Kapitel 6

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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wusste ich zuerst nicht, wo ich überhaupt war. Ach ja, ich war ja auf dem Sofa eingepennt. Irgendwie fiel es mir schwer, mich zu bewegen – was wohl daran lag, dass Jake und Jared halb über mir lagen. Etwas ungelenk befreite ich mich aus dem Fleischberg und streckte mich, bis meine Knochen knackten.

Mein Blick fiel auf Maude, welche quer über dem Sessel und halb am Boden lag. Ihr Mund war im Schlaf leicht offen und ich musste mich bemühen, ein Grinsen zu verkneifen. Am liebsten hätte ich mein Handy geholt und ein Foto von ihr gemacht, und sei es nur, um sie in Zukunft damit zu ärgern. Für eine bösartige Vampirin sah sie gerade ziemlich niedlich aus. Und vor allem lustig.

„Aufwachen!", rief ich laut und lachte, als Maude erschrocken vom Sessel fiel. Hektisch blickte sie um sich, dann entdeckte sie mich. Ihre Augen glühten kurz auf.

„Noch ein Wort und dein Herz steckt aufgespießt auf meiner Gabel."

Mittlerweile streckte sich auch Jared, sodass er nun quer über Jake lag, was aber keiner von den beiden bemerkte.

„Hey Jungs, auf mit euch!", sagte ich und sah belustigt zu, wie Jared die Augen öffnete. Kurz starrte er mich noch verschlafen an. Als er merkte, dass er auf Jake lag, wich er so heftig zurück, dass er ebenfalls zu Boden fiel.

Nun blinzelte Jake. Er warf einen kurzen Blick auf die Wanduhr, murmelte etwas Unverständliches und rollte sich wieder auf dem Sofa zusammen.

„Das kannst du vergessen", sagte Maude. „Der steht so schnell nicht auf, wenn er lange wach war."

Aber Hauptsache die Leute behaupteten, Vampire müssten nicht schlafen.

Ich wollte gerade nach oben gehen, um zu duschen, als es an der Tür klingelte. Ich runzelte die Stirn. Meine Eltern konnten es nicht sein – die hatten ihren eigenen Schlüssel – aber wer sollte sonst um diese Uhrzeit bei uns anläuten? Wer weiß, vielleicht gab es hier im Dorf ja noch einen Milchmann oder so. Am wahrscheinlichsten war es wohl Mel, die sichergehen wollte, dass wir Jared nicht doch über Nacht umgebracht hatten. Oder aber eine weitere blutüberströmte Gestalt, die entweder meine Hilfe brauchte, oder mich in Stücke hacken wollte. Na ja, selbst wenn: Im Wohnzimmer warteten immer noch zwei Vampire und ein Werwolf, also musste ich mir um meine Sicherheit nicht allzu viele Gedanken machen.

Ich sperrte auf und öffnete die Tür. Der Anblick ließ mich erstarren. Was zum Teufel?

Vor mir stand ein großgewachsener Typ mit braunen Haaren und einem freundlichen Funkeln in den Augen. Er hob die Hand zum Gruß. „Yo, Lina, was geht?"

Jetzt hatte ich meine Sprache wiedergefunden. „Alex? Was machst du denn hier?" Mein überraschter Ausdruck verwandelte sich in ein Grinsen und ich drückte ihn so fest, dass er fast keine Luft mehr bekam.

Als ich ihn losließ, bemerkte ich, dass wir nicht mehr alleine waren. Im Vorraum standen Jake und Jared und beobachteten uns mit misstrauischen Blicken. Anscheinend hatte Jake es doch noch geschafft, aufzustehen.

„Komm rein", sagte ich und trat zur Seite, um Alex hineinzulassen. Er musterte die beiden. Dann wieder mich. Er grinste.

„Also wenn unsere Eltern wüssten, was du so in ihrer Abwesenheit machst, wären die nicht sehr erfreut."

Ich rollte mit den Augen. „Darf ich vorstellen? Das ist mein großer Bruder Alex. Und das hier sind Jake und Jared." Sobald das Wort Bruder fiel, wich der misstrauische Ausdruck aus den Zügen der beiden.

„Ähm ... freut mich", sagte Jake und hielt ihm eine Hand entgegen, welche Alex kurz schüttelte, ehe er sich zu mir drehte.

„Unsere Eltern schicken mich, damit ich auf dich aufpasse. Sie werden wohl noch ein bisschen länger brauchen."

Die Bewohner von Harrowville (Band 1: Spinnen) | Wattys 2022 ShortlistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt