen verlangsamte sie und kurz blieb sie vollkommen stehen. Ihre Augen weiteten sich.
„Nein", flüsterte sie, dann rannte sie zu Jake und fiel neben ihm auf die Knie. „Jake?" Ihre Stimme zitterte, als sie den Namen ihres Bruders aussprach. Jared hatte sie noch nie mit einem so verzweifelten Ausdruck auf ihren Zügen gesehen. Ihre Stimme bebte, ihre Unterlippe zitterte.
„Jake!" Es war der Ton in Maudes Stimme, die ersten Tränen auf ihrem Gesicht, die Jared endgültig überzeugten.
„Ich werde es tun", sagte er, den Blick auf Mel gerichtet. In ihrer Miene spiegelte sich ein Zögern wider, doch als ihr Blick zu Maude wanderte, welche laut schluchzte, wusste Jared, dass sie nichts mehr erwidern würde.
„Okay", murmelte Jared sich selbst zu, um sich zu beruhigen. Er packte Jakes Hand und hob sie zu seinen Lippen. Dann biss er zu.
Seine Zähne gruben sich tief in Jakes Handgelenk und für eine Sekunde verzog er das Gesicht, als der Geschmack von Blut in seinen Mund gelangte. Zuerst geschah nichts und kurz fragte er sich, ob er etwas falsch gemacht hatte.
Ein brennender Schmerz schoss durch seinen Arm und Jared schrie auf. Er ließ von Jake ab, packte seinen Arm mit der anderen Hand und krümmte sich.
„Was zum- alles okay?", hörte er Mel rufen.
Er schüttelte bloß den Kopf. Sein Blick landete auf Jakes Arm. Die Bisswunden darauf begannen langsam kleiner zu werden.
„Es ... Es hat funktioniert." Maudes Augen weiteten sich. „Sieh mal!"
Dort, wo Jared seine Zähne in Jakes Handgelenk versenkt hatte, formte sich ein kleines, schwarzes Zeichen. Er blickte zu seinem eigenen Handgelenk. Auch hier färbte sich die Haut.
Langsam ließ der Schmerz in Jareds Arm nach. Er war immer noch da, aber er hatte sich in ein dumpfes Pochen im Hintergrund verwandelt.
Jake gab ein leises Stöhnen von sich und beinahe hätte Jared gelacht.
Worauf er nicht gefasst war, war die Welle an Gefühlen und Gedanken, die auf einmal über ihn hereinbrach, als Jake blinzelnd die Augen öffnete.
„W-Was ist passiert?", murmelte Jake. Ruckartig riss er die Augen weit auf. Sein Blick landete auf Jared. „Ach du heilige..."
„...Scheiße", hallte es in Jareds Kopf wider. Gefolgt von zehn weiteren Gedanken, die allesamt so wirr waren, dass Jared weder wusste, wo sie begannen, noch, wo sie endeten.
„Kannst du nicht etwas leiser denken?", stöhnte er. Reflexartig versuchte er, sich die Ohren zuzuhalten, aber das war ungefähr so hilfreich wie der Versuch, einen Waldbrand mit einem Glas Orangensaft zu löschen.
Jake setzte sich auf. Er wirkte noch immer angeschlagen, doch wenn er noch Schmerzen hatte, merkte Jared das unter dem Ansturm an anderen Gefühlen gar nicht mehr. Eine Mischung aus Verwirrung, Dankbarkeit und etwas, das Entsetzen ähnlich kam, stürzte auf ihn nieder.
„Du wirst dich bald daran gewöhnt haben", sagte Mel und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
Jared schluckte schwer. „Wir sollten nach Lina suchen", sprach er den Gedanken aus, der Jake gerade durch den Kopf schoss.
Jake kniff die Augen zusammen. „Hör gefälligst auf, meine Gedanken zu lesen, du..." Weiter kam er nicht, denn ein lauter Schrei hallte durch die Höhle.
Jared zuckte zusammen.
Das war Lina.
Ein Beben fuhr durch die Höhle, und ehe Jared auch nur aufstehen konnte, brach etwas weiter vorne ein Teil der Höhlendecke ein.
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Die Bewohner von Harrowville (Band 1: Spinnen) | Wattys 2022 Shortlist
Manusia SerigalaAls Lina mit ihren Eltern nach Harrowville zieht, erwartet sie dort nicht mehr als ein langweiliges Dorfleben. Denkt sie zumindest. Womit sie nicht rechnet, ist, dass es im Dorf von Werwölfen und Vampiren nur so wimmelt. Und während sie sich mit w...