Kapitel 4

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„Jetzt werde ich dich vernichten!", fauchte Maude. Wir beide standen inmitten eines großen Schulhofes, umgeben von unzähligen Schülern, welche sich miteinander unterhielten und lachten, als wäre ich nicht da. Natürlich konnte auch keiner von ihnen hören, wie ich um Hilfe rief. Maudes Zähne wurden immer länger, dann verwandelte sie sich in Mrs. Greywoods.

„Du sollst leiden!", knurrte sie und warf mit einem Mathebuch nach mir.

„Nein! Nicht Mathematik!" Ich wollte weglaufen, doch aus dem Buch schossen kleine Hände und hielten mich fest. Dann verwandelte sich das Buch in eine ekelhafte, dicke Spinne, welche zur Hälfte aus Matheformeln bestand und Maudes rote Augen besaß. Ich versuchte, sie zu zertreten – zwecklos. Sie krabbelte mein Bein hinauf, bis zu meinem Gesicht, und holte mit ihren bösen Beißzangen aus.

Keuchend riss ich die Augen auf. Und blickte in zwei Augenpaare, die auf mich herabstarrten. Ich stieß einen Schrei aus und schlug nach den Gesichtern, doch ich war zu langsam.

„Whoa, schon okay, wir sind es nur", sagte Jake und hob beide Hände. Jared trat ebenfalls näher.

Ich hielt inne. Ach ja, ich hatte die beiden Idioten ja in meinem Haus übernachten lassen. „W-Was macht ihr in meinem Zimmer?", fragte ich.

„Du hast geschrien, also dachten wir, es wäre etwas passiert", antwortete Jared mit gerunzelter Stirn.

„Wirklich? Ach so, nein, mir geht es gut, ich..." Ich blickte zur Zimmerdecke. Erneut stieß ich einen Schrei aus. An der Decke, direkt über meinem Kopfkissen, hing eine dicke, fette Spinne. Nichts wie weg! Eigentlich wollte ich aus dem Bett springen, fiel aber stattdessen mitsamt Decke auf den Boden daneben.

„Verdammtes Scheißvieh!", entkam es mir.

„Soll ich sie töten?", fragte Jake, den Blick fest auf die Spinne gerichtet. Kurz schimmerten seine Augen rötlich.

„Was? Nein!" Ich richtete mich auf, lief nach unten, holte ein Glas und ein Stück Karton, und kehrte ins Zimmer zurück. Immer noch fluchend fing ich die Spinne ein, öffnete das Fenster, und warf sie hinaus.

„So, das wäre erledigt", murmelte ich und drehte mich zurück zu Jake und Jared. Beide starrten mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Was? Sagt nicht, ihr bringt Spinnen um. Die sind nützlich!"

Nach ein paar Sekunden der Stille wurde mir klar, dass sie mich nicht deswegen anstarrten. Sondern vielmehr deshalb, weil ich außer einer Unterhose und einem lockeren Shirt nichts anhatte. Oh.

Jake war der Erste, der den Anstand besaß, sich abzuwenden. Jared folgte einen Augenblick später.

Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht schoss. „Was?", schnaubte ich. „Noch nie Beine gesehen? Und jetzt raus aus meinem Zimmer!"

Die beiden waren schneller weg, als ich blinzeln konnte.

Ich warf einen Blick nach draußen. Es war bereits hell. Schade, eigentlich hatte ich gehofft, mich noch einmal in mein Bett zu legen und eine Runde zu schlafen.

Gähnend kramte ich frische Kleidung aus meinem Schrank und verschwand im Badezimmer. Ich nahm eine lange, lange Dusche und stellte mir vor, das heiße Wasser würde all meine Gedanken einfach wegwaschen. Heute Morgen hatte ich noch immer keine Nachricht von einem meiner alten Freunde bekommen. Hatten mich alle vergessen? Ich wünschte, diese Vorstellung würde nicht so wehtun, wie sie es tat. Aber vielleicht war es wirklich nur der schlechte Empfang. In ein paar Tagen würden wir hoffentlich WLAN haben und ich musste mir darum keine Gedanken mehr machen.

Als ich frisch geduscht und angezogen aus dem Bad trat, strömte mir der Geruch nach warmen Semmeln und Orangensaft entgegen. Ich schnupperte. Eigentlich frühstückte ich nicht, aber ... hm, vielleicht konnte ich heute eine Ausnahme machen.

Die Bewohner von Harrowville (Band 1: Spinnen) | Wattys 2022 ShortlistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt