Kapitel 15

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Peter meldete sich nicht.

Mittlerweile waren seit dem Samstag, an dem wir uns das letzte Mal gesehen hatten, zwei Wochen vergangen. Morgen war das Wochenende, an dem ich Thomas helfen sollte. Ich hatte allerdings immer noch nicht in Erfahrung gebracht, ob die Sportler da waren oder nicht. Deshalb wusste ich nicht, ob ich mich auf morgen freuen oder Angst haben sollte.

Die ersten zwei Tage nach dem Gespräch mit Max gingen noch. Ich hoffte darauf, das Peter mir schrieb und wartete ab. Dabei achtete ich darauf, immer wenn es ging, mein Handy auf laut zu stellen, damit ich bloß keine Nachricht verpasste.
Der einzige Prevc, der mir schrieb, war aber Domen, der berichtete, dass die Mathearbeit recht gut gelaufen sei. Peter ließ nichts von sich hören, aber ich tröstete mich damit, dass ja noch kaum Zeit vergangen war.

Nach drei Tagen fing ich an, mich beim Lernen nicht mehr ordentlich konzentrieren zu können, wenn mein Handy neben mir lag, weil ich ständig versucht war, zu gucken, ob er mir geschrieben hatte.

Aber es kam nichts. Nach einer Woche wollte ich mich nicht mehr ständig ablenken lassen und machte mein Handy bewusst auf lautlos oder ganz aus. Falls er mir schrieb, wollte ich es nicht während des Lernens lesen, um meine Konzentration nicht wieder zu verlieren.

Das funktionierte bis zum Ende der ersten Woche noch ganz gut. Dann wurde ich schier verrückt, ich wusste nichts mehr mit mir anzufangen. In Seminaren und Praktika wurde ich immer unruhiger und gefühlt alle fünf Minuten schaute ich auf mein Handy.
Ich war absolut sauer auf mich selber, dass ich mich so unreif verhielt und es nicht hinbekam, ihm selber zu schreiben. Gleichzeitig war ich aber auch unendlich enttäuscht, da ich wirklich gedacht hatte, dass es zwischen Peter und mir Mehr ist. Dass er sich überhaupt nicht mehr meldete, nicht mal, als Domen eine 3+in Mathe bekam, hatte ich nicht erwartet. Und war im Inneren einfach nur traurig.

Ja, traurig war das passende Wort.

Nun, einen Tag vor dem vermeintlichen Wiedersehen, empfand ich es als zu spät, um mich jetzt kurz vor knapp für mein Verhalten zu entschuldigen. Allerdings wusste ich auch nicht, wie ich mich verhalten sollte, würde ich ihn wirklich morgen sehen.

Diese Nacht lag ich lange wach, stand zweimal auf, um mir heiße Milch mit Honig zu machen - das machte meine Oma immer so - aber selbst davon konnte ich nicht schlafen.

Die ganze Sache bewies mal wieder, dass ich noch nicht so weit war, wie ich es gedacht hatte. Mit Max wollte ich aber auch nicht darüber reden. Erstens schlief der mit Sicherheit um zwei Uhr nachts und zweitens, er war nicht mehr da, um mir zu helfen und ich konnte nicht von ihm erwarten, dass er mir ständig die Hand hielt.

Samstagmorgen um 7 Uhr

Zumindest konnte ich gut aufstehen, durch das Adrenalin, was ich jetzt schon im Körper hatte. Mein Nebenierenmark arbeitete auf Hochtouren und so hatte ich wenigstens Zeit, mich physisch und psychisch auf das Kommende vorzubereiten.
Nach einer ausführlichen Dusche - ich fühlte mich komischerweise kaum müde - stand ich nun vor meinem Kleiderschrank und überlegte, was ich anziehen sollte. Zwar würde ich - wie es bei Thomas Standard war - später einen Kittel tragen, einfach aus hygienischen Gründen, falls man Blut und ähnliches abnahm. Trotzdem wollte ich darunter ordentlich aussehen. Wenn schon mein Inneres ein Chaos war, dann musste das nicht auch noch mein Äußeres sein. Ich schaute durch die Pullover und Sweatshirts, als mir ein mittlerweile vertrauter dunkelgrüner Pulli in die Hände fiel.

Sanft strich ich über die weiche Baumwolle. Den hatte er mir in der ersten Nacht gegeben.

Auf einmal überkam mich die Verzweiflung. Ich presste den Pullover an mein Gesicht und atmete tief Peters schwachen Geruch ein. Mir lief eine Träne über die Wange, ich konnte nichts gegen sie machen. Sie kam von Innen heraus. Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn so sehr vermissen würde.

Wieso hatte ich mich nicht bei ihm gemeldet? Und er sich nicht bei mir?

Schweren Herzens legte ich seinen Pullover wieder in den Schrank zurück, zog mir eine dunkelblaue Jeans, meinen grauen Glückspullover mit dezentem V-Ausschnitt, den ich auch im Matheabi und zu wichtigen Klausuren im Studium anhatte, und blau-graue Socken mit lustigen Schneemännern an. Meine Haare flocht ich mir zu einem Bauernzopf, denn ich mochte es nicht gerne, mit offenen Haaren zu arbeiten. Hatte man sterile Handschuhe an, konnte man sich nicht mal eben Strähnen aus dem Gesicht streichen, wenn sie einen nervten.

Relativ zufrieden mit meiner Kleiderauswahl, denn der Pullover hob meine grauen Augen hervor, setzte ich mich an den Küchentisch und frühstückte. Während ich meine Tasse ansetzte, um Kaffee zu trinken, nahm ich reflexartig mein Handy in die Hand und öffnete WhatsApp. Und schüttete fast den Kaffee über den Tisch.

„Wir sind heute bei Thomas zu so einer Leistungsuntersuchung. Ist meine Lieblings-Mathenachhilfe auch da?", hatte Domen mir geschrieben.

Und wenn Domen da war, war Peter mit Sicherheit auch da.

„Klasse Lolla", verspottete ich mich selber, „beste Zeit, um mal wieder alles in Sand zu setzten."

Ich sollte nicht so pessimistisch sein, das wusste ich, aber ich konnte nicht anders. Nicht, nachdem ich das mit Peter so vergeigt hatte.

Es musste doch mal gehen, dass ich mich zusammen riß! Oder nicht? Immerhin bekam ich die Möglichkeit, ihn zu sehen und vermutlich auch mit ihm zu reden.

Kurze Zeit später fuhr ich mit dem Bus ins Untersuchungszentrum - ja, ich sollte mein Fahrrad langsam mal endlich reparieren lassen - und war froh, dass ich heute zumindest nicht zu spät kommen würde.

Was sollte ich zu Peter sagen, wenn ich ihn sähe?

Es wäre so viel einfacher gewesen, hätte er sich entschuldigt oder mir wenigsten geschrieben, dann hätte ich darauf regieren können. So stand ich mit leeren Händen da, denn ich sah mich nicht in der Stellung, mich zu entschuldigen, schließlich hatte ich diesen Satz nicht gesagt.

Okay, das war auch nicht ganz fair von mir, schließlich hätte ich mich für meine Reaktion entschuldigen müssen, dachte ich, während ich aus dem Fenster schaute, meinen Kopf an die Scheibe lehnte und die Häuserfassaden an mir vorbei rauschten.

Bevor ich zu einem Entschluss kommen konnte, war ich auch schon da und stieg aus. Als ich vor der großen, nur angelehnten Eingangstür stand, sah ich auf dem seitlich angrenzenden Parkplatz Peters Auto. Er war also bereits da.

Das Gebäude war noch mindestens genauso beeindruckend wie beim ersten Mal und meinem wunderbaren Orientierungssinn hatte ich es zu verdanken, dass ich mich viermal verlief beziehungsweise die falsche Abzweigung nahm, bis ich endlich das Untersuchungszimmer erreicht hatte.

„Ich dachte schon, ich müsste die ganze Arbeit alleine machen", hörte ich von rechts kommend Thomas Stimme auf Deutsch. „Wir sind heute in dem großen Trainingsraum. Lass mich raten, du hast kaum den Raum wiedergefunden?". Er lachte, als ich nickte. „Du willst gar nicht wissen, wie oft ich mich hier am Anfang verlaufen habe."

„Da bin ich aber erleichtert. Tut mir Leid, dass ich so lange gebraucht habe".

Thomas winkte nur ab.

„Wer hat denn hier Geheimnisse auf Deutsch auszutauschen? Ich hoffe, ihr redet nicht über mich", hörte ich von hinten eine vertraute, übermütige Stimme. Rasch drehte ich mich um, wurde aber schon halb umgeschmissen.

„Domen!", rief ich lachend und umarmte ihn. Eher: ließ mich halb umbringen, da Domen es irgendwie missachtete, dass Knochen auch brechen konnten.

„Du weißt schon, dass ich Rippen habe oder?"

„Rippen, was sind das?"

Thomas drehte sich um und hielt eine Glastür zu einem sehr großen Raum auf, der eher wie ein Trainingsraum aussah mit vielen Ergometern und tausend Kabeln dazwischen. Das würde eine Herausforderung sein, dort nicht zu stolpern und mich lächerlich zu machen. Gut, dass ich mir meine Turnschuhe und nicht die Stiefeletten angezogen hatte.

„Domen, würdest du bitte Lolla am Leben lassen? Ich brauche sie heute noch. Kommt endlich rein, ihr beiden!"

Ich beeilte mich reinzugehen und sah, dass die Skispringer in Sportsachen waren und sich auf die Ergometer gesetzt hatten. Schnell schaute ich im Raum umher und zählte 10 Sportler. Peter war ungefähr diagonal gegenüber von mir in der anderen Ecke des Saals, ich vermied es aber noch, direkten Blickkontakt mit ihm aufzunehmen.

„Hallo alle zusammen", begrüßte Thomas die Versammelten, während Urban, der Physio, auch zu uns stieß. „Lolla, was denkst du, habe ich heute mit den Jungs vor?" Thomas sah mich fragend an und war ins Slowenische gewechselt.

„Sieht mir nach Leistungsmessung auf dem Ergometer aus. Wahrscheinlich Belastungs-EKG, Lactat-Messung, das alles mit Atemmaske?"

„Haben alle zugehört?" Einstimmiges Murmeln. „Gut, ihr kennt das Prozedere ja. Da ich euch schon so aufgeteilt habe: Lolla übernimmt die drei vorderen, Urban die drei in der Mitte und ich die hinteren vier."

Thomas wand sich mir zu: „Die Atemmasken senden die Daten automatisch an den Server, da musst du nichts machen. Nur EKG anschließen und wir messen ab der 5 min alle zwei Minuten Lactat, den Wert musst du handschriftlich aufschreiben. Du hast das schonmal gemacht, oder?"

Lactat messen war nicht schwer. Man pikste einfach mit einer vorgefertigten kleinen Nadel ins Ohrläppchen, was kaum wehtat - ich hatte es selber aus Neugierde ausprobiert - und es bildete sich dann ein kleiner Tropfen Blut. Den fing man mit einem länglichen Teststreifen auf, schob ihn in ein Gerät und las den Wert ab. Fast genauso wie beim Blutzucker messen. Und das musste ich schon tausende Male machen.

Also nickte ich. „Bis wie viel Watt geht ihr denn hoch? Wir haben gelernt, dass das unterschiedlich ist. 300 Watt?"

„Unsere Ergometer sind alle programmiert und gehen bis 350 Watt hoch. Das hängt auch mit der Zeitdauer zusammen, wie lange man eine Belastungsstufe eingestellt lässt. Noch Fragen?"

Da ich zwar überlegte, mir aber nichts mehr einfiel, schüttelte ich schnell den Kopf und ging zu den mir zugeteilten Sportlern. Ich hatte es mit Timi, Tilen und Domen sehr gut getroffen, da ich die drei schließlich schon kannte und mit ihnen klarkam.

Am Anfang quatschten die Jungs zwar noch, aber je höher die Belastung wurde, desto stiller wurden sie. Ich konnte es ihnen direkt ansehen, wie anstrengend es wurde. Auch die Lactat-Werte gingen hoch.
Beim Vergleich fiel mir auf, dass Domens und Tilens ungefähr ähnlich waren, Timi's etwas höher. Meiner Theorie nach war das aber verständlich, schließlich war er noch jünger als die anderen beiden, die ihm mit Sicherheit auch etwas an Kraft- und Ausdauertraining voraus hatten.

Da ich die ganze Zeit beschäftigt mit Messen und Daten aufschreiben war, bekam ich überhaupt nicht mit, wie schnell drei Stunden vergangen waren. Was auch gut war, da ich mir keine Gedanken um Peter machen konnte. Ich hatte zwar eine Messung verhauen, da ich die Werte durcheinander bekam, aber es war zum Glück nicht so schlimm.
Thomas hatte mit mir zwischendurch die Daten noch angeschaut und gefragt, was ich daraus ableiten würde. Und im Vergleich fiel tatsächlich auf, dass Peters Werte in allen Bereichen die Besten waren. Das würde ihn bestimmt freuen, schließlich trainierte er wirklich hart und hatte im Trainingslager ja oft sogar noch Extrarunden eingelegt.

Während ich darüber nachdachte, fiel mir auf, dass die Sportler dabei waren, den Raum zu verlassen.

Lolla, du hast noch kein Wort mit Peter geredet!

Ich hatte Peter noch nicht einmal Hallo sagen können. Geschweige denn zu fragen, ob es zwischen uns noch irgendwas gab.

Oder ob die Momente und die paar Küsse nicht mehr als das gewesen waren. Quasi zum Vergessen. Augenblicke, die der Wind schnell wieder verwehte. Wie Sandkörner im Sturm.

„Lolla?", riss mich Thomas aus meiner Grübelei. „Du siehst aus, als würdest du gerne gehen. Willst du einen der Jungs noch erwischen?"

„Ähm...", ich war unglaublich schlecht im Lügen und mir fiel gerade keine passende Ausrede ein. „Nein, ich..."

Er lachte, vermutlich hatte ich einen total bescheuerten Gesichtsausdruck. Auf einmal sprach er ganz leise, obwohl außer uns keiner mehr im Raum war. Und er sprach Deutsch.

„Peter hat mich heilig schwören lassen, dass ich es keinem erzähle, als er mich nach deiner Adresse gefragt hat. Aber ich kann mir denken, wieso er sie haben wollte. Also schnapp dir deinen Rucksack und lauf hinterher."

Vertraut zwinkerte Thomas mir hinter seiner Brille zu und ich war ihm sehr dankbar in diesem Augenblick. Er gab mir die Chance, hier zu lernen, dafür noch bezahlt zu werden und ließ mich früher gehen.

„Dankeschön, hat Spaß gemacht heute!", rief ich ihm zu, während ich schon zum Ausgang joggte.

„Ich schreib dir eine Email. Und euch viel Spaß noch", rief er mir hinterher.

Was Thomas wohl dachte, wenn er uns Spaß wünschte? Ich wollte es gar wissen. Schließlich war es mit Peter und mir und „Spaß" nicht ganz so wie in seiner Vorstellung wahrscheinlich.

Die Skispringer schienen schon rausgegangen zu sein, denn als ich zum Ausgang lief, sah ich keine Menschenseele. Und zumindest Domen und Cene wären nicht zu überhören gewesen, da war ich mir sicher.

Wehe, ich hatte sie jetzt doch verpasst und sie waren schon weggefahren.

Ich stieß die schwere Eisentür auf, lief rechts um die Ecke zum Parkplatz und blieb stehen, um die Lage zu überblicken. Da waren eindeutig drei Brüder in Richtung ihres Autos unterwegs. Sie waren die Letzten auf dem Parkplatz.

„Peter, warte!", rief ich und lief wieder los.

Natürlich drehte sich nicht nur der Angesprochene um, sondern alle drei Brüder gleichzeitig.

„Heißt ihr etwa Peter?", murmelte ich. Das war mir nun schon etwas peinlich.

„Geht schonmal zum Auto vor! Ich komme gleich nach", wies Peter die anderen Beiden an, wobei Domen das gar nicht lustig zu finden schien.

„Du bist nicht meine Mutter!", protestierte er.

„Domen!" Peter sah ihn scharf an und Domen drehte sich maulend um in Richtung Auto. Anscheinend wusste der Jüngste, wann er verloren hatte.

Mein Kopf fühlte sich an wie Brei. Wieso konnte ich nichtmal dann etwas Schlaues produzieren, wenn ich es brauchte?

„Hey", sagte ich verlegen, denn ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte.

„Was möchtest du, Lolla?" Seine forsche Stimme überraschte mich. Damit hatte ich nicht gerechnet.

„Peter, ich...", ich machte eine Pause und wusste nicht, was ich sagen sollte. Gott, ich war doch sonst nicht so ein stummer Hecht! Wieso hatte ich mir kein Konzept zurechtgelegt?

Peter nahm meinen Arm und zog mich in Richtung der Gebäudemauern zu einem alten Türvorsprung, wo eine Art Nische war. Was das sollte, wusste ich nicht so genau.

„Muss ja nicht jeder auf dem Silbertablett mitbekommen", beantwortete er meine unausgesprochene Frage. „Also?", sah Peter mich fragend an. „Ich höre"

Was wollte er von mir hören?

„Lolla, ich habe eine Fragen an dich: War das Ganze hier nur ein Spiel für dich? Ein bisschen rumknutschen mit einem Sportler? Oder liegt dir irgendwas Ernstes daran?"

Also, das war jetzt nichts, was ich mit einem Satz beantworten konnte. Vor allem, weil er mich so direkt ansah.

Er redete weiter: „Denn wenn es das für dich ist oder war, dann kannst du das vergessen. So eine Art von Mensch bin ich nicht und werde es auch nie werden."

Ich war völlig überrumpelt, konnte es nicht fassen, was er von mir dachte.

„Peter, ich... Nein, es war kein Spiel für mich", brachte ich mühsam hervor, konnte ihm aber kaum in die Augen blicken, weil es viel zu schmerzhaft war, dieses wunderschöne Grün mich so - nicht direkt sauer, aber schon vorwurfsvoll - anblicken zu sehen.

„Bist du mir deshalb hinter her gelaufen? Das wars? Das war deine Aussage? Wow, und da sagen die Medien immer, ich sei kein Mensch der großen Worte", kopfschüttelnd machte er einen Schritt vor.

„Okay Lolla, dann mach es gut, wenn du nichts Weiteres zu sagen hast. Domen und Cene warten."

In der Ferne sah ich Domen in unsere Richtung laufen. Peter drehte sich zum gehen um und entfernte sich einige Meter.

Ich war wie erstarrt.

Auf einmal bewegten sich meine Beine wie von selbst, ich lief ihm hinter her und überholte ihn.

„Lolla, was...", weiter kam er nicht, denn ich hatte mich auf Zehenspitzen gestellt, meine Arme in seinem Nacken verschränkt und küsste ihn verzweifelt, mit einer Wucht, die ich selber nicht von mir kannte.
Den allerersten Moment schien er total verwirrt zu sein, aber dann erwiderte er meinen Kuss und nahm mein Gesicht in die Hände. Atemlos löste ich mich von ihm.

„Wofür war das jetzt?", grinste Peter mir verschmitzt zu und strich mir mit dem Daumen über die Wange.

Ich schloss die Augen, denn ich hatte dieses Gefühl so lange vermisst. Diese zwei Wochen hatten mich fast zum Verzweifeln gebracht.

„Oder war das ein Bestechungsversuch, damit ich dir verzeihe, dass du dich kein Mal gemeldet hast?"

„Manchmal sind Taten besser als Worte", antwortete ich und nun beugte sich Peter runter, um mich lange zu küssen. Seine Lippen schmeckten leicht salzig, vermutlich noch von der Leistungskontrolle. Ich legte meine Hand auf seine Brust, fühlte seinen weichen Pullover, den er unter der geöffnete Jacke trug. Er strich mir meine Haare aus der Stirn und hätten Peters Lippen meine nicht gerade gefangen gehabt, hätte ich mit Sicherheit geseufzt.

„Alter, nehmt euch ein Zimmer", hörte ich plötzlich Domens energische Stimme.

Peter und ich fuhren überrascht auseinander.

„Ihr seid ja auch noch da?", staunte Peter.

„Du hast den Autoschlüssel", bemerkte Domen. „Ihr wisst schon, dass ihr hier in der Öffentlichkeit seid oder?"

„Siehst du hier auf dem Parkplatz bitte irgendwelche Kameras, kleiner Bruder?"

„Ich bin schon auf deine Erklärung gespannt, wenn du Lolla mit nach Hause bringst. Dad wird dir das die nächsten fünf Jahre noch vorhalten, dass Lolla vielleicht doch ein kleines bisschen mehr ist als nur ein Teammitglied!"

Da war wieder die verhasste Aussage. Aber ich dachte an das Gespräch mit Max zurück und sagte leicht ironisch zu Peter: „Aber nur ein ganz, ganz kleines bisschen, was?"

Er sah mich verwirrt an. „Warte, war das der Grund für die Funkstille?", fragte er mich mit großen Augen.

„Was für eine Funkstille?", redete Domen dazwischen, aber Peter ignorierte ihn einfach.

Schulterzuckend sah ich auf den Boden. Ich hatte nicht so richtig Lust, jetzt hier auf dem Parkplatz darüber zu reden. „Kann sein."

Peter sah mich prüfend an und ich hätte mich am liebsten wie ein Aal aus diesem Blick gewunden. Irgendwie schien es, als würde er merken, dass mehr dahinter steckte.

„Man Leute, was ist denn jetzt? Wir können Lolla doch einfach mitnehmen, Peter, dann hast du sie immer noch und wir können endlich los. Langsam wird es echt kalt hier."

Peter griff in seine Hosentasche und holte den Autoschlüssel raus. Verwundert sahen Domen und ich ihn an.

„Wenn du jetzt einen Unfall baust, sitze ich zumindest nicht drin", sagte er schmunzelnd und gab Domen die Schlüssel. „Ich bleibe in der Stadt. Fahr nicht so schnell. Mum wäre nicht begeistert, wenn ihr Auto nachher Schrott ist. Oder lass Cene fahren."

„Krass, das ist cool", freute sich Domen, drehte sich schon wieder um und wollte in Richtung des Autos laufen.

„Hey Domen!", Peter hielt ihn am Arm fest. Ich blieb im Hintergrund stehen, da ich keine Ahnung hatte, was Peters Plan war. „Das, was du hier gesehen hast...", da wurde er schon unterbrochen.

„Was hab ich gesehen?", tat Domen scheinheilig.

Peter stöhnte auf. „Boah Domen. Falsche Zeit, um kindisch zu sein. Ich meine, das mit Lolla und mir. Das bleibt unter uns, ist das klar? Wehe, du sprichst mit Mum und Dad darüber oder mit irgendwem anders. Das gilt für Cene genauso. Alles klar?"

Domen verdrehte genervt die Augen. „Lolla, sag ihm mal, dass er sich entspannen soll."

Ich hob nur abwehrend die Hände, ich würde mich da raus halten, fände es aber auch gut, wenn das Ganze nicht an die große Glocke gehangen würde. Schließlich hatten Peter und ich immer noch nicht geklärt, was zwischen uns war.

„Ne, ist klar, Peter. Ich sag's Cene. Keine Angst, mache ich wirklich", verstärkte er seine Aussage, da Peter ihn misstrauisch ansah. „Was soll ich denn Mum sagen, dass du nicht kommst? Oder kommt ihr nach?"

„Sag einfach nur, dass ich in meiner Wohnung mal wieder alle Sachen auf Vordermann bringen wollte."

Domen nickte und umarmte mich zum Abschied. „Hilf Peter mal, sich ein bisschen zu entspannen", zog er mich auf und ich boxte ihm als Strafe in den Bauch, aber er verzog nichtmal die Miene.

„Lass sie leben!", grinste er seinen großen Bruder an, schlug Peter auf die Schulter und ging zu Cene, der sich das alles aus einer sicheren Entfernung angeschaut hatte.

„Wenn ich höre, dass du was rum erzählt hast, dann löse ich dir nächste Saison die Bindungen. Und zwar vor deinem Sprung", rief Peter ihm drohend hinterher.

Dann drehte er sich zu mir um und lächelte. „Lass uns erstmal von diesem Parkplatz runter", schlug er vor. „Hast du dein Fahrrad hier?"

„Ne, das hat immer noch einen Platten. Ich bin mit dem Bus gekommen."

„Sehr gut, dann können wir ja etwas Spazierengehen. Wollen wir am Fluss entlang?"

Ich nickte und wir gingen eine Weile nebeneinander her, ohne das jemand etwas sagte. Man merkte, das Samstag um die Mittagszeit war, denn außer uns waren kaum Menschen auf der Straße. Wahrscheinlich saßen alle in ihren warmen Häuser am Esstisch.

Vorsichtig betrachtete ich Peter von der Seite.

„Peter?" Irgendwie musste ich ja anfangen.

„Lolla?" Er schaute mir in die Augen. Wieso schaffte er es immer, mich aus dem Konzept zu bringen?

„Also ich weiß ja nicht, aber..., also wenn du jetzt nicht drüber reden willst, kann ich das verstehen, aber, weißt du, ich kann das nicht so richtig ausdrücken, deshalb... also was ich sagen wollte..."

„Magst du so reden, dass ich dich auch verstehe?" Er schmunzelte über mein Rumgedruckse.
„Ich finde es ja süß, aber so wirst du nicht weit mit deiner Frage kommen."

„Ey", beschwerte ich mich und gab ihm einen Klaps auf den Arm. „Das ist nicht witzig, mich so auszulachen."

„Doch."

„Nein."

„Doch."

„Warst du sauer auf mich? Und wieso hast du geglaubt, dass es ein Spiel für mich sei?" Ha, jetzt hatte ich die Kehrwendung geschafft und hatte einmal klar und präzise formuliert, was ich wollte.

Ich war gerade dabei, mir innerlich selber auf die Schulter zu klopfen, als Peter antwortete: „Ja Lolla, ich war sauer auf dich. Ich erkläre dir auch wieso, wenn du das möchtest."

Ich nickte. Wieso war er so klar bei dieser Sache und ich nicht? Hatte ich meine Gefühle und Gedanken so wenig unter Kontrolle?

„Ich war sauer auf dich, weil du es immer schaffst, mich abblitzen zu lassen, sodass ich da sitze und keine Ahnung habe, wieso. Und jedes Mal fühle ich mich, als hätte ich alles falsch gemacht und wäre ein totaler Trottel.
Du lässt mich absolut im Dunkeln tappen, wobei ich nicht weiß, ob das absichtlich oder unbewusst von dir ist. Ich konnte in den zwei Wochen an nicht viel anderes denken als an dich und was ich wohl falsch gemacht haben mag. Für mich hat es sich angefühlt, wie dieses Katz und Maus Spiel. Und darüber war ich sauer. Verständlich die Erklärung?"

Meine Gedanken überschlugen sich etwas, wobei „etwas" stark untertrieben war.

Wie konnte ich, Lolla, es schaffen, dass Peter sich wie ein Trottel fühlte? Das war absurd.

„Bist du jetzt immer noch sauer auf mich?", fragte ich ihn zaghaft.

Wo war eigentlich die schlagkräftige Lolla geblieben, wenn man sie brauchte?

„Hm, also erklären musst du es mir irgendwann schon", Peter sah mich schräg von der Seite an und seine Augen blitzten förmlich vor Übermut. Anscheinend gewann er gerade richtig Spaß an unserer Unterhaltung. „Sagen wir mal so: Der Kuss hat schon ein bisschen was wieder gut gemacht."

„Und damit willst du was andeuten? Wir sind hier in der Öffentlichkeit. Du hast Domen gehört!"

„Lolla, deine Vorsicht in aller Ehren, aber sieh dich mal um. Siehst du auch nur einen Menschen außer uns auf der Straße?"

Ich blieb stehen und sah mich um. Tatsächlich. Keine Menschenseele. Jetzt musste ich grinsen und legte Peter meine Hand in Nacken, zog ihn zu mir runter und fing an, ihn zu küssen.

„Besser so?", fragte ich, als sich unsere Lippen einen kurzen Moment voneinander lösten.

„Also es wird langsam besser, aber nur ganz, ganz langsam", antwortete er schelmisch grinsend, zog mich in einen erneuten Kuss und ich musste mich zusammenreißen, mich nicht zu kneifen.

Ich hatte dieses Lächeln so sehr vermisst.

Die ganze Zeit, in der ich auf mein Handy gestarrt und mir gewünscht hatte, dass er anrief. Oder auf einmal vor der Tür stand und mich so anlächelte, wie gerade eben. So, wie mich noch kein Mensch vorher angesehen hatte.

Lachend löste ich mich von ihm. „Du weißt schon, dass ich am Erfrieren bin, oder? Wie wäre es, wenn wir die Wiedergutmachung irgendwo ins Warme verlegen? Außerdem fängt es mittlerweile an zu dämmern", stellte ich fest.

Passend zu meiner Aussage fielen genau in diesem Moment auch die ersten Regentropfen. Wie ich dieses Wetter verabscheute.

Da merkte ich, wie sich eine große warme Hand in meine schob und Peter seine Finger mit meinen verschränkte. Glücklich lächelte ich zu ihm hoch. Dafür ertrug ich sogar Regen, wenn es sein musste.

Auf einmal blieb Peter ruckartig stehen. „Wo sind wir eigentlich?"

„Ähm, ist das gerade dein Ernst?", ich sah ihn ungläubig an. „Dir ist schon klar, dass ich keinen blassen Schimmer habe oder? Ich gehe hier zum ersten Mal lang."

„Nein, es ist nicht mein Ernst", lachte Peter über mein entsetztes Gesicht, zu dem sich mittlerweile meine Haare anfingen zu kräuseln und ich vermutlich wiedermal einem Pudel glich.

„Du bekommst das alles zurück, mein Lieber", schmollte ich. „Das ist Karma. Also was ist dann der Plan, wenn du weißt, wo wir sind?"

„Da wir ja eigentlich zum Fluss wollten, ist meine Wohnung einen und deine so sechs Kilometer entfernt. Ich würde sagen, der Plan ist klar, oder? Zumindest, bis der Regen aufgehört hat." Er zog mich mit seiner Hand nach vorne. „Komm, lass uns ein bisschen beeilen, sonst sind wir gleich pitschnass und erkälten uns. Dann schimpft Thomas mit uns beiden." Peter fing an zu joggen und zog mich wohl oder übel an der Hand mit.

„Als ob ich mit deinen langen Beinen mithalten kann", beschwerte ich mich, und fing an, neben ihm her zu laufen, genau in dem Moment, als es anfing zu hageln und es in der Ferne leise grummelte am Himmel.
Wir liefen eine gefühlt endlos lange Straße entlang und die Blätter auf dem Boden machten das Ganze nicht unbedingt besser. Wenn wir nicht aufpassten, rutschte noch einer aus und verletzte sich womöglich.

Mittlerweile rannten wir nebeneinander her. Man merkte deutlich, dass Peter Sportler war und ich nicht. Mein Atem ging stoßweise und ich hatte bestimmt jetzt schon einen roten Kopf, während Peter neben mir eigentlich recht entspannt aussah.
Bis auf die Hagelkörner und das Wasser, welches ihm in die Haare lief und unter den Schuhen aufspritzte. Meine Jacke war auch schon völlig durchnässt und meine Jeans lag eher wie einer zweite Haut an meinen Beinen. Wie so ein Taucheranzug. Wie ich nasse Kleidung am Körper hasste.

„Wie weit ist es denn noch?", keuchte ich. Lange würde ich das Tempo nicht mehr durchhalten.

„Eine Ecke noch". Ich riss mich nochmal zusammen und dankte Gott, an den ich nicht glaubte, dafür, dass das Haus nicht noch weiter entfernt war.

„Meine Güte, vielleicht solltest du mich mal mit zum Training nehmen. Meine Beine sind wie Wackelpudding", stöhnte ich, während wir im sicheren, trockenen Hauseingang standen und Peter seinen Haustürschlüssel rausholte. Ich schüttelte meine Jacke aus und versuchte, mir das Wasser aus dem Zopf zu wringen.

„Mache ich gerne. Freu dich aufs Krafttraining, Lolla. Dann schaffst es vielleicht sogar mal, meinen Kopf zum Küssen runterzuziehen", neckte er mich und sah mich über seine Schulter hinweg an. Ich wurde natürlich wieder rot, aber zumindest hatte ich meine Sprache wiedergefunden.

„Ich würde an deiner Stelle deine Zunge mal ein bisschen im Zaum halten, sonst verrate ich dir nicht, dass deine Werte heute mit Abstand die besten von allen waren." Zum Glück hatte ich von der medizinischen Seite aus noch ein paar Geheimwaffen im Köcher.

Im nächsten Moment wurde ich durch die Luft gewirbelt, während ich mich nur krampfhaft versuchte, an Peters Hals festzuhalten und nicht durch die Luft zu fliegen, indem ich meine Hände in seinen Pullover und den Jackenkragen klammerte.

„Peter, was soll der Mist? Lass mich runter!", lachte ich, angesteckt von seinem Übermut. „Echt jetzt, mir wird schlecht."

Das schien zu ziehen und er ließ mich runter gleiten, hielt mich aber immer noch in seinen Armen fest. „Stimmt das? Waren es echt die Besten oder sagst du das nur so?"

Wir waren uns so nah, dass ich seine zwei kleinen Leberflecken am Kinn sehen konnte. Wie gut er einfach aussah.

„Als ob ich mir das ausdenken würde", murmelte ich und verdrehte leicht die Augen. „Willst du mir jetzt eigentlich noch deine Wohnung zeigen und Tee kochen oder bleiben wir für immer im Hauseingang stehen?"


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