Kapitel 18

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„Alles klar?", schaute Peter mich an, während er meine kalte Hand nahm und wir die Auffahrt entlang in Richtung Haustür gingen. „Du musst nicht aufgeregt sein", versuchte Peter mich zu beruhigen. Ich war aber aufgeregt - ich merkte selber, wie ich auf meiner Unterlippe rum kaute. „Domen und Cene kennst du schließlich schon und meine Eltern reißen dir nicht den Kopf ab."

Ich blickte ihn leicht zweifelnd an, sagte aber nichts. Peter wäre mit Sicherheit auch nicht so entspannt gewesen, wären es meine Eltern gewesen. Und vor allem, hätte er dann noch meine Kleider angehabt. Kurz musste ich grinsen, während ich mir das Szenario vorstellte.

Peter blieb stehen: „Warte mal kurz, Lolla." Vorsichtig legte er seine große Hand unter mein Kinn und hob meinen Kopf an, sodass ich ihm in die Augen sehen musste. „Selbst würden sie dich nicht mögen, wäre mir das total egal, okay? Schließlich zählt nicht ihre Meinung, sondern meine", erklärte Peter mir.

Nachdem ich zaghaft genickt hatte und ein leichtes Lächeln auf meinen Lippen erschien, gab er mir einen kurzen Kuss und nahm wieder meine Hand.

„Dann komm, bringen wir es hinter uns!", scherzte er und ich musste lachen.

Als wir weiter die Auffahrt entlanggingen, schaute ich zum Küchenfenster und sah einen braunhaarigen Kopf schnell verschwinden. Kopfschüttelnd grinste ich. Das war mit Sicherheit Domen gewesen, der Peters Auto gehört hatte. Wie auf Kommando wurde schwungvoll die Tür aufgerissen und Domen stand in der Haustür.

„Sie sind da", rief er ins Haus - sehr dezent und zurückhaltend, typisch Domen. Aber ich konnte es ihm nicht verübeln, denn er hatte ein breites Grinsen auf dem Gesicht und schien sich zu freuen, dass wir kamen. Als wir da waren, riss er mich fast um. „Na Lieblings-Mathenachhilfe", begrüßte er mich und ich entspannte mich sofort.

„Hey, lass mich ganz", wand ich ein und erwiderte seine Umarmung.

„Willst du meine Mathe-Arbeit sehen? Ich habe sie noch zu Hause", war Domen ganz aus dem Häuschen.

Ich musste lachen, aber das zeigte wieder mal, wie sehr man Leute für etwas begeistern konnte, wenn sie Erfolg hatten. „Nur, wenn ich dein Zimmer sehen darf", stellte ich die Bedingung auf, auch wenn ich mir sein Chaos vorstellen konnte.

„Glaub mir, das willst du nicht sehen, Lolla", lachte Peter und wir traten in den Hausflur, zogen Jacken und Schuhe aus, als uns zwei kleine Mädchen entgegen kamen. Die Eine etwas größer als die Andere.

„Hallo Peter", sagte die Kleinere - ich schätzte sie so auf 6 oder 7 Jahre - und streckte ihre kurzen Arme zu ihrem großen Bruder hoch.

„Hallo Ema", begrüßte Peter seine Schwester und nahm sie hoch auf den Arm. „Oha, du wirst auch nicht leichter Kleine, weißt du das?", fragte er Ema, sie kicherte und haute ihm mit ihren Fäusten auf die Schultern, was er nichtmal zu bemerken schien.

Gott, war Peter süß mit seinen Schwestern. Ich musste mich zusammenreißen.

„Schau mal, wen ich mitgebracht habe", sagte er zu Ema und drehte sich zur Seite mit ihr. „Das ist Lolla. Sie hilft unserem Doktor beim Springen, weißt du?"

Sie nickte und schaute mich mit großen Augen an. Ich sah, dass sie noch richtige Kinderpausbäckchen hatte. Vermutlich ging sie seit dem Sommer in die erste Klasse. „Hallo Ema", sagte ich und nahm ihr kleine ausgestreckte Hand. „Ich habe immer kalte Hände, also erschreck dich nicht."

Dann beugte ich mich runter zu Nika. Sie war schon bedeutend größer als ihre kleine Schwester, vielleicht so neun oder zehn.

„Bist du Ärztin?", fragte sie mich gleich drauflos. „Domen hat gesagt, dass du Thomas hilfst?", überlegte sie laut und ich war überrascht, wie gut sie informiert war.

„Nika springt auch schon", erklärte mir Peter von oben. „Und sie ist richtig gut, besser als manche Jungs in ihrem Alter."

„Das ist ja toll, das wusste ich gar nicht", sagte ich. „Im Moment lerne ich noch bei Thomas, aber in drei Jahren bin ich endlich Ärztin. Man muss vorher nämlich 6 Jahre lang studieren".

Während ich Nika das erklärte, sah sie mir aufmerksam zu. Sie hatte lockigere Haare als Peter und auch etwas mehr rötliche als braune Haare, machte aber einen sehr aufgeweckten Eindruck.

„Ist Mum in der Küche?", fragte Peter Nika und setzte Ema wieder auf dem Boden ab.

„Ist sie, aber Dad ist noch draußen Holz hacken", informierte uns Domen anstelle von Nika, der gerade die Treppe wieder runter gelaufen kam.

„Okay, dann sagen wir mal Mum Hallo", entschied Peter und nahm meine Hand. Dankbar blickte ich ihn an, denn ich fand es sehr schön, zu spüren, dass er auch in dem Haus seiner Eltern „offiziell" zu mir stand.
Ich wusste zwar nicht, als was er mich bei seinen Eltern angekündigt hatte - schließlich waren wir nicht richtig zusammen -, aber zumindest Domen schien nicht geschockt von uns zu sein. Der verhielt sich ganz normal.

Obwohl, er und Cene waren ja auf dem Parkplatz dabei gewesen. Die waren quasi vorinformiert.

„Hey Mum", sagte Peter als wir in die Küche kamen, die mir wenigstens vertraut war, da ich hier ja einmal mit Domen Mathe gelernt hatte. Ich sah eine schlanke, relativ große Frau mit rotbraunen Haaren - daher die Haarfarbe der Mädchen - in der Küche stehen.

„Hallo Großer", drehte sie sich mit einem Lächeln um. Sie hatte eine sanfte, aber gleichzeitig energisch klingende Stimme. „Wen hast du uns denn da mitgebracht?", fragte sie und schaute mich an. „Nein, keine Angst Lolla, nur Spaß. Peter hat uns schon über dich informiert", lachte sie ein herzliches Lachen und gab mir die Hand.

Ich erwiderte ihre Begrüßung: „Da bin ich aber froh. Ganz kurz habe ich gezweifelt, ob er es nicht vergessen hat und alle total geschockt sind, wenn ein ungeladener Gast auftaucht", lachte ich und sah Peter verschmitzt an.

„Ach, das traust du mir zu?", tat er gespielt empört, musste aber ebenfalls lachen und gab mir einen zarten Kuss auf die Lippen. Vor den Augen seiner Mutter. Natürlich wurde ich sofort rot, was Peter belustigte und er seinen Arm um mich legte. „Sie wird gerne rot, Mum. Keinen Grund zur Sorge", sagte Peter an seine Mutter gerichtet.

Ich stieß ihm meinen Ellbogen in die Seite: „Hey, ich wollte einen guten Eindruck machen, Peter. Dankeschön", beschwerte ich mich.

Seine Mutter sah mit schief gelegtem Kopf und einem breiten Lachen zu, wie wir uns kabbelten.

„Sie ist eigentlich zu hübsch für dich, Peter", befand sie, was mich natürlich noch röter werden ließ.

Peter aber gab seiner Mutter begeistert die Hand und gratulierte ihr: „Genial, du hast das Spiel verstanden. Übrigens, sehr freundlich von dir. Ich bin dein Sohn."

„Danke für die Erinnerung. Hätte ich fast vergessen. Holt ihr deinen Dad von draußen und sagt ihm, dass das Essen fertig ist?", fragte sie uns und ich nickte sofort. Ich wollte gerne kurz in die kalte Luft raus, dann würde ich einen klaren Kopf bekommen.

„Ist er beim Schuppen oder bei der Garage?", fragte Peter, als wir uns schon zum Gehen gewandt hatten.

„Beim Schuppen", rief sie uns hinterher.

Als wir draußen waren, atmete ich tief durch und fand, dass ich mich eigentlich wirklich entspannen konnte. Seine Familie war super nett und sie schienen nicht überrascht oder enttäuscht über Peter und mich zu sein. Im Auto war ich mir da noch nicht so sicher gewesen.

„Ich mag deine Mum, sie ist sehr nett", sagte ich zu Peter und meinte es auch so. Ich konnte sehen, dass es ihn freute, denn seine grünen Augen blitzten auf.

„Das stimmt, sie ist herzlich, versucht einen zu unterstützen, aber man kann trotzdem selbstständig sein und sie bemuttert einen nicht. Wäre bei fünf Kinder allerdings auch recht anstrengend", lachte er.

„Wo gehen wir denn hin?", fragte ich etwas verwirrt, denn ich hatte erwartet, dass der Schuppen/Garage direkt am Haus lag, aber Peter steuerte auf die Straße zu.

„Der Schuppen ist auf einer Wiese am Ende der Straße. Das hier ist ein Dorf, Lolla, da ist viel Platz, nicht so wie in der Stadt."

„Und hier ist es nicht schlimm, wenn wir so gesehen werden?", fragte ich und hielt zur Verdeutlichung unsere verschränkten Hände hoch. „Nicht, dass die Leute wie der Pizzabote sind."

„Oh, da habe ich dem armen Mann von gestern aber was eingebrockt, was?", lachte Peter. „Der war nur ein Beispiel. Ne, hier sind wir weniger Skispringer, sondern immer noch die Jungs, die früher ständig Klingelstreiche gemacht haben und dachten, dass keiner wusste, wer es war. Domen", fügte er auf meinen verständnislosen Blick hinzu.

„Ernsthaft? Er hat Klingelstreiche gemacht? Ich liebe Klingelstreiche", freute ich mich. „Dieser Adrenalinkick, während man wegrennt und hofft, dass keiner einen gesehen hat."

Peter stöhnte auf. „Nicht noch eine von der Sorte! Mir reicht schon Domen. Außerdem ist hier mindestens die Hälfte der Leute so alt, dass sie aufgrund ihrer Augen nicht unterscheiden können, ob ich jetzt Domen, Cene oder eben ich bin. Wir haben uns mittlerweile auf der Straße angewöhnt, mit allen drei Namen angesprochen werden zu können."

Ich war überrascht, das hätte ich nicht erwartet. Wobei: in Deutschland war das in Dörfern genauso. Wieso sollte das hier anders sein?

„Deshalb", Peter blieb an der Ecke der Straße stehen, „darf ich dich hier küssen, so oft ich will, ohne dass es jemanden stört", sagte er und fing an, mich stürmisch zu küssen. Mir schien es, als würde sich Peter seiner Wirkung auf mich mittlerweile sehr bewusst werden, denn gegen seine Küsse war ich machtlos. Sie waren viel zu schön. So schloss ich einfach die Augen und genoss den Moment.

„Wobei ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden hätte", lachte ich leise, als wir uns voneinander lösten.

„Nein", stellte er sich wieder auf stur und lächelte mein schiefes Lächeln. Ich strich ihm zärtlich über die Wange.

„Doch."

„Nein." Ich musste immer noch den Kopf darüber schütteln, da dieses Spiel ihm einen Heidenspaß zu bringen schien.

„Dann eben nicht", gab ich auf und er küsste mich noch einmal ganz zart.

„Sag bloß, das ist sie", hörte ich eine kräftige Stimme von hinten.

„Dad!", rief Peter überrascht, nachdem er sich von dem kurzen Schockmoment erholt hatte. Ich hatte den dunkelhaarigen, großen und stark aussehenden Mann auch nicht kommen hören, von der Schubkarre mit dem Holz drin ganz zu schweigen.

„Ich gehe mal stark davon aus, dass du Lolla bist?", kam der Mann - also Peters Vater - auf mich zu, zog seine Arbeitshandschuhe aus und schüttelte mir kräftig die Hand.

„Dad, Lolla ist nicht Domen!", spielte Peter den Beschützer, wozu ich nur die Augen verdrehte.

So zerbrechlich war ich nun auch wieder nicht - auch wenn ich kein Krafttraining so wie Peter machte. Eigentlich überhaupt keinen Sport in letzter Zeit, um ehrlich zu sein. In Deutschland hatte ich zweimal die Woche Fußball gespielt, aber nur weil es lustig und ich in anderen Sportarten noch unbegabter war. „Du musst nicht so übertreiben. Ich kann auch ein bisschen selber auf mich aufpassen", erklärte ich Peter und sagte dann zu seinem Vater: „Genau, Lolla von Bergmann heiße ich. Aber das Letzte müssen sie nicht aussprechen", beruhigte ich ihn, weil er ein bisschen überfordert von meinem Nachnahmen aussah.

„Die gefällt mir", lachte er in Peters Richtung. „Ich bin Dare, freut mich sehr, Lolla. Ihr habt mich bestimmt gesucht, um mich zum Essen zu holen, oder?" Ich nickte. „Sagt Juli doch bitte, dass ich gleich komme. Ich will nur noch die Fuhre hier einsortieren", bat er uns.

„Aber nicht wieder eine halbe Stunde brauchen, sonst bekommt Mum einen Anfall", warnte Peter ihn und ich musste lachen. Ich konnte mir seine Mutter nur zu gut mit ihrer energischen Art vorstellen, wie sie diesen großen Mann zur Schnecke machte. Anscheinend wussten die Prevc-Familienmitglieder alle recht gut, wie man sich durchzusetzen hatte. Naja, bei 7 Leuten war das auch nötig.

„Keine Angst", zwinkerte er uns zu, sodass wir wieder zurück zum Haus gingen.

„Juli ist deine Mutter?", fragte ich Peter.

„Eigentlich Julijana, aber Dad nennt sie immer nur Juli."

Zwanzig Minuten später bekam ich das echte Prevc-Chaos mit. Ich dachte ja, dass die Brüder die Chaoten waren, aber in Kombination mit ihren kleinen Schwestern war es noch besser. Am Anfang, während gegessen wurde - es gab Eintopf, der wirklich gut schmeckte und bei dem Wetter mehr als passend war -, war es sogar ziemlich gesittet.

Peters Vater war sehr interessiert an meinem Studium: „Und du hast erst in Deutschland angefangen und bist dann an die Uni Ljubljana gewechselt?"

„Genau, die ersten vier Semester habe ich in Deutschland absolviert, in einer kleinen Studentenstadt. Dann macht man für gewöhnlich sein Physikum und kann relativ einfach wechseln. Da es mich ins Ausland zog, habe ich mir eben Ljubljana ausgesucht, also bin ich seit ca. 7 oder 8 Monaten hier", erklärte ich ihm grob den Hintergrund.

„Wie kommt es dann, dass du so gut Slowenisch sprichst?", fragt er mich. „Du verstehst so gut wie alles, kann das sein?"

Ich nickte bescheiden: „Ich musste aber sehr viel dafür lernen im Sprachkurs, am Anfang bin ich viermal die Woche hingegangen, mittlerweile nur noch zweimal. Es war nicht so einfach, wie ich mir das vorgestellt hatte", gab ich zu. „Ich kann immer noch nicht das R richtig aussprechen", versuchte ich das R mit der Zunge zu rollen, wie es die Slowenen taten, bekam es aber nicht hin. Wäre auch komisch gewesen, hätte es jetzt auf einmal geklappt.

Ema, die auf dem Stuhl neben mir saß, fing an zu lachen. „Rrrr", machte sie und es klang perfekt.

„R", versuchte ich nachzumachen, aber es funktionierte nicht.

Sie lachte noch mehr und strahlte richtig. Irgendwie freute ich mich gerade selber über meine Unfähigkeit zu sprechen, weil Emas Gesicht so niedlich aussah, wenn sie sich freute. So eine richtig kindliche Freude.

„Sag mal: Riba ribi grize rep", forderte sie mich auf. Das hieß soviel, wie: Ein Fisch beißt in den Schwanz eines anderen Fisches. Natürlich mit sehr vielen R's.

Ich sprach es so gut aus, wie ich konnte, aber mittlerweile lachten auch Nika, Domen und Cene über mich und ich musste es nochmal sagen, weil sie es so lustig fanden. Peter und sein Dad hatten mindestens ein Schmunzeln im Gesicht. Sie trauten sich vermutlich nur nicht, laut über mich zu lachen. Aber mir war es lieber, wenn mich alle auslachten, als wenn mich keiner beachten würde. Zumindest konnte ich als Belustigung dienen. Außerdem hatte ich ja auch ein paar schwierige Wörter im Köcher.

„Okay, andersrum, jetzt müsst ihr was Deutsches sagen: „Fünfhundertfünfundfünfzig Quietscheentchen." Das hatte ich Peter auch schonmal aussprechen lassen.

Natürlich bekam es kaum jemand am Tisch wirklich hin und Ema rutsche fast vom Stuhl, weil sie so lachen musste. Besonders Domen's Version klang urkomisch. Er sagte irgendwie sowas wie: „Quetschhähnchen" und weil sich das wie Hähnchen anhörte, musste ich nun total lachen.
Wobei Hähnchen und Entchen, da könnte man ihm sogar noch zu gute halten, dass er den Sinn gar nicht so weit verfehlt hatte. Peter am Ende bekam es am besten hin, aber das war keine große Überraschung.

„Du hast geübt, das gilt nicht", wand Nika empört ein.

„Hab ich gar nicht", protestierte Peter, was selbstverständlich nicht stimmte.

„Du lügst", stellte Ema fest und haute mit ihrer kleinen Faust auf den Tisch, unglücklicherweise genau auf ihren Löffel, der etwas nach oben flog und Suppe über den ganzen Tisch verteilte.

„Och Ema, pass doch einmal auf", schimpfte Julijana, stand auf und holte einen Lappen.

„Aber er lügt doch, oder Lolla?", sah sie mich mit großen Augen an. Sie hatte genau wie Domen braune Augen und kaum Grün wie Peter darin.

„Er lügt Ema, du hast ihn durchschaut", bestätigte ich der Kleinen und freute mich an ihrem strahlenden Lächeln.

„Schön zu sehen, zu wem du hier hältst, Lolla", tat Peter beleidigt, was Ema und Nika erneut zum Lachen brachte.

„Tja, wo deine kleine Schwester Recht hat, hat sie eben recht", lächelte ich ihm zu und klatschte mit Emas kleiner, ziemlich klebriger Hand ab. So ging das noch eine ganze Zeit weiter, bis Nika ungeduldig aufstand, nachdem sie angefangen hatte, ihre kleine Schwester zu ärgern: „Darf ich nach oben, Mum? Ich will weiter puzzeln."

„Ich auch", rief Ema und sprang schon von ihrem Stuhl auf.

„Ne Ema, du darfst nicht", entschied Nika an der Stelle ihrer Mutter, bevor sie überhaupt selber die Erlaubnis erhalten hatte.

„Nika, sei nicht so gemein, ihr dürft beide, aber wascht euch vorher die Hände, ja?" Peter's Mum sah etwas müde aus. Es war bestimmt nicht einfach mit so vielen Kindern in der Familie, zu dem es alle Wirbelwinde zu sein schienen. Schneller als man gucken konnte, waren sie schon draußen.

Peter kam von der anderen Seite des Tisches, setzte sich auf den nun frei gewordenen Stuhl neben mich und nahm meine Hand. Ich sah ihn lächelnd an mit guter Laune, denn entgegen meinen Befürchtungen hatte mir das Essen richtig Spaß gebracht. Dass seine Schwestern und Brüder dabei waren, hatte die ganze Sache für mich viel einfacher gemacht und vor allem war die Stimmung nie so ernst geworden, dass ich mich unangenehm oder fehl am Platz fühlte. Er gab mir einen Kuss auf die Lippen und strich mir die Haare hinters Ohr.

„Lolla gehört nicht nur dir, Peter", nahm ich Domens Stimme etwas dumpf war, denn ich hatte für einen kurzen Augenblick nur Augen für Peter.
Dass seine Eltern, Cene und Domen ja noch am Tisch saßen, hatte ich völlig ausgeblendet. Sofort fiel es mir aber wieder ein und ich löste mich von Peter.

„Holst du die Mathearbeit runter oder zeigst du mir ernsthaft dein Zimmer?", fragte ich Domen gespannt.

„Nur, wenn du nicht meckerst", verdrehte er die Augen. „Reicht schon, wenn Mum das immer tut."


„Domen, sei freundlich zu deiner Mutter!", wies ihn Peters Vater zurecht.

„Sorry Mum", murmelte Domen und gab Julijana einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Kommst du?", sah er mich fragend an.

„Klar", antwortete ich und stand auf. „Vielen Dank für das Essen. Ich habe mich sehr darüber gefreut", sagte ich und meinte es tatsächlich ehrlich. Es war nicht gespielt.

„Die Freude ist ganz unserseits", antwortete Peters Vater und lachte in Richtung von Peter. „Sei glücklich mein Sohn, dass sie sich nicht Frankreich oder so ausgesucht hat, sondern in unser kleines Land gekommen ist."

„Stimmt", Peter stand ebenfalls auf, um mit nach oben zu gehen.

„Ne, du kannst hier bleiben, Peter. Du verstehst eh nichts von Mathe", bestimmte Domen und bedeutete Peter, sitzen zu bleiben. „Du lenkst Lolla nur ab." Domen zog mich schon raus in den Flur.

Ich folgte ihm die Treppe hoch. „Zeigst du mir auch die anderen Zimmer?", fragte ich ihn von hinten.

„Logisch, welches willst du zuerst sehen?", wollte Domen wissen.

„Denk mal scharf nach, Domen. Welches wohl?"

„Meins!" Das war typisch Domen.

„Da schreibt jemand eine Drei plus und trotzdem denkt er nicht nach", ärgerte ich ihn. „Natürlich Peters."

Domen drehte sich beleidigt um. „Und danach sofort deins", versicherte ich ihm, „ich will schließlich deine Mathearbeit sehen. Haben deine Lehrer eigentlich was gesagt?"

„Mein Mathelehrer wollte mir erst nicht glauben, dass es meine Arbeit ist. Aber meine Schrift war unverkennbar".

„Unverkennbar schlecht?", lachte ich.

„Genau", musste er auch lachen. „Aber deine ist auch nicht viel besser, also darfst du gar nichts sagen, Lolla."

Domen hatte absolut Recht, denn von einer schönen Mädchenschrift war ich weit entfernt. Meine war klein und krakelig, besonders, weil ich meistens schnell und eilig schrieb und daher keine Zeit hatte, es auch noch ordentlich aussehen zu lassen.
Deshalb schrieb ich in Vorlesungen und Seminaren auch kaum mit - ich konnte es später selber nicht mehr lesen.

Wir waren oben angekommen. „Das hier vorne rechts ist Emas und Nikas, aber Nika darf unter der Woche in Peters Zimmer schlafen, wenn er nicht da ist, weil sie behauptet, dass Ema sie nerven würde. Dabei kann Ema gar nicht nerven." Niedlich, Domen schien auch eine Schwäche für die Kleinste zu haben. „Vorne links ist Peters, dahinter meins. Dann hinten rechts kommt Cenes und ganz am Ende das meiner Eltern."

Er stieß die Tür zu Peters Zimmer auf. „Es ist aber nicht wirklich aufregend", kündigte er an. „Und furchtbar ordentlich." Als wäre das was Schlechtes.

„Ema, was machst du denn hier?", fragte Domen verwundert.

Ich trat seitlich an ihm vorbei in Peters Zimmer, welches ziemlich klein war. Vor allem, wenn man es mit Peters Wohnung verglich. Nur ein bisschen größer als mein Eigenes, aber es sah gemütlich aus.

Jetzt sah ich auch, was Domen gemeint hatte. Ema lag auf Peters Bett und hatte ein ganz rotes Gesicht und verquollene Augen.

„Nika lässt mich nicht mit puzzeln. Sie hat gesagt, ich würde alles falsch machen. Und dass ich nerven würde", schluchzte sie und fing wieder an zu weinen.

Domen ging sofort raus in Nikas Zimmer: „Nika, du lässt Ema mitspielen! Du hast doch gehört, was Mum gesagt hat." „Aber...", hörte ich die Zwei diskutieren.

Vorsichtig ging ich zu Peters Bett und kniete mich hin. Da Peter Taschentücher auf seinem Hocker neben dem Bett liegen hatte, gab ich ihr eins.

„Danke", sagte Ema und putzte sich die Nase.

Ich überlegte. „Weißt du was, Ema? Soll ich mitkommen und wir gehen zusammen zu Nika?"

„Aber dann sagt sie wieder, dass ich nerve", wand Ema ein und guckte mich an.

„Ich pass auf, okay?"

Sie nickte, machte aber keine Anstalten, aufzustehen. Kurz entschlossen stand ich auf und hob sie hoch. „Peter hat Recht, du bist ja wirklich schwer", grinste ich sie an und sie konnte schon wieder lachen. Wir gingen rüber in das gegenüberliegende Zimmer, indem Domen und Nika immer noch diskutierten. Schien, als hätten beide ihren Meister gefunden. Anscheinend war Sturköpfigkeit reichlich in der Familie Prevc angesammelt.

„Domen, Nika: Ema kommt wieder zum Puzzeln. Ich bleibe hier und passe auf. Auch, dass Ema nichts kaputt macht, okay Nika?", sah ich die größere der Beiden an.

„Und meine Mathearbeit?", fühlte sich Domen hintergangen.

„Hol sie doch einfach her", schlug ich vor. „Ich kann sie mir doch hier anschauen. Dann sehen deine Schwestern gleich, wie gut ihr großer Bruder war."

„Hol sie her", sagte Ema nun ebenfalls und ich nickte Domen zufrieden zu.

„Frauen", grummelte Domen, ging aber in sein Zimmer und holte die Klausur, während Ema und ich uns neben Nika auf den Boden setzte. Gut, dass ich Peters Jeans anhatte, die mir zu weit war, so wars wenigstens gemütlicher auf dem Boden zu sitzen als in einer engen Jeans von mir.

„Also Nika, was soll Ema kaputt gemacht haben?"

„Guck, ich hatte das hier schon fertig gepuzzelt und dann hat sie das hochgehoben und es ist alles auseinander gefallen. Jetzt muss ich das nochmal machen", zeigte mir Nika und deutete auf die Teile, die vor ihr lagen.

„Okay Ema, alles was fertig gepuzzelt ist, hebst du nicht mehr hoch, ja? Weil das dann wieder auseinander fällt."

Sie nickte und so puzzelten wir eine Weile vor uns hin. Ich mochte diese Ruhe dabei. Als ich selber klein war, und sogar als ich noch in Deutschland studierte, hatte ich viel gepuzzelt. Man konnte so wunderbar runterkommen dabei, musste sich auf nichts Anderes konzentrieren, als auf das nächste Teil.

Domen kam mit seiner Klausur wieder, ich schaute sie durch und war wirklich positiv überrascht, wie sich seine Leistung verändert hatten. Besonders gefiel mir, dass er nicht mehr so viel durchstrich oder wegmachte, was er vorher ständig gemacht hatte, da er überzeugt war, dass es falsch war.
Das war mit das Erste, was ich ihm beigebracht hatte - einfach stehen lassen. Man konnte darunter ja weiter rechnen, nur wenn man es gleich wegmachte, hatte der Lehrer nichtmal die Chance, es zu sehen und Teilpunkte zu vergeben. Lieber etwas Falsches als gar nichts stehen haben.
Nur, wenn man sich hundert Prozent sicher war, dann konnte man Sachen durchstreichen. Außerdem gab es einen ordentlicheren und lesbaren Gesamteindruck, was bei Lehrern, wo noch Sympathie mitspielte, auch von Vorteil war.

Domen schien sich ehrlich zu freuen, als ich ihn lobte und ging dann in sein Zimmer.

„Bist du gut in der Schule?", fragte mich Ema. Sie war so niedlich, wie sie da saß mit ihren kleinen Füßen und Händen. Ich wollte gar nicht wissen, was ihre Schuhgröße war. Bestimmt unter 30.

„Lolla geht nicht mehr in die Schule", erklärte ihr Nika etwas rechthaberisch. Vermutlich hatte sie es schwer, sich gegen ihre kleine, süße Schwester - die noch den deutlichen Kinderbonus hatte - und ihre erfolgreichen Brüder durchzusetzen.
Aber ich mochte ihre Art - schien sie doch sehr aufmerksam zu sein, wenn sie sich das gemerkt, was ich ihr vorhin erklärt hatte.

„Sie studiert in der Stadt. Weil sie Ärztin wird. Und sie hilft Thomas". Dem hatte ich nichts hinzuzufügen, aber es bestätigte meine Auffassung von Nika.

„Ärztin?", sah mich Ema an. An ihrem kindlichen Gesicht konnte sogar ich alle Emotionen ablesen. Kinder konnten die noch nicht so verstecken wie Erwachsene, was es mir leichter machte. Vermutlich ein Grund, weswegen ich ganz gut mit Kindern klar kam.

„Ja, gehst du denn schon zur Schule, Ema?"

„In die erste Klasse", sagte sie stolz. Also hatte ich sie richtig eingeschätzt.

„Und wie alt bist du?"

„7", zeigte sie mir mit den Fingern.

Ich musste lachen, denn ich wusste noch genau, wie ich mich gefreut hatte, als ich endlich 6 Jahre geworden war und beide Hände nehmen durfte, wenn ich nach dem Alter gefragt wurde.
Kurz stellte ich mir vor, wie ich nächstes Mal, wenn ich nach meinem Alter gefragt wurde, die Zwanzig mit den Händen darstellte. Zweimal die Zehn nacheinander.
Ich könnte wetten, dass alle denken würden, dass ich einen an der Klatsche hatte.

„Wieso lachst du?", wollte Nika wissen.

„Es ist schön bei euch", sagte ich. „Und in welche Klasse gehst du?", fragte ich sie und so erzählten mit die Zwei alles mögliche.
Über den doofen Lukas aus der Parallelklasse, der den Mädchen immer an den Zöpfen zog, Nika übers Skispringen, Ema, dass sie einen Hamster haben wollte, ihre Mum den aber nicht erlaubte und so weiter. Irgendwann ging plötzlich die Tür auf. „Ach hier bist du, Lolla", hörte ich Peters erstaunte Stimme und drehte mich um, da ich mit dem Rücken zur Tür saß. Die beiden Schwestern guckten auch zu ihm hoch.

„Wir puzzeln", erklärte ich ihm.

„Ob du es glaubst oder nicht, das hätte ich fast vermutet. Aber nur fast", veralberte Peter mich und kniete sich zu uns runter. „Sieht gut aus, Mädels", befand er.

„Guck mal", zeigte Ema ihm stolz die Teile, die sie gefunden hatte.

„Super, Kleine", befand er und wuschelte durch ihre kurzen Haare. „Kommst du gleich runter, Lolla? Ich schätze, ihr Drei habt die Zeit vergessen, aber es wird schon dunkel. Und wir müssen ja noch zurück fahren", erinnerte Peter mich.

Ich nickte, woraufhin mir Peter einen Kuss auf die Stirn gab, aufstand und rausgehen wollte.

„Bleibst du nicht hier?", fragte Ema ihn ein bisschen traurig, als er schon dabei war, die Tür zuzumachen.

„Ihr habt doch morgen Schule, Ema. Und ich hab Training. Ich komme aber spätestens nächstes Wochenende wieder, okay Kleine?".

„Bleibt wenigstens Lolla hier?"

Bei der Frage ging mein Herz auf und ich verstand, wieso Nika es schwer gegen sie hatte. Ema war wirklich goldig. So herzlich und unbekümmert.

Peter lachte: „Die nehme ich auch wieder mit. Aber sie kommt bestimmt nochmal, dann könnt ihr weiterspielen. Außerdem hast du dann ein eigenes Zimmer, wenn ich nicht da bin", erinnerte er sie und die Aussicht auf ein eigenes Zimmer schien Ema zufriedenzustellen, sodass Peter die Tür schloss.

„Peter mag dich", schaute mich Nika nachdenklich an.

„Ach ja?", fragte ich leicht verlegen. „Woran merkst du das?"

„Er hat dir einen Kuss gegeben. Vorhin auch schon. Das machen sonst nur Mum und Dad. Und die mögen sich auch." Bemerkenswert logische Kette, die sie da aufgebaut hatte. Das Schlimmste war, dass ich sogar bei ihrer Bemerkung rot wurde.

Lolla, vielleicht solltest du mal anfangen, Make-Up zu tragen, damit du nicht die ganze Zeit so rumläufst, schlug ich mir in Gedanken vor. Aber vermutlich war ich einfach dazu verdammt, selbst bei der Bemerkung einer 10-Jährigen rot zu werden, wenn es um Peter ging.

„Ich hoffe, dass er mich mag", antwortete ich Nika ehrlich und stand auf. „Hat Spaß gemacht mit euch. Seid lieb zueinander! Wir sehen uns bald wieder", verabschiedete ich mich und die zwei wunken mir im Sitzen zu.

„Tschüss Lolla!" Schnell lief ich die Treppe runter. Es war tatsächlich schon dunkel. Wo war denn die ganze Zeit geblieben? Die letzten zwei Tage hatte ich kein einziges Mal an die Uni gedacht. Geschweige denn, irgendwas dafür getan. Ich fühlte mich, als wäre ich im Urlaub gewesen. War ich ja auch irgendwie.

In der Küche sah ich Peter und seine Eltern sitzen. Ich trat hinter Peters Stuhl und legte meine Arme von hinten um seinen Hals. Da seine Eltern so nett zu mir gewesen waren, hatte ich etwas weniger Hemmungen als noch heute Mittag.
Schließlich hatte selbst seine zehnjährige Schwester mitbekommen, dass Peter mich „mochte". Dann wussten seine Eltern eh was Sache war.

„Na Lolla, hast du dich losreißen können?", witzelte er und guckte nach oben zu mir.

„Hey, deine Schwestern sind total süß", verteidigte ich mich.

„Doch nicht süßer als ich!", tat Peter eingeschnappt.

„Gestern durfte ich dich nicht süß nennen und jetzt auf einmal?", musste ich lachen.

„Tja Peter, so schnell ist man weg vom Fenster", grinste Peters Vater.

„Wir können sie euch gerne mal ausleihen zur Probe. Damit ihr wisst, worauf ihr euch da einlasst", machte Julijana Scherze.

Ich lief rot an. Heute hatte ich wirklich einen neuen Rekord aufgestellt. „Ähm, naja...so war das nicht gemeint...Also, ich studiere ja noch... schon irgendwann mal, aber...", druckste ich herum, während Peter seiner Mutter wieder gratulierte: „Du bist echt gut, Mum. Bei dir kann ich mir nochmal eine Scheibe abschneiden."

Seine Eltern lachten beide und Peter zog mich auf seinen Schoß, da ich mittlerweile seitlich neben ihm gestanden hatte. Zärtlich küsste er mich auf die Lippen und trotz allem war ich erstaunt, wie locker er mit seiner Familie umgehen konnte. In meiner wäre ich nie so entspannt gewesen, hätte ich ihn das erste Mal dabei gehabt.
Ich sah aus den Augenwinkeln, wie sich seine Eltern anlächelten.

„Wir müssen bald mal los", riss mich Peter aus meinen Gedanken. „Hast du den Kleinen Tschüss gesagt?"

Ich nickte und wir standen auf, gingen in den Flur und zogen unsere Jacken und Schuhe an. Peters Mutter nahm mich freundlich in den Arm: „Toll, dass wir dich kennengelernt haben, Lolla. Und hab ein Auge auf Peter."

„Ich hab ein Auge auf sie, Mum!", protestierte Peter und umarmte sie ebenfalls. Ich schüttelte seinem Vater herzlich die Hand und wir gingen in Richtung Auto.

„Und was habe ich dir vorher gesagt?", grinste mich Peter an.

„Hast recht gehabt", stimmte ich ihm zu. „Alles Monster."


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