Kapitel 14

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Es war Sonntagnachmittag, ich saß an meinem Schreibtisch und lernte seit 6 Stunden. Ich konnte mir angenehmere Tätigkeiten an so einem Tag vorstellen, vor allem, weil ich Physiologie nicht so gerne wie Mikrobio und Biochemie mochte, aber es war in Ordnung. Was musste, das musste.

Mich hatten morgens Nina und eine andere Kommilitonin gefragt, ob ich mit ihnen zusammen lernen wollte, aber ich hatte dankend abgelehnt. Ich wollte den Tag heute nutzen, denn alleine war ich immer am produktivsten, auch wenn es mit anderen mehr Spaß brachte.

Deshalb grübelte ich alleine über die Wirkung des Franck-Starling-Mechanismus nach (beschreibt eine Anpassung der Herzaktivität ohne dabei die Herzfrequenz (=Puls), sondern nur das Herzpumpvolumen und den Blutdruck zu verändern) und schaute nachdenklich immer mal wieder durchs Fenster und ließ meine Gedanken schweifen.

Ich seufzte und guckte auf mein Handy. Max hatte mir geschrieben: „Hey Lolla, lange nichts mehr gehört. Alles klar bei dir?"

Freudig etwas von ihm zu hören, tippte ich schnell: „Wie sieht es bei dir aus? Hast du eventuell Zeit zum skypen?"

„Eigentlich nicht, weil ich lernen muss. Aber du weißt ja, dass ich mich gerne ablenken lasse: Also ja, ich habe Zeit. Darf ich dich dann ein paar Sachen zu Biochemie fragen? Du weißt sie eh, also versuch gar nicht erst, mir zu widersprechen!"

Als ich das las, musste ich lachen.

In Deutschland hatten wir tatsächlich für jede Klausur zusammen gelernt. Und ich hatte Max oft abschreiben lassen, da er mit Fächern wie Chemie, Biochemie oder Physio so seine Probleme hatte, wobei wir ein sehr ausgeklügeltes System entwickelt hatten.
Medizinklausuren schreibt man am Computer, denn man „kreuzt" nur, wie Studenten das nennen. Also multiple choice: eine von fünf Fragen ist richtig und muss angeklickt werden. Hört sich einfach an, ist es aber ganz und gar nicht.
Die Computer sind verspiegelt, sodass man beim Nachbarn nur eine schwarze Fläche auf dem Bildschirm sieht. Aushebeln kann man das System aber, wenn man schräg versetzt eine Reihe dahinter sitzt. Vorher sollte der, der vorne sitzt - also meistens ich -, aber noch seine Bildschirm-Ansicht vergrößern: Steuerung und dann mit der Maustaste scrollen. Der ultimative Tipp, um sich in Klausuren helfen zu können.

Max nannte mich - vielleicht auch deshalb - immer liebevoll „Streber-Lolla", nicht aus Spaß, er meinte es schon ernst, aber nicht abwertend. Vor allem kam der Name aber davon, wie wir uns kennengelernt hatten.
Im 1. Semester des gemeinsamen Anatomie-Seminars habe ich nach Max Erzählung (angeblich) mit der Anatomie Professorin über die Ansatzsehne des Musculus palmaris longus (total unnötiger Handmuskel, der die Hand beugt und die Palmarsehne spannt) diskutiert, währenddessen alle anderen keine Ahnung hatten, wovon wir überhaupt redeten.

Ich war immer noch der Meinung, dass es überhaupt nicht stimmte, sondern ich mich im Kurs ganz normal beteiligt hatte. Die Wahrheit lag, wie immer, vermutlich in der Mitte.

Jedenfalls hatte Max mich im Laufe des Seminars - aus Spaß, das hatte ich aber nicht gecheckt - gefragt, ob ich ihm nicht Nachhilfe geben will; wir kannten uns vorher nicht.
Abends hatte ich darüber nachgedacht und ihm - die Handynummern voneinander waren durch eine große Semester-WhatsApp-Gruppe bekannt - geschrieben, wenn er Lust hätte, könnten wir gerne zusammen Anatomie lernen. Er hatte es zwar nur als Scherz gemeint, freute sich aber.

So hatte ich meinen allerbesten Freund im Studium kennengelernt - weil ich seinen Witz nicht verstanden hatte.

Ich vermisste ihn. Seine Sprüche. Seine Herzlichkeit. Seine Menschlichkeit. Seine Handwerklichkeit (er hatte immer Akkubohrer, Sägen und alles, was man so brauchte). Einfach seine Freundschaft. Auch wenn ich hier in Slowenien viele gut kannte und gerne mochte wie zum Beispiel Nina und einige andere, war es doch noch zwischen keinem von denen zu so einer Vertrautheit gekommen, wie zwischen Max und mir.

Mein Laptop leuchtete auf, weil ich über Skype einen Anruf bekam.

„Hey Lolla. Schön dich zu sehen. Auch wenn du nicht so hübsch wie in echt auf dem Laptop aussiehst."

Sein durch Skype verzerrtes Gesicht erschien auf meinem Bildschirm. Max sah genauso wie immer aus: Schwarze kurze Haare, freundliche braune Augen und ein breites Grinsen im Gesicht, demnach er mit seinem rundlichen Gesicht immer jünger aussah, als er wirklich war. Ähnlich wie Cene.

„Danke Max. Du auch nicht", ich musste mal wieder lachen, auch wenn es seine klassische Begrüßung war. „Cool, dass du Zeit zum Quatschen hast. Erst die Arbeit und dann das Vergnügen, also her mit deinen Fragen"

„Boah, du bist immer noch so eine Lernverrückte wie früher. Entspann dich, Schätzchen, ich will erst mal das Neueste von dir und Peter hören."

„Ne, erst Biochemie. Komm, sonst erzähle ich dir gar nichts. Du weißt, wie stur ich beim Lernen sein kann!"

„Stimmt, weißt du noch, als du einmal gehen wolltest, weil ich deine Erklärung für den MCV (mittlere Volumen eines Erythrozyten = rotes Blutkörperchen) nicht akzeptieren wollte?
Und du der Meinung warst, durch die zehn Minuten Diskussion und die verlorene Zeit würden wir beide durch die Klausur fallen?"

Max lachte laut, als er mich an diese Peinlichkeit aus dem 3. Semester erinnerte. Es war tatsächlich so gewesen, er übertrieb nicht.
Ja, früher war ich ab und zu etwas komisch gewesen, was das Lernen anging. Slowenien hatte es aber deutlich verbessert.

Nachdem ich Max's Fragen halbwegs zufriedenstellend beantwortet hatte, fragte er forsch: „So, was ist jetzt mit Peter? Hast du ihm deine Reaktion neulich erklärt?"

Max schaute mir - soweit das über Skype ging - in die Augen und ich ahnte bereits, dass er nicht begeistert sein würde, von dem, was ich erzählen würde.

Ich schüttelte langsam den Kopf. „Hör mir erst zu, bevor du mit mir schimpfst. Erstmal erzähle ich dir was passiert ist, okay?" Max nickte widerstrebend.

Also berichtete ich ihm von dem letzten Tag im Trainingslager nach meinem Krisen-Abend, von Peters Päckchen, von dem Abendessen, dem Aufwachen danach und von gestern.

„Jetzt mal ganz in Ruhe, Lolla, Nimm es mir nicht übel, aber im Moment machst du wieder ein paar Schritte zurück. Du hast Peter gestern Abend nichtmal richtig Tschüss gesagt? Und wolltest weder zu ihm in die Wohnung gehen, noch dass er mit zu dir kommt?"

„So war das auch wieder nicht!", protestierte ich. „Schließlich habe ich ihm gewunken und er saß ja am Steuer, da konnte ich ihn schlecht umarmen. Und das Ganze war etwas komplizierter, als du es darstellst."

„Schlechte Ausrede. Du hättest ihn sehr gut küssen können, auch wenn er am Steuer saß, zumindest auf die Wange. Und die Tür zuzuschlagen, wenn er sagt: „Pass auf dich auf" ist jetzt auch nicht so die feine englische Art."

Ich machte meinen Mund auf, um ihm zu widersprechen, da ich ja nicht gewusst hatte, dass Peter das noch sagen wollte, aber Max hob schon die Hand und bedeutete mir, zu stoppen.

„Was?", fragte ich ihn.

„So bringt das gar nichts, weil du mir die ganze Zeit nur widersprechen und dich rechtfertigen willst. Ich stell dir einfach ein paar Fragen, ja? Irgendwann nach Medizin, studiere ich doch nochmal Psychologie." Er grinste begeistert und ich konnte sehen, wie er sich freute.

„Max, du weißt, ich hasse Psychologie, Psychologen, Fragebögen, ihre komischen Strategien, also hör auf damit."

„Ach was, hasst du Camilla etwa auch?"

„Nein", erwiderte ich. Camilla war seine Freundin, die er schon hatte, als ich noch in Deutschland wohnte. Ein super liebes Mädchen, mit der ich mich klasse verstand, die eben Psychologie studierte. Aber ich hatte durch die Vorklinik und die schreckliche Lehre eine Abneigung gegen fast alles, was mit diesem Fach zu tun hatte.

„Was hat Peter nochmal genau zu dir gesagt?"

„Zu mir gar nichts."

„Ja, dann zu seinem kleinen Bruder, zu Domen."

„Zu dem auch nichts. Domen hat gesagt, was Peter zu ihm gesagt hatte."

„Boah, Lolla. Sag doch einfach, was sie gesagt haben!"

„Ganz ruhig, Max. Also anscheinend haben die über mich gesprochen, weil Domen so eine Vermutung hatte."

„Und was hat er verdammt nochmal gesagt?"
Würde ich ihn noch länger auf die Folter spannen, würde Max explodieren, dass sah ich ihm an.

„Lolla ist nur ein Teammitglied, mit dem ich mich gut verstehe"

„Was hast du dabei gefühlt, als er das gesagt hat?"

Verzweifelt stöhnte ich auf. „Max, ich hasse solche Fragen. Du weißt, dass ich damit nicht klarkomme."

„Ja Lolla, das weiß ich. Vergiss nicht, dass du es mitunter mir zu verdanken hast, dass du jetzt so ein aufgeschlossenes soziales Wesen bist, das sich nicht mehr hinter Büchern vergräbt, Listen schreibt und mit dem Rest der Welt nichts zu tun haben möchte."

Ich schaute beschämt auf den Boden. „Hey, so schlimm war ich gar nicht."

„Ne, aber fast. Jetzt bist du ja auch normal, deshalb entspann dich. Also fast normal. Nochmal: Was hast du dabei gefühlt, als er das gesagt hat?"

Ich hörte in mich hinein. Max Fragen brachten mich immer dazu, Bereiche in mir zu ergründen, die ich gar nicht kannte und an die ich auch nicht gedacht hatte.

„Ich dachte, ich soll nicht mehr so viel nachdenken?"

„Sollst du ja auch nicht, Süße", erklärte Max mir geduldig. „Du sollst mir nur sagen, was du gefühlt hast. Gefühle, ja? Nicht nachdenken, nicht grübeln, keine Pro- und Contra-Listen schreiben."

Das war früher eine Schwäche von mir. Ich schrieb zu allem Pro- und Contra-Listen und versuchte dann, alles rational begründet zu entscheiden, nachdem ich auch jede Kleinigkeit bedacht hatte.

„Ich sehe dich zu selten. Ich vergesse schon, was du mir beigebracht hast", lächelte ich ihn entschuldigend an. „Ich kann nicht genau sagen, was ich gefühlt habe. Es war eher so ein Wirrwarr an Gefühlen.
Erstmal war ich enttäuscht. Domen hatte eh eine Ahnung von uns beiden. Er hatte mich in Peters Klamotten gesehen und auch bei dem Schach-Ding hat er etwas gemerkt, da bin ich mir sicher. Es ist eine Sache von Peter, so etwas gegenüber Teammitgliedern, der Presse oder meinetwegen noch seinen Eltern zu sagen. Die hatten ja alle wirklich keine Ahnung.
Aber seinem kleinen Bruder zu erzählen: ich sei „nur" ein Teammitglied für ihn...".

Ich machte eine kurze Pause und überlegte.

„Ich finde, das hört sich mir gegenüber extrem abwertend an. Ist Teammitglied zu sein etwas Schlechtes? Und ist das ein Ausschlussgrund für ihn, mit jemandem zusammen zu sein? Wieso steht er nicht zumindest gegenüber Domen zu mir? Der eh von uns ahnte! Bin ich so furchtbar, dass er sich nicht traut, zu sagen, dass er mir gegenüber mehr empfindet, als „nur" wie für ein Teammitglied? Ich meine, so hässlich und scheiße bin ich doch auch wieder nicht. Wieso kann mich nicht einmal irgendwer in meinem Leben so lieben und annehmen, wie ich bin? Nein, nichtmal gegenüber seiner Familie traut er sich, mich zu erwähnen."

Mir fingen an die Tränen übers Gesicht zu laufen. Mist, ich hatte mich wirklich nicht so reinsteigern wollen. Aber Max Frage hatte das Alte von früher irgendwie wieder aufgewühlt. Meine komplette Unsicherheit von damals kam wieder hoch.

„Lolla", Max Stimme wurde viel weicher. „Nicht weinen. Du bist nicht hässlich und scheiße, sondern ein toller, unglaublich schlauer und mutiger Mensch. Ich bin mir sicher, er hat das alles ganz anders gemeint. Und ich glaube nicht, dass er dich abwerten wollte. Er hat vermutlich einfach nicht über die Formulierung nachgedacht. Schau, Lolla, schau mich an!"

Widerstrebend hob ich den Blick auf den Bildschirm und zerknautsche dabei das Taschentuch in meinen Händen.

„Peter kann nicht wissen, wie deine Familie früher war und wie du diese Bemerkung auffassen könntest. Deshalb habe ich dir schon letztes Mal gesagt: Rede mit ihm darüber!
Es wäre nur fair, wenn du mit offenen Karten spielst und ihm erklärst, wieso du so reagierst, wie eben nur Lolla reagieren würde. Und zwar die alte Lolla.
Lolla, ich liebe die neue Lolla, so witzig und fröhlich und ich bin traurig, dass ich sie nicht miterleben kann, aber du wirst die Alte nie ganz ausschalten können. Es wird immer diese Stimmen in deinem Kopf geben. Immer, hörst du. Und Peter wird dich nie verstehen können, wenn er das nicht weiß."

Ich nickte zaghaft. Es ergab Sinn, was Max erzählte. Trotzdem wehrte sich in meinem Inneren etwas dagegen.

„Aber ich kann nicht darüber reden, Max. Ich weiß auch nicht, wieso. Ich kann ja nichtmal darüber nachdenken. Deine Taktik - das Gedankenwegschieben - funktioniert, aber immer seltener in diesen Momenten. Und wenn ich Peter das erzähle, dann wird er nur denken: „Was für ein Freak" und weglaufen, so schnell er kann. Glaub mir, mit Weglaufen kenne ich mich aus", versuchte ich einen kleinen Scherz.

Max ging aber nicht darauf ein.
„So wie du Peter beschrieben hast, reden wir hier nicht von irgendeinem kleinen Sommer- oder eher Herbstflirt, der einem zu anstrengend wird.
Lolla, für ihn ist es bestimmt auch nicht einfach. Du kommst plötzlich so in sein Leben, wirst Teammitglied und für ihn wird es gleich kompliziert.
Wäret ihr offiziell zusammen, dann weiß bei seiner Popularität in eurem kleinen Land jeder davon, und das ganze Team müsste sich erstmal darauf einigen, wie sie mit euch umgehen sollen. In Besprechungen, in Untersuchungen, auf Trainingsfahrten.
Ihr würdet unter dem Druck der kompletten Öffentlichkeit stehen. Peter wird das wissen. Sogar ziemlich genau.
Was er im Endeffekt macht, ist: dich zu schützen. Mehr nicht Lolla. Er will dich nicht verletzen, genau das Gegenteil, er schützt dich. Er hat mitbekommen, dass es dir nicht leicht fällt mit der ganzen Situation.
Klar, im ersten Moment dachte er sich wahrscheinlich: Krass, wer ist denn das hübsche, intelligente Mädchen, die auch noch schlagfertig ist, Medizin studiert und Sarkasmus versteht - den ich dir im Übrigen beigebracht habe. Ich erinnere dich dezent ans erste Semester.
Aber spätestens am Schach-Abend wird er gemerkt haben, dass du mit manchen Situationen nicht umgehen kannst. Wenn du nicht alles unter Kontrolle hast, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, wenn du zurückgewiesen oder kritisierst wirst.
Würde er jetzt all seinen Freunden und seiner Familie erzählen, dass er dich geküsst hat und hofft, mit dir zusammen zu kommen, würde das einen enormen Druck auf dich und auf ihn ausüben. Alle würden euch mit anderen Augen sehen.
Und damit würdest du überhaupt nicht klarkommen, Lolla, da bin ich mir hundert Prozent sicher. Nicht in dieser Phase. Du würdest die Situationen, wo viele Menschen auf einem Raum sind, wieder anfangen zu hassen, weil du mit eurem ungeklärten Status nicht klar kämest. Und das wäre der wahrscheinliche Untergang einer Beziehung. Deshalb vermeidet er das.
Peter hat zwar keine Ahnung von deiner Vergangenheit, aber er versteht dich unterbewusst jetzt schon besser, als du dich. Glaube mir."

„Du solltest doch Psychologie studieren, Max", sagte ich beeindruckt über seine Analyse aus mehr als 1000 km Entfernung. Ohne, dass er Peter kannte und ohne mich mehr als ein Dreiviertel Jahr gesehen zu haben.

„Ne, da braucht man Statistik und du weißt, wie schlecht ich in Mathe bin", lehnte er ab. „Hast du verstanden, was ich dir sagen wollte?"

„Ja, ich bin behindert und Peter ist ein Engel", lachte ich unter Tränen.

„Genau das", er lachte auch, erleichtert darüber, dass ich noch lachen konnte. „Jetzt mal ehrlich. Nachdem dir jetzt klar sein sollte, dass Peter nicht falsch gehandelt hat, sollten wir lieber darüber reden, wieso dich dieser Satz so gekränkt hat. Du sagtest, du wärst enttäuscht gewesen. Noch mehr?", sah er mich fragend durch die Display-Kamera an.

„Es war so etwas wie Ablehnung. Als würde ich ihm nie genügen können, egal was ich veranstalten würde, um ihm zu gefallen. Ich werde ewig „nur" ein Teammitglied sein."

Max nickte. „Das alte Phänomen von früher. Hat dich das an irgendwas von früher erinnert? Du weißt, an deinen Vater? Oder auch an deine Mutter oder Julius?"

Julius war mein vier Jahre älterer großer Bruder, der seit einem Jahr fertiger Jurist war. Ich müsste länger überlegen, wann ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Vielleicht so vor drei oder vier Jahren?

„Nicht direkt. Es erinnert mich an etwas Krasseres. Ich habe es dir schonmal erzählt. Du weißt noch, der Klavier-Streit?"

Max nickte.

„Was mein Vater da gesagt hatte? Dass ich für ihn als Tochter gestorben sei?"

Da war ich vierzehn gewesen. Das Einzige, was ich wollte, war, weiter Klavier spielen zu dürfen. Aber das war gegen die Meinung meiner Eltern. Besser gesagt: gegen die meines Vaters. Eigentlich war es ihm die Sache an sich bestimmt sogar egal gewesen. Hauptsache, er konnte etwas kaputt machen, an dem mir viel lag. Wortwörtlich hat er meinen geliebten Flügel kaputt gemacht. Als Strafe, weil ich mich seiner Meinung widersetzt hatte.

Wieder nickte Max. „Nur, dass du jetzt das Gefühl hattest, dass Peter gesagt hat, dass du als Freundin für ihn gestorben seist? Also gestorben im Sinne von, dass eine Beziehung unmöglich ist?"

Ich fing wieder an zu weinen. Max hatte es erfasst. Mir war es bis jetzt nur noch nicht bewusst gewesen.

„Lolla. Jetzt kannst du weinen und es raus lassen, aber du musst mit ihm darüber sprechen, okay? Ich verstehe dich jetzt nur, weil ich die Geschichte von Anfang bis Ende kenne.
Und trotzdem habe ich meine Mühe, deine Reaktionen nachvollziehen zu können. Du verstehst dich ja selber nicht. Wie soll Peter dich da jemals verstehen?"

Ich konnte darauf nichts antworten, weil ich mir die Nase mit dem Taschentusch putzte.

„Ich sag dir mal, wie deine Reaktion bei uns Männern ankommt, ja? Bei uns einfach denkenden Geschöpfen, die schon normale Frauen kaum verstehen, also dich gar nicht."

„Ach, jetzt bin ich auch noch abnormal?", fragte ich ihn lachend unter Tränen. Max war einer der wenigen Ausnahmen, wo ich wirklich ganz normal sein konnte.

„Bist du. Definitiv. Im positiven wie im negativen Sinne.

Erste Situation: Du hast sehr seltsam reagiert, nachdem er dir die Hand aufs Bein gelegt hat. Bei ihm kam es an als: „Okay Peter, sie mag es nicht, wenn ich meine Hand auf ihr Bein lege, also lass ich es lieber."
Er hat es ja wieder gerettet, aber nur, weil er so klug war, aus deiner Reaktion danach - die selbst für dich, zumindest für die fast normale neue Lolla, krass war - die richtigen Schlüsse abzuleiten und dir gegenüber ganz vorsichtig zu reagieren und dir klarzumachen, dass er dich liebt. Ja, ich sage jetzt liebt. Reg dich darüber auf, wenn du willst, ist mir egal.

So, jetzt hattet ihr ja abgesprochen, dass ihr euch bei seiner Familie wie Freunde verhaltet, also hat er sich gar nichts bei dem Satz gedacht.
Zweite Situation: Er fragt, ob ihr zu ihm in die Wohnung gehen wollt. Die Message ist klar, die muss ich dir nicht erklären, du bist intelligent genug dafür. Er hätte dich nicht allein auf dem Sofa schlafen gelassen. Allein das zeigt dir doch, dass deine ganzen, mal wieder unnötigen, Gedanken überhaupt nicht zutreffen.
Jetzt sagst du aber: „Ne, ich möchte in meine Wohnung.
Denkt er sich als Mann: „Erster Dämpfer, sie will nicht zu mir, aber gut, dann gehen wir eben zu ihr."
Dann kommt meine Lieblings-Lolla wieder und sagt: „Ne, ich will alleine sein."
Denkt man sich als Mann: „Das hast du verbockt, Kumpel. Irgendwas hast du falsch gemacht." Lolla steigt aus, macht die Tür zu und gibt Peter nicht mal einen Abschiedskuss. Er denkt sich: „Gut, das scheint es von ihrer Seite aus gewesen zu sein."

Ich schaute ihn verdutzt an. „Aber...aber, das meinte ich doch gar nicht. Meinst du ernsthaft?"

Max nickte bestätigend. „Um in deinen Lieblingsworten zu sprechen: Ich denke mir das nicht aus."

Das hatte ich immer früher immer beim Lernen gesagt, wenn er mir irgendwas nicht glauben wollte, weil es ihm zu abstrakt erschien. Da hatte ich immer gesagt: „Das ist einfach so. Das denke ich mir nicht aus."

„Deshalb müssen du und Peter über die ganze Sache reden. Du musst ihm erklären, was mit dir manchmal los ist. Versprichst du mir das, Lolla?"

„Max, das kann ich nicht. Ich kann dir das nicht versprechen, weil ich das nicht kann."

„Mit mir hast du doch auch drüber gesprochen?"

„Ja, mit dir. Nach einem halben Jahr, frühestens. Denkst du, solange wartet Peter auf mich? Nach deiner Erläuterung sucht er sich doch eh schon eine Neue."

„Jetzt hör aber mal auf Lolla, du schreibst ihm morgen einfach, dass es dir Leid tut wegen gestern Abend und dass du dich gerne auf einen Wein oder Kaffee mit ihm treffen möchtest, um ihm etwas zu erzählen. Dann sagst du ihm alles, er küsst dich und meine Lieblings-Lolla ist wieder glücklich."

„Max, so würdest du das machen. Du kannst so etwas auch. Ich nicht. Kannst du nicht herkommen und mir helfen? Wir könnten aufschreiben, was ich sagen soll, und das lerne ich auswendig. Dann bekomme ich das hin."

„Das hätte jetzt nur die alte Lolla gesagt. Kommt nicht in die Tüte!" Max schüttelte bedauernd den Kopf. „Sorry, aber ich kann nicht einfach so kommen, so spontan. Auch wenn ich dich unbedingt wiedersehen muss." Er dachte einen kurzen Moment nach. „Dann redest du eben nicht morgen mit ihm, sondern wartest erstmal ein paar Tage ab. Vielleicht schreibt er dir ja auch von sich aus.

„Alles klar, so mache ich das", stimmte ich ihm erleichtert zu. Jetzt hatte ich wenigstens einen Plan. „Max, danke! Ernsthaft."

„Du musst dich nicht bedanken, Lolla. Dein Psychologe ist dir immer zu Diensten. Mach's gut und lass dich nicht unterkriegen. Halt mich auf dem Laufenden! Ich hab dich lieb, du Verrückte."

„Ich dich auch, Pseudo-Psychologe. Mache ich, bis bald", antwortete ich und drückte auf den roten Hörer am unteren Bildrand, um aufzulegen.

Das Gespräch musste ich erstmal verdauen.

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