Kapitel 19

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Ich blinzelte und richtete mich langsam auf. War ich gerade wirklich umgekippt? Unter meinen Füßen war noch immer Laub, doch der Himmel hatte sich verdunkelt. Nur der strahlende Vollmond schien zu mir herab.

„Jake? Jared?", fragte ich vorsichtig. Keine Antwort.

Ein kalter Wind ließ die Blätter rascheln. Meine Nackenhaare stellten sich auf und ich wirbelte herum. Ob Arac zurück war?

Vor mir stand eine Frau. Ihre Augen glühten in der Dunkelheit und ich konnte nicht ganz einschätzen, ob sie jung oder alt war. Irgendwie erschien sie mir vertraut, doch je länger ich sie betrachtete, desto eher verspürte ich das Bedürfnis, wegzulaufen.

Sie trat einen Schritt in meine Richtung und ihre Züge verzerrten sich. „Verflucht seid ihr!", fauchte sie und streckte beide Arme in meine Richtung aus. Um sie herum knisterte es. „Verflucht seid ihr für das, was ihr meinen Schwestern angetan habt!"

„Ich, äh, habe nichts getan", erwiderte ich. Wovon sprach sie?

Die Frau ignorierte mich – keine Ahnung, ob sie überhaupt gemerkt hatte, dass ich etwas gesagt hatte. Jetzt schloss sie die Augen und hob beide Arme gen Himmel. Sie begann zu rezitieren und ihre Stimme nahm einen dunklen Klang an.

„Im Namen meiner Schwestern Leid,
verfluch ich euch zur Dunkelheit;
Kriechen sollt ihr wie die Spinnen,
in der Finsternis verschwinden,
gebannt von mir auf Ewigkeit."

„Äh ... was?", fragte ich etwas perplex.

Die Frau öffnete ihre Augen, welche keine Pupillen mehr hatten. Da waren nur noch zwei leuchtende Öffnungen. Sie trat einen Schritt näher.

„Es gibt nur einen Weg, den Fluch zu lösen", sagte sie und lachte leise.

„Und das wäre?" Ich hatte zwar keine Ahnung, wer die Verrückte vor mir war, aber na ja, man konnte ja nie wissen. Es gab Werwölfe und Vampire, wieso also nicht auch Flüche?

Die Frau beugte sich in meine Richtung. „Lina", sagte sie. Und dann erneut: „Lina."

Ich hob eine Augenbraue. „Das ist mein Name, und weiter?"

„Lina?"

Ich runzelte die Stirn und blinzelte mehrmals.

„Hey, sie wacht auf!", rief Maude. Sofort sprangen zwei weitere Leute auf und lehnten sich über mich. Jake und Jared.

Ich kniff die Augen zusammen. Wieso war das Licht hier so grell? Ich seufzte und blickte zu meinem Arm. Die Bisswunde war unter einem Verband verschwunden. Zumindest tat nichts mehr weh.

Schließlich erkannte ich, wo ich war. Ich lag in einem Bett mitten im Krankenhaus.

„Hey", sagte Jared mit einem Lächeln. „Alles okay bei dir? Du bist im Wald einfach umgekippt."

„Also haben wir dich ins Krankenhaus gebracht", fuhr Jake fort. „Du hast den ganzen Nachmittag und die Nacht durchgeschlafen. Es ist sieben Uhr in der Früh."

Meine Augenbrauen schossen in die Höhe und ich setzte mich ruckartig auf. „So lange? Wissen meine Eltern davon?"

Alle drei nickten. „Über Nacht sind sie nach Hause gefahren, aber sie werden bestimmt bald kommen. Keine Sorge, wir haben ihnen einfach gesagt, du wurdest von einem wilden Hund angefallen", sagte Jake. Er runzelte die Stirn. „Wie geht es dir überhaupt?"

„Ganz gut, denke ich." Ich schwang die Beine vom Bettrand und ließ sie baumeln. „Ein bisschen hungrig vielleicht."

„Und deine Wunde tut nicht mehr weh?", fragte Jared. „Mel klagt weiterhin über Schmerzen, auch wenn ihre Verletzungen gut heilen – sie liegt übrigens im Nebenzimmer. Wir haben sie zur Sicherheit doch noch ins Krankenhaus gebracht. Ach ja, und sie ist ziemlich sauer auf uns."

Die Bewohner von Harrowville (Band 1: Spinnen) | Wattys 2022 ShortlistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt