Kapitel 34

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Wollte Lolla tatsächlich noch das dritte Stück hören? Schnell lief ich hinter ihr in den dunklen Konzertsaal hinein und bemerkte, dass sie sich tatsächlich wieder hingesetzt hatte. Hatte mein Plan im Endeffekt vielleicht doch geklappt?

Es sah ganz so aus. Während die letzte Schülerin anfing, ein sehr schnelles Stück zu spielen, schweiften meine Gedanken wieder ab. Lolla sah jetzt entspannter als vorhin aus, doch ich nahm mir ganz fest vor, besser nachzudenken und mich zu fragen, was sie in diesen Situationen fühlen könnte. Ich musste definitiv vorausschauender handeln. Denn dass das, was gerade passiert war, nicht unbedingt förderlich für ihre Vergangenheitsbewältigung gewesen war, spürte ich.
An der Art, wie sie gerade mit mir geredet hatte. An der Art, wie sie ihren ganzen Körper angespannt hatte, während sie lief. An der Art, wie ihr Gesichtsausdruck wie in Stein gemeißelt zu sein schien.

Wieso nur hatte ich sie hierher mit genommen? Wahrscheinlich hatte ich deshalb vorhin auf dem Hinweg schon so ein schlechtes Gefühl gehabt. Allerdings hätte ich wahrscheinlich ein genauso schlechtes Gefühl gehabt, wären wir in meiner Wohnung geblieben und hätten die ganze Zeit nur zusammen auf dem Sofa gelegen. Dann überkam mich immer die Angst, dass ich ihr nicht ausreichte. Dass ich noch mehr Last für sie bedeutete. Weil mein Leben durchorganisiert war und sich ständig an anderen Orten abspielte. Weil ich nicht immer bei ihr sein konnte.

Weil unsere Welten einfach komplett unterschiedlich waren...

Während ich darüber nachdachte, fühlte ich irgendwann, wie zarte Finger sich auf mein Knie legten. Meine Jeans an der Stelle wurde nach einer Zeit ganz warm. Und das war erstaunlich, schließlich hatte Lolla sonst immer eiskalte Hände.

Dann tasteten sie über mein Bein nach oben und schienen nach meiner Hand zu suchen. Schnell verschränkte ich meine Hand mit Lollas und war unendlich froh darüber, dass sie sie nicht wegzog. Ob sie mir immer noch vertraute, obwohl ich die Sache mit ihrer Vergangenheit nicht schlechter hätte angehen können? Ich wollte sie nicht zum Weinen bringen. Ihre Krokodilstränen brachen mir allein beim Hinschauen das Herz.
Zögerlich - naja, um ehrlich zu sein: ängstlich - wand ich meinen Kopf zu ihr um, doch ich sah sie nur im Profil, da sie zur Bühne blickte. Ihre gerade, kleine Nase. Die dichten Wimpern ihrer grauen, so verträumt blickenden Augen. Ihre vollen, geschwungenen Lippen. All jene Details hatten sich schon tief in mein Gehirn gebrannt, denn wenn ich zuhause vor ihr aufwachte, schaute ich sie mir an. Nichts weiter. Ich betrachtete sie einfach nur.

Damit ich immer dann, wenn ich unterwegs war und ohne sie in einem anonymen Sporthotel aufwachte, mir ihr Gesicht vor Augen rufen konnte. Damit sie eben doch bei mir war. Damit ich nie vergaß, dass es etwas gab, für das es sich lohnte, zu kämpfen.

Lolla hielt meine Hand fest, bis der letzte Ton verklungen war und die dreißig Leute im Saal anfingen zu klatschen. Leicht beugte sie sich in meine Richtung, sodass mir ihr sanfter Lolla-Geruch in die Nase stieg. Sie legte ihre Hand unter mein Kinn, drehte meinen Kopf in ihre Richtung und gab mir einen ganz sanften Kuss auf die Lippen. So zart, dass ich es auch hätte träumen können.

„Ich...", wollte ich wieder anfangen, mich zu entschuldigen, aber Lolla legte nur ihren Zeigefinger auf meine Lippen. „Ich liebe dich, Peter", flüsterte sie.

Eine halbe Stunde später in Peters Wohnung

Lollas Sicht

„Du bist mir ja einer", schimpfte ich leise mit ihm, nachdem Peter sich ins Bett gelegt hatte und nicht erwarten konnte, dass ich mich zu ihm legte. „Immer nur an das Eine denken, hm?"

Natürlich meinte ich das nicht ernst, aber das wusste er eh. Seit vorhin meine Gedanken tausend Achterbahnen gleichzeitig gefahren waren; ich mich gefragt hatte, wieso um Himmelswillen Peter das machte, war ich zu dem Schluss gekommen, dass er es einfach nicht besser wusste. Wie konnte ich auch von ihm verlangen, dass er sich in meine Situation hineinversetzen konnte? Deshalb hatte ich ihm diese Aktion verziehen, das letzte Stück mich sogar entspannen können und freute mich jetzt unbändig darüber, meinen Freund wiederzuhaben.

Auf dem Heimweg hatte er meine Hand kein einziges Mal losgelassen. Außerdem war es nicht seine Schuld, dass ich so eine verkorkste Kindheit hatte.

Zumindest funktionierte Max's Theorie des Gedankenwegschiebens.

Schnell krabbelte ich zu ihm ins warme Bett. Was vor allem deshalb warm war, weil Peter schon drin lag. Mit ihm war mir nie kalt. Selbst jetzt im Winter nicht und da schlief ich normalerweise immer mit drei Decken.

„Ich wundere mich immer noch, wie die Zeitungen dich als einen schweigsamen, stillen Menschen beschreiben können, wo du doch so ein Draufgänger bist", stichelte ich, während Peter seine Nase in meinen Haaren vergrub und so tief einatmete, dass ich es deutlich hören konnte.

„Hättest du es lieber, dass ich wirklich so wäre?", legte Peter seine große Hand an meine Wange und sah mir in die Augen. Wie schön seine grün-braunen Augen doch waren. Hätte ich zeichnen gekonnt, dann hätte ich die Augen aller Personen immer genauso wie seine gemalt.

„Wenn du wie wärst?"

„Na so, wie mich die Zeitungen immer beschreiben..." Er sah fast ein bisschen ängstlich aus.

Ich mochte diese Charaktereigenschaft von ihm - dass er, obwohl er sich bei seinem Status das Gegenteil erlauben könnte -, immer noch menschlich und er selbst geblieben war. Alleine, wie er sich in diesem Moment Sorgen machte, dass ich ihn nicht so mochte, wie er war, zeigte, dass Überheblichkeit ihm absolut fern war. So weit weg, wie ich davon entfernt war, jemals eine Schanze runterzuspringen.

Sanft fuhr ich über seine hohen Wangenknochen und küsste ihn zärtlich. „Erstens ist mir total egal, was die über dich schreiben, solange es nichts Doofes ist.
Zweitens, überschätz dich mal nicht, mein Lieber, du bist zwar echt kein schweigsamer Mensch, aber so ein krasser Draufgänger bist du jetzt auch wieder nicht."

Lachend beobachtete ich, wie Peter jetzt ein eingeschnapptes Gesicht machte, welches mich wieder an einen kleinen Jungen erinnerte. „Außerdem hat Domen mir erzählt, dass du den Reportern wirklich so schweigsam gegenüber bist, wie die immer schreiben. Die können ja nichts dafür, dass sie jetzt nicht hier sind und dich sehen", befand ich und Peter fuhr durch meine Haare.
Langsam schloss ich die Augen und lehnte meine Stirn an seine Brust, während er sich Strähnen um die Finger wickelte.
Ich war so froh, bei ihm zu sein. Es waren diese vielen kleinen Momente mit Peter, die es zu etwas Besonderem machten. Meinetwegen mussten wir nicht viel Action haben, es reichte, wenn wir zusammen waren. Dann fühlte ich mich wieder komplett. Vielleicht war die getrennte Zeit zumindest dafür gut, dass ich dies erkannt hatte. Immer wenn er weg war, fühlte ich mich, als fehlte etwas. Als hätte jemand das entscheidende Teil des Puzzles entfernt und das Motiv ergab keinen Sinn mehr.

„Domen, der Quatschkopf", murmelte Peter leise und ich atmete tief seinen herben Geruch ein. Er roch immer noch so wie am Anfang, auch wenn ich es mittlerweile schwächer wahrnahm, weil ich einfach öfter bei ihm war und es öfter roch. Habituation nannte man das in der Medizin. Oder auf Deutsch: Gewöhnung.
Mittlerweile hatte ich jedoch herausgefunden, dass dieser Zitrone-Pfefferminz-Geruch von seinem Waschmittel kam, unterstützt von seiner Pfefferminz-Zahnpasta. Und er benutzte tatsächlich dieses Sport-Nivea Shampoo aus der blauen Verpackung mit dem Aufzug: „cool and fresh". Ich vermutete, dass Peter sich überhaupt nicht bewusst war, wie anziehend dieser Geruch war.

„Und drittens, du Esel, müsstest du mittlerweile gemerkt haben, dass ich dich genauso mag, wie du bist."

„Also das „Esel" verzeihe ich dir nur, weil du es bist, Lolla", scherzte Peter, doch ich merkte, wie wir beide müde wurden und mir die Augen zu fielen.
„Hey Eisklümpchen, nicht einschlafen!", seine raue Stimme klang sanft an meinem Ohr und ich kuschelte mich noch etwas näher an seine Brust. Auch wenn „kuscheln" das falsche Wort war, denn Peter bestand eben vor allem aus Knochen, Muskeln und Haut. Unter weich stellte man sich etwas anderes vor. Trotz seiner Warnung schlief ich ein.

Um halb vier nachts

Verängstigt riss ich die Augen auf. Was war los? Es war dunkel, ich sah nichts und musste mich erstmal daran erinnern, wo ich war.

Sofort drehte ich mich auf die Seite und war unendlich erleichtert: Peter war da!

Die andere Seite des Bettes war nicht leer wie so oft in den letzten zwei Wochen, als ich aufwachte. Mitten in der Nacht, so wie jetzt. Anscheinend träumte ich immer etwas Gruseliges, konnte mich jedoch an nichts mehr erinnern. Nur wurde es mit jedem Mal schlimmer, wenn Peter nicht da war.

Ich tastete mit meiner Hand unter der Decke nach Peters Arm. Er lag auf dem Rücken, hatte einen friedlichen Gesichtsausdruck und als ich sah, wie sich seine Nasenflügel bei jedem Atemzug leicht hoben und senkten, musste ich lächeln.
Hatte Domen das damals ernsthaft als Schnarchen bezeichnet? Man hörte Peter zwar wirklich relativ laut atmen, aber mich hatte es noch nie gestört. Eher beruhigte es mich, zumindest wenn ich aufwachte und ihn beobachtete, denn es hatte mit seiner Regelmäßigkeit etwas total Meditatives.

Vorsichtig legte ich meine Hand auf seine nackte Brust und spürte, wie sie sich im gleichen Rhythmus hob und senkte. Wieso wachte ich auf und hatte Angst, dass er auf einmal weg war?

Eigentlich müsste ich doch wissen - und ich wusste es auch -, dass ich zusammen mit ihm im Bett lag, mit ihm geschlafen hatte und sich an dieser Konstellation nachts nichts mehr änderte. Trotzdem überkam mich nach dem Aufwachen, auch morgens, immer diese Angst, er könnte weg sein. Selbst dann, wenn er da war.
Wahrscheinlich, weil er morgen Abend wieder wegfliegen würde. In die Schweiz nach Engelberg, dahin, wo ich eigentlich auch mit sollte, aber nicht konnte. Und die Springer würden erst am Montag wieder hier ankommen, weil der Wettbewerb am Sonntag sehr spät stattfand. Das machte die Sache nicht unbedingt besser.

War es normal, dass ich so abhängig von ihm war?

Diese Frage war für das kleine Teufelchen in meinem Kopf gefundenes Fressen: Bist du verrückt geworden, Lolla? Du wolltest immer selbstständig sein: jetzt liegst du hier und kannst nicht mehr schlafen, nur weil du deinen Freund für ein paar Tage nicht siehst. Tolle Unabhängigkeit!

Wieso liebst du ihn so sehr?, versuchte ich mir selbst zu beantworten, warum es soweit gekommen war.

Keine Ahnung, antwortete mein ehrliches Lolla-Ich.

Doch, ich weiß es!, rief da das Engelchen in meinem Kopf. Weil Peter einfach perfekt ist. Weil er dich besser macht, als du es eigentlich bist, Lolla. Peter liebt dich und diese Liebe macht dich stark, er unterstützt dich in deinem Studium, er unterstützt dich bei deiner Familie und hat dich nicht verlassen, obwohl Max ihm die Wahrheit über dich erzählt hat. Peter hat dich sogar in ein Klavierkonzert mitgenommen, nur um dich glücklicher zu machen. Du kannst ihm vertrauen und für ihn lohnt es sich, etwas Unabhängigkeit einzubüßen!

Ich mochte das Engelchen. Sofort fing ich an, mich wohler zu fühlen. Peter liebte mich, das sagte er zumindest. Verträumt betrachtete ich sein Gesicht und strich hauchzart mit meinem Finger darüber. Eigentlich fast ohne ihn zu berühren, denn ich wollte ihn nicht aufwecken. Er brauchte seinen Schlaf.

Trotzdem wird sein Sport immer wichtiger sein als du, widersprach nun das Teufelchen. Sieh dich doch nur an, Lolla. Du liegst hier mitten in der Nacht und fängst fast an zu heulen, weil er dich morgen verlässt. Weil sein Sport wichtiger ist. Wichtiger als du. Das wird sich in Zukunft nicht ändern? Willst du das noch zehn oder fünfzehn Jahre so weiter machen?

Meine Hochstimmung verflog wieder, denn das Teufelchen war manchmal ziemlich gemein. So entstand eine Diskussion in meinem Kopf, bei welcher das Engelchen zum Glück gut dagegen halten konnte: Der Sport ist Peters Beruf, natürlich steht das an erster Stelle. Lollas Studium ja auch. Trotzdem können die beiden sich lieben und zusammen sein. Das Eine schließt das Andere nicht aus.

Doch das Teufelchen schlief nicht: Aber was ist, wenn Lolla so abgelenkt von Peter ist, dass ihre Leistung nachlässt? Wenn Peter und nicht mehr das Studium an erster Stelle steht. Heute Abend hat sie zumindest gar nicht gelernt, sondern lieber mit ihm in der Öffentlichkeit rumgeknutscht und mit ihm geschlafen, lästerte das Teufelchen und lief aus Bosheit rot an.
Mit seinen spitzen Hörnern konnte es mir ganz schön Angst einjagen. Wie auch jetzt! Hatte ich mich wirklich so gehen lassen, dass ich den Fokus aus den Augen verlor?

Ich merkte, wie ich kurz vor einer Panikattacke stand.

Kontrolle, Lolla! Kontrolle ist das Wichtigste, sagte mein Lolla-Ich.

Krampfhaft schloss ich die Augen und versuchte, an etwas Anderes zu denken, sonst wäre ich gleich hoffnungslos verloren und müsste mich zusammenreißen, nicht aufzustehen und wegzulaufen. Max! Ich dachte an meinen besten Freund und was er mir jetzt geraten hätte. Gedankenwegschieben! Also fing ich an, in meinem Kopf mir so lange den Plexus brachialis (Nervengeflecht der Arme) und den Plexus lumbosacralis (Nervengeflecht der Beine) aufzusagen, bis ich mich beruhigte und wieder normal atmen konnte.

Diesmal hatte ich es tatsächlich geschafft, mich sogar komplett selber zu verunsichern. Verdammt! Ich spürte, wie mir die Tränen erneut in die Augen schoßen, denn ich wusste nicht, wie ich die nächsten vier Nächte alleine aushalten sollte. Wo sollte das bloß hinführen?

Siehst du, wie abhängig du von ihm bist?, sprang der Teufel mit seinem kleinen Dreizack wieder auf mein Gefühlsleben drauflos.
Nicht der schon wieder! Manchmal war er zwar ganz gut, um wieder zurück auf den Boden der Tatsachen geholt zu werden, aber die meiste Zeit hasste ich ihn einfach nur.

Lass sie in Ruhe! Lolla braucht einfach etwas Zeit, um damit klar zu kommen, dass er eben viel unterwegs ist. Und Teufelchen, zeig mir ein anderes Mädchen, was mit 20 Jahren eigenständig in einem neuen Land erfolgreich studiert, eine Wohnung und einen solchen Freund hat. Unselbständigkeit ist etwas anderes für mich. Dankbar merkte ich, wie das Engelchen dem Teufel den Dreizack entwand und etwas Blütenstaub versprühte, von dem der Teufel immer Ausschlag bekam.

Kann sein, sagte er gequält und versuchte sich den Staub aus den Augen zu reiben, bekam es bekam aber nicht hin, so quollen seine Augen auf und er konnte nichts mehr sehen.

Siehst du?, begeisterte sich das Engelchen und schlug mit den weißen Flügeln.

Danke, sagte mein ehrliches Lolla-Ich. So legte ich meinen Kopf auf Peters Brust und schloss wieder die Augen. Das Engelchen hatte Recht! Ich musste stolz auf mich sein und Vertrauen haben, irgendwie würde ich die nächsten Tage überstehen und danach konnte ich Peter schließlich begleiten.

Nichts zu danken, Lolla, flüsterte das Engelchen und streute auch mir Blütenstaub in die Augen. Doch ich bekam im Gegensatz zum Teufelchen keinen Ausschlag davon, sondern wurde ganz ruhig und schlief ein.

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