Kapitel 1

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Ich saß völlig müde in der Vorlesung und konnte mich nicht mehr konzentrieren. Wen kümmerte denn, aus was das Carbamoylphosphat entsteht oder zu was Argininosuccinat zerfällt? Ich meine, als ob mich irgendein Patient später auf der Straße fragen würde, ob ich ihm bitte den Harnstoffzyklus erklären kann. Die Profs dachten mal wieder nicht nach.
Ich seufzte leise und unterdrückte mein Gähnen. Und dann das Ganze noch auf Englisch ohne meine Freunde in Deutschland. Ich wusste immer noch nicht, was genau ich davon erwartet hatte, nach Slowenien zu gehen. Klar, ich wollte alles hinter mir lassen, was mich an Deutschland und meine Familie erinnerte, aber dass dadurch auf einmal alles besser wurde, konnte ich auch nicht erwarten.

Entspannter war das Mediziner-Leben dadurch nicht geworden, stellte ich mal wieder fest. So hatte ich neben dem normalen Uni-Stoff auch noch Sprachkurs um Slowenisch zu lernen, was mir allerdings super viel Spaß brachte. Diese Stunden waren meistens mein Lichtblick im Chaos zwischen klinischer Biochemie, Mikrobiologie und Pharmakologie. Ich war nun im 6. Semester Humanmedizin und nachdem ich mein Physikum (1. Staatsexamen) noch in Deutschland gemacht hatte, war ich danach an die Universität Ljubljana gewechselt. Zu meinem Glück gab es hier die Möglichkeit, Medizin auch auf Englisch zu studieren, sonst wäre ich aufgeschmissen.
Wenn Slowenen untereinander oder mit mir zu schnell redeten, verstand ich nur noch Bahnhof.

„Sie da vorne, ja Sie, die gerade am einschlafen sind", sagte der Professor auf einmal und zeigte auf mich. Ein leises Lachen ging durch die Reihen.

„Erklären Sie uns bitte mal, was mit der Harnstoffsynthese passiert, wenn der Patient eine Alkalose hat?"

Ich atmete tief durch. Auch wenn ich die letzten 10 Minuten gar nichts mitbekommen hatte, wusste ich die Antwort.

„Wenn jemand eine Alkalose hat, steigt der pH-Wert und der Patient hat zu wenig H+-Ionen im Körper. Deshalb sollte möglichst viel Bicarbonat aus dem Körper ausgeschieden werden, damit die wenigen H+-Ionen nicht auch noch abgepuffert werden. Da durch die Harnstoffsynthese Bicarbonat verbraucht wird, steigt diese an", spulte ich mein Wissen runter.

Ganz zufrieden mit meiner Ausführung guckte ich dem Professor in die Augen. Da ich ganz hinten in der letzten Reihe saß, bekam er das vermutlich nicht mit, aber das war mir egal. „Das ist korrekt", antwortete er und sah fast etwas traurig aus, weil er mich nicht mit einer schlechten Antwort rangekriegt hatte.

20 Minuten später war es endlich vorbei. Ich schleifte meine Sachen aus dem Hörsaal und ging lustlos durch den Flur des alterwürdigen Gebäudes, das mit seiner alten Backsteinfassade jede deutsche Uni neidisch gemacht hätte. Es passte hervorragend zu dieser Stadt, die ich trotz der kurzen Zeit hier schon über alles liebte.
Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass es mal eine Zeit gab, in der ich abends nicht durch die kleinen Gassen zu meinem winzigen Zimmer unterm Dach im vierten Stock wandelte. Ohne Fahrstuhl wohlgemerkt. Ich dankte nach jedem Mal einkaufen, wenn ich endlich oben war.
Aber dadurch blieb ich vielleicht fit, denn viel Sport war neben meinem Mammutprogramm zwischen Uni und Sprachkurs nicht mehr wirklich drin. Es war erst die dritte Woche im Semester, aber ich war schon total fertig. Und der verregnete September machte dies auch nicht besser.

Da fiel mir ein Aushang auf Slowenisch auf, der am schwarzen Brett hing. „Medizinstudent gesucht: Betreuung der Skispringer mit Einblicken in die Sportmedizin". Ich war wie elektrisiert und ging näher ran, um es mir durchzulesen. Unter der Überschrift stand ein Text:

„Für den Stützpunkt der Skispringer in Slowenien suchen wir, das Slowenische Ärzteteam, dringend einen engagierten Studenten, der sich für Sportmedizin interessiert. Dabei ist Voraussetzung, dass er eigeschrieben und mindestens im 5. Semester ist. Aufgabenbereich sind die Assistenz von regelmäßigen Leistungskontrollen und Routineuntersuchungen sowie Einblicke in Bildgebungsverfahren, Sportmedizin, Orthopädie und Physiotherapie. Englische Sprachkenntnisse zwingend erforderlich, Slowenisch erwünscht. Für nähere Informationen nehmen Sie bitte Kontakt mit Dr. Kovačević auf."
Am unteren Rand des Aushangs waren kleine Zettel mit den Kontaktdaten zum Abreißen. Ohne lange zu überlegen riß ich einen ab und machte außerdem noch ein Foto mit meinem iPhone vom Text.

Dann ging ich in den lauen Herbstabend hinaus. Es war tatsächlich noch nicht kalt, aber es regnete schon wieder, deshalb zog ich die Kapuze meines gelben Anoraks über meine braunen schulterlangen Haare.
Sportmedizin. Das Angebot hörte sich so super an, dass ich es kaum realisierte. Schon vor meinem Studium war ich fasziniert von der Vorstellung, ein Team medizinisch zu betreuen und dabei um die ganze Welt zu reisen. Denn kaum ein Arzt hatte so eine intensive und langfristige Beziehung zu seinen Patienten wie ein Sportarzt. In den Kliniken in Deutschland, in denen ich schon gearbeitet hatte, hatte der Durchschnittsarzt pro Patientengespräch höchstens 10 min im Schnitt einplant. Der Durchlauf war so hoch, dass Ärzte, gezwungener Maßen, oft nicht mal die Namen der Patienten wussten. Und das wollte ich einfach nicht. Es entsprach nicht meinen Vorstellungen. Ich wollte mich nicht 6 Jahre durch das Studium quälen, um dann bei der Massenabfertigung der Kliniken mitzumachen.

Je länger ich durch den Regen stapfte und darüber nachdachte, desto begeisterter wurde ich. Wobei ich von Skispringen nicht wirklich viel verstand. Ich hatte zwar schon mitbekommen, dass es in Slowenien sehr bekannt war und fast alle das verfolgten, weil die Sportler für das kleine Land sehr gut sprangen. Aber da die Saison erst in 3 Monaten anfing, hatte ich selber noch nichts von der Euphorie mitbekommen. Klar, als Kind hatte ich ab und zu mit meinem Vater, als der noch einigermaßen normal war, das Neujahrsspringen geschaut. Aber das war es auch schon. „Naja, die werden schon nicht von dir verlangen, dass du die ganzen Springer kennst", versuchte ich mich zu beruhigen. „Schließlich sollst du ja nur ein bisschen attestieren. Also wahrscheinlich Messwerte aufschreiben und in Computer in die Datenbank eingeben. Vielleicht mal Blutdruck messen als Highlight."

Der Regen rann mir in den Nacken, als ich die Kapuze absetzte und meine Jacke auszog. Toll, jetzt waren meine Haare doch nass. Und mein Mascara war wahrscheinlich so verlaufen, dass ich wie ein vollkommener Grufti aussah. Na egal, interessiert hier ja eh keinen wie ich aussah. Deshalb ging ich in mein kleines Zimmer und zog mir erstmal eine Jogginghose an.
Immer wenn ich Heimweh hatte oder meine Freunde in Deutschland vermisste, setzte ich mich an meinen Schreibtisch, machte mein großes Dachfenster auf und schaute über die Dächer Ljubljanas. Unten auf der Straße sah man ganz kleine Menschen laufen und die Autos, die man erahnte, sahen wie süße Käfer aus. Hinten in der Ferne sah man auf der Bahnstrecke die Züge fahren. Mit ihnen kamen Menschen wie ich. Voller Sehnsucht in ein fremdes Land, um vor ihrer Vergangenheit zu fliehen. Um das Abenteuer zu erleben. Um neue Freunde zu finden oder sich zu verlieben. Ich liebte es, mir Geschichten zu diesen Menschen auszudenken. Ich stellte mir vor, wie eine Familie hier ihr neues Glück suchte. Wie ein gestresster Büromensch kam, um in den Bergen eine Käserei aufzumachen. Oder Freundinnen, die nur einen günstigen Städtetrip machten, um dann hier zu bleiben und nie wieder nach Hause gingen. Ob ich wohl einer von ihnen war? Ich wusste es nicht.

Voller Engagement ging ich in meine kleine Küche, die eher wie aus einem Puppenhaus aussah. Mit aller Mühe hatte ich in der Mitte einen kleinen Tisch rein gequetscht. Aber mir genügte die Küche mit ihrer winzigen Holzbank, den hohen Schränken und dem kleinen Ofen, in dem man wunderbar Brot backen konnte. Auch wenn ich das schon ewig nicht mehr gemacht hatte, weil ich einfach zu wenig Zeit hatte.
Das Teewasser kochte und ich setzte mich mit meinem Laptop auf den Knien an den Tisch und fing an, eine Email an Dr. Kovačević zu tippen. Ich wusste, wenn ich es nicht gleich heute Abend erledigte, würde ich es wieder hinausschieben, bis es zu spät wäre, weil morgen irgendwas dazwischen käme.
Dummerweise hatte ich intuitiv auf Deutsch angefangen zu schrieben. Was natürlich Quatsch war. Ich löschte es und fing auf Englisch an. Hielt wieder inne. Da stand doch: Slowenisch erwünscht. Wozu saß ich dreimal die Woche in diesem kalten Raum und versuchte verzweifelt das R so zu rollen, wie es dir Slowenen taten? Es schien, als wäre meine Zunge oder mein Mund geschaffen dazu, wie ein Vollidiot zu klingen. Aber ich bemühte mich. Also wieder alles löschen und wieder anfangen. Natürlich dauerte es jetzt länger, mir zu überlegen, wie ich es auf Slowenisch sagen sollte, dass ich Medizin im englischen Program studierte, mein Physikum aber in Deutschland gemacht hatte. Und dass ich ich gerne für eine Vorstellungsgespräch vorbeikommen würde.

„Was heißt denn Vorstellungsgespräch auf Slowenisch?"

Ich googelte: „Intervju".

Ach doch so einfach. Ich musste lachen. Ich liebte diese Unbekümmertheit und den Mut zur Einfachheit der Menschen hier. In Deutschland waren alle immer und ständig gestresst und ich hatte das Gefühl, als würde alles viel komplizierter gemacht werden, als nötig.
Nach einiger Zeit hatte ich es endlich geschafft, die Email in einer hoffentlich verständlichen Sprache zu beenden und schrieb noch meine Handynummer dazu, damit mich der Dr. erreichen konnte. Mittlerweile rechnete ich zwar stark mit einer Absage, denn wenn ich ehrlich war, hatte ich nicht wirklich die Qualifikationen für den Job. Aber versuchen konnte ich es ja. Ich klappte mein Laptop zu und fiel ins Bett. Todmüde und geschafft schlief ich sofort ein. In meinem kleinen Dachzimmer mit den schrägen Wänden über den Dächern meiner neuen Heimat.


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