Blinde Wut

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Viele furchtbare Tage, der Sorge, der Angst und Hoffnung, Stunden zwischen Wut und Vorwürfe, zwischen Weinen und Nicht-mehr-Weinen-können, quälten Jay. Es waren Tage, die kein Mensch ertragen sollte. Die Normalität existierte für ihn nicht mehr. Das Leben zerbrach in zwei Teile: die eigene Einsamkeit, Angst, Wut und Verzweiflung - und das ganz normale Leben auf der Straße, das davon nichts wusste und nichts wissen wollte. Die Welt erschien als Puzzle, in dem die entscheidenden Teile verloren gegangen sind. Nichts passte mehr zusammen.

Eigentlich wollte Jay im Starbucks einen Kaffee kaufen, doch die Titelseite der Zeitung hielt ihn davon ab.

7-jähriger Junge seit 4 Wochen vermisst. Polizei bittet um Mithilfe.
Ethan H. (7) aus Chicago kam nach der Schule nicht nach Hause. Seitdem fehlt jede Spur nach dem 2.Klässler. Zuletzt gesehen wurde er am Freitag, den 30.April gegen 15 Uhr an der John-Adams-Elementary-School. Er trug eine schwarze Jeans und eine dunkelgrüne Sweatjacke. Geben sie ihre Hinweise bitte an die Chicagoer Polizei weiter!

Neben den Text war ein Bild des blondhaarigen Jungen abgedruckt. Es war das Bild, welches sie seit 4 Wochen bei der Suchaktion vergebens verwendeten.

“Sir? Hallo? Wollen sie was kaufen?” fragte der Verkäufer, doch gedanklich war Jay woanders.

“Wo bist du, Ethan?” flüsterte er kaum hörbar.

“Fahrrad fahren ist doof! Das Teil funktioniert nicht!” schimpfte Ethan und trat beleidigt gegen das Fahrrad.

“Hey. Das Rad kann dafür auch nichts. Du musst dein Gleichgewicht halten.” erklärte Jay und hielt ihm das Rad erneut hin, “Komm. Wir probieren es noch einmal gemeinsam.”

“Das macht kein Spaß. Ich fall nur runter. Mein Knie tut schon weh.” beschwerte sich Ethan und zeigte auf das Pflaster, welches die Schürfwunde ab deckte.

“Man gibt nie auf, buddy. Ich weiß, dass du das kannst.” ermutigte Jay seinen Sohn, der widerwillig nach gab und erneut sich auf das Fahrrad setzte.

“Du lässt nicht los.” forderte er und Jay nickte. Ethan trat in die Pedale und Jay joggte langsam neben ihm her bis er letztlich doch gehen ließ und Ethan selbständig fuhr. Vielleicht noch ein bisschen wacklig, aber ohne Hilfe.

“Super!” lobte Jay und Ethan stellte schockiert fest, dass sein Dad gehen gelassen hat und bremste sofort.

“Warum hörst du denn auf?” fragte Jay verwundert nach.

“Du sollst nicht los lassen.” antwortete Ethan.

“Warum denn nicht? Du kannst es doch und morgen machen wir beide eine Radtour… komm wieder her, aber gefahren.” sagte Jay. Ethan stieg wieder auf das Fahrrad und fuhr zu ihm zurück.

“Und was habe ich gesagt?” fragte Jay freudestrahlend.

“Man gibt nicht auf.” grinste Ethan und gab seinen Dad einen High Five.

“Schrecklich was mit dem Jungen passiert ist, aber naja… täglich verschwinden Kinder. Auf eins mehr oder weniger kommt es auch nicht drauf an. Manche Eltern meinen halt unbedingt eine große Suchaktion drauß machen zu müssen anstatt zu akzeptieren, dass das Kind tot ist. Wahrscheinlich sind sie sogar selbst an daran schuld.” meinte der Verkäufer und Jay sah ihn fassungslos an.

“Haben sie Kinder?” fragte Jay erschüttert von seiner Aussage.

“Nein, ist auch besser so. Kinder machen nur Ärger… was wollen sie kaufen?”

SpurlosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt