Kapitel 38

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Thomas' Sicht

Im schlimmsten Fall war es eine Einblutung in den Sinus Maxillaris (Oberkieferhöhle), überlegte ich, als ich mir die Aufnahmen ansah, die Dr. Edvardsen, der norwegische Teamarzt, mir von einem Kopf-MRT geschickt hatte. Dabei handelte es sich aber nicht um einen Skispringer, sondern um einen Patienten der Praxis, die er in Oslo hatte.

Die Tür öffnete sich und Lolla kam herein. Ich hatte ihr heute morgen beim Frühstück gesagt, dass sie um 10 Uhr kommen sollte, auch wenn wir erst zum Trainingsstart um 14.00 Uhr an die Schanze gehen würden.
Doch irgendwie sah sie nicht gesund aus, zumindest sagten mir das meine mittlerweile erfahrenen Medizineraugen. „Alles klar? Geht es dir gut, Lolla? Du siehst blass aus." Schließlich hatte ich als Teamarzt nicht nur die Verantwortung, dass die Skispringer gesund waren, sondern auch das Team.

„Mir ist irgendwie schon wieder übel", brachte sie hervor. Hoffentlich hatte sie keinen Magen-Darm-Infekt oder Helicobacter pylori, der sich im Lager ausbreiten würde. Im Studium war man schließlich oft in der Klinik und wo viele Menschen waren, waren auch viele Keime.

„Hast du etwas Falsches gegessen?", fing ich routinemäßig an, sie abzufragen. Ich hatte zwar meinen Facharzt in der Orthopädie gemacht, aber als Arzt eines Sportteams war man gleichzeitig auch Internist, Radiologe und Allgemeinmediziner. „Dir war doch gestern im Flugzeug auch schlecht oder?"

Lolla nickte: „Die Tage davor auch schon öfters. Aber nur morgens, danach war alles gut. Ich hatte auch weder Diarrhö (Durchfall) noch sonstige Symptome eines Magen-Darm-Infekts. Ich weiß, was du jetzt denkst, Thomas", lächelte sie mich schwach an. „Du beglückwünscht dich gerade selber, dass du mich mitgenommen hast und...". Mitten im Satz brach sie ab und rannte schnell nach draußen auf den Flur. Höchstwahrscheinlich zur Toilette. Seufzend beschloss ich, sie gleich zu untersuchen.

Zehn Minuten später kam sie wieder. „Keine Symptome, was?", fragte ich in lockerem Tonfall und bedeutete ihr, sich auf die Liege zu legen. „Erbrochen?"
Wieder nickte sie, während ich das Ultraschall-Gel auf ihrem Bauch verteilte und mir dann nacheinander Leber, Magen und Gallenblase anschaute. Man konnte ihre Organe ähnlich wie bei den Sportlern sehr gut erkennen. Auch das ein Grund, wieso ich diesen Job so gerne mochte.
In der durchschnittlichen deutschen Hausarztpraxis konnte man durch Ultraschall bei mindestens der Hälfte der Patienten wenig erkennen, weil das Übergewichtsproblem einfach so groß war und desto mehr Fett vor den Organen angelagert war, desto ungenauer wurde das Bild. Hier bei Lolla erkannte ich nichts Außergewöhnliches. Erleichtert - etwas Akutes wie zum Beispiel eine Gallenblasen-Kolik wäre nicht gut gewesen - wischte ich das Gel ab.

Lolla sah auch schon wieder munterer aus und ihre Wangen bekamen ihre Farbe zurück: „Darf ich nachher auch mal schallen? Wir hatten letztens erst U-Kurs und ich habe immer Probleme, die Nieren ordentlich ins Bild zu bekommen. Und die Gallenblase von der Leber zu unterscheiden ist auch nicht so einfach. Und..."

Lachend hob ich die Hand, um ihren Redefluss zu stoppen. „Ich lasse dich, wenn wir mal etwas Zeit haben, so oft schallen wie du willst, aber erstmal müssen wir jetzt herausbekommen, was mit dir los ist. War dir außer die letzten paar Tage in der letzten Zeit schon mal übel?"

Lolla dachte nach und legte ihren Kopf auf die Seite, sodass sie ein bisschen wie der Wellensittich meiner verstorbenen Oma aussah, den sie so unglaublich kreativ „Hansi" genannt hatte. Welcher Unmensch hatte mit diesem Trend angefangen, Vögel „Hansi" zu nennen?

„Letzte Woche einmal, aber auch nur ganz kurz morgens. Ich habe nichts, Thomas! Bestimmt habe ich nur was Falsches gegessen. Zu viele gesunde Haferflocken. Dass diese Sporthotels aber auch nie Schokocroissants haben!", grinste sie über diesen Fauxpas der Hotels.

Auf die Schnelle würde ich nichts heraus bekommen. Die einzige Möglichkeit, die ich hatte, war eine Stuhlprobe und Blut abzunehmen und ins Labor zu schicken. Aber da konnte ich auch gleich abwarten, denn das Labor würde so lange brauchen, dass die Tournee fast zu Ende war. Außer ich würde die Probe an eine deutsche Uniklinik schicken...
Vermutlich war es einfacher, sie zu isolieren. Ein Einzelzimmer hatte sie ja eh schon. Dann müsste ich nur ihren Kontakt mit Peter und den anderen Springern unterbinden, damit die sich nicht ansteckten...

Warte, Thomas! Peter? Hm, fing ich an, zu überlegen. Es gab schließlich auch noch andere Möglichkeiten, die zu Morgenübelkeit führen konnten. Besonders diese Art von Übelkeit: Lolla saß jetzt nämlich schon wieder ziemlich fit vor mir und ließ gelangweilt ihre Beine baumeln.

„Thomas?", sah sie mich fragend an. „Was machen wir heute eigentlich?"

Konnte es sein, dass sie schwanger war? Es war zumindest eine Möglichkeit. Aber mein ärztliches Inneres sträubte sich stark dagegen. „Sie ist 20!", sagte die Stimme. „Sie studiert Medizin und weiß, wie man verhütet. Dass sie mit einem Kind mindestens zwei Jahre länger studieren würde, weiß sie auch."

Ich konnte es mir beim besten Willen nicht vorstellen. Trotzdem musste man jede Möglichkeit abklären. „Könnte es sein, dass du schwanger bist, Lolla?"

Sofort schüttelte sie den Kopf. „Ich nehme die Pille seit zwei Jahren", antwortete sie nicht überraschend, denn ich hatte nichts anderes erwartete. Obwohl man „Pille" umgangssprachlich auch unter Medizinern verwendete, bedeutete das Wort eigentlich nur „orales Kontrazeptivum", denn es gab unterschiedliche Arten davon.

„Weißt du, welche genau?", fragte ich daher nach. Zwar war ich immer noch davon überzeugt, dass sie tatsächlich das Essen nicht vertragen oder einen Magen-Darm-Infekt hatte, aber es war nicht schädlich, diese Möglichkeit abzuklären.

„Levonorgestrel". Typisch Mediziner war sie perfekt informiert und ich musste innerlich laut auflachen. Irgendwie hätte mich bei ihrem Eifer auch das Gegenteil überrascht. Die meisten Medizinern wussten, was sie einnahmen. Wäre auch irgendwie merkwürdig, täten sie es nicht.

Um zu testen, wie gut sie sich in Pharmakologie auskannte, fragte ich sie: „Weißt du auch, wie das wirkt?"

„Levonorgestrel wirkt stark hemmend auf die Reifung der Eizelle und den Eisprung, außerdem führt die Einnahme dazu, dass der Zervixschleim visköser („dickflüssiger") wird und dadurch die Spermien nicht mehr so leicht zur Eizelle gelangen."

„Sehr gut, Lolla", nickte ich und sah, wie sie sich freute. „Wir schreiben Pharma Anfang Februar", erklärte sie ihr Wissen.

„Weißt du was? Ich gebe dir einfach einen Test und dann wissen wir, ob das Levonorgestrel seinen Job getan hat, okay?" Zweifelnd sah sie mich an. Bestimmt hatte sie noch nie einen gemacht, zumindest schätze ich sie dementsprechend ein. Vermutlich war Peter ihr erster richtiger Freund, das würde auch erklären, wieso die beiden so zurückhaltend waren, in dem, was sie taten. Wobei das auch an Peter liegen könnte, der im Team nicht gerne im Mittelpunkt stand. Was ironisch war, denn genau diese Rolle hatte er vor zwei, drei Jahren eingenommen und sie immer noch nicht verlassen. Nur zwischendurch mit Domen geteilt.

„Habt ihr denn welche hier?", schaute sie mich verwundert an.

Daran hatte ich nicht gedacht, natürlich hatten wir keinen hier! Das hieß, wir konnten das Ganze eh vergessen. Da ich mir aber ziemlich sicher war, dass das eben eine Schnapps-Idee von mir gewesen war, lenkte ich ein: „Nein, haben wir nicht. Na gut, gerade noch so durch gekommen. Aber Lolla, wenn du noch einmal Symptome eines Magen-Darm-Infekts zeigst, muss ich dich isolieren zum Schutz der Sportler, in Ordnung? Da kann ich leider nichts machen. Zur Not muss ich dich zurück fliegen lassen."
Ich sah, wie sie schluckte - schließlich hatte sie sich auf die Tournee gefreut - doch da blieb mir keine andere Wahl. Sport war eben das Wichtigste hier. „Wenn du willst, darfst du jetzt aber ein bisschen schallen üben. Wir müssen nach Zeitplan erst in zwei Stunden an die Schanze."

20 Uhr im slowenischen Arztzimmer

Wer klopfte denn so spät noch? Brauchte etwa ein Kollege Rat? Aber die mussten doch nicht klopfen!

„Herein", rief ich mit tiefer Stimme und meine müden Augen öffneten sich weit, als ich meine junge Assistentin mit roten Augen vor der Tür stehen sah. „Lolla", sagte ich überrascht und hatte plötzlich eine ganz, ganz miese Vorahnung. In diesen Situationen als Arzt zu sein, war die Kehrseite. Wenn man Nachrichten überbrachte oder in diesem Fall auslöste, die den Gegenüber schockten, überraschten, beängstigten, überforderten.

Wenn die Welt für einen Augenblick aussah, als würde sie einstürzen. Als könnte nichts sie mehr aufhalten. Und man selber steckte mitten drin.
Doch in diesem Fall war ich nicht nur Arzt, hier war ich auch Mentor. Und wahrscheinlich der einzige Mensch, mit dem sie gerade reden konnte. Und dem sie vertraute. Denn ich stand auch in diesem Fall unter Schweigepflicht. Das wusste sie.

„Ich bin schwanger", brachte sie die Bestätigung meiner Vermutung hervor und ich bekam Angst, dass sie mir umkippte, so blass wie sie war. Schnell stand ich auf und brachte sie dazu, sich auf die Liege zu setzen. Ich war zwar vom Tag total müde und hatte eigentlich gerade Feierabend machen gewollt, aber das hier war wie der berühmte „Notfall", der in der Klinik fünf Minuten vor Schichtende auftauchte. Auch deshalb war ich Arzt geworden. Weil man Verantwortung trug und jetzt nicht einfach gehen konnte.

Während ich ihr ein Glas Wasser reichte, fing sie an zu weinen und ich hielt sie nicht auf, sondern gab ihr nur ein Taschentuch. Was sollte ich auch sagen? Als verheirateter Mann mit zwei kleinen Söhnen konnte ich mich schwer in ihre Lage hineinversetzen. Deshalb versuchte ich es erst gar nicht.

„Wieso muss mir so etwas passieren?", schluchzte Lolla in einem Mischmasch zwischen Slowenisch und Deutsch. Interessant, dass sie Slowenisch so schnell adaptiert hatte. Sie sprach fast besser als ich, dabei lebte ich mittlerweile seit 25 Jahren dort. Aber sie war eben bedeutend jünger ausgewandert als ich.
„So etwas gibt's in Filmen oder Büchern, aber doch nicht bei mir! Wenn das einer Dreizehnjährigen passiert, die die ganze Zeit irgendwelche Kerle knallt, okay. Und nicht weiß, was Verhütung ist. Aber ich bin Medizinstudentin verdammt! Wir haben verhütet!" An Lollas Sprache bemerkte ich, wie stark sie das aus der Bahn warf. Solche Wörter hatte ich sie nie benutzen hören.

„Wie kann das passieren? Was habe ich falsch gemacht?", blickte sie mich verzweifelt an und ihre grauen Augen waren verquollen und absolut hoffnungslos. Was mir wehtat zu sehen, denn Lolla war normalerweise ein sehr fröhliches Mädchen, dem ich gerne Sachen erklärte, da sie immer interessiert und vor allem fasziniert war. Ein bisschen erinnerte sie mich dann an mich, wie ich das erste Mal selber eine Operationsnaht im OP setzen durfte und total aufgeregt war. Ich konnte mich noch genau daran erinnern: Rezidiv-Varizen (wiedergekommene Krampfadern).

Kurz überlegte ich, was ich noch über Levonorgestrel wusste. Mein letzter Pharma-Unterricht war schon etwas her und obwohl ich nach dem Studium zwei Jahre in der Gynäkologie vor dem Wechsel in die Orthopädie gewesen war - das lag mir viel mehr -, nahm ich schnell das Arznei-Büchlein in die Hand und schlug die interaktiven Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten nach.

„Johanniskraut und Antibiotika können die Wirkung abschwächen", las ich vor und sah sie an. „Hast du etwas davon eingenommen, bevor oder nachdem ihr miteinander geschlafen habt?" Da wir beide Mediziner waren, fiel mir das Gespräch wenigstens leicht. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie das gewesen wäre, hätte ich ein 20-Jähriges Mädchen vor mir sitzen, was davon keine Ahnung hatte oder sich schämte, darüber zu sprechen. Da blieb ich doch lieber bei Kreuzbandrissen und ausgekugelten Schultern.

Lolla überlegte eine Zeit lang und lachte dann kurz und ziemlich bitter auf. „Wer hätte das gedacht? Dass das erste Mal gleich so erfolgreich ist", dann nickte sie und guckte auf den Boden. „Ich hatte eine leichte Grippe und fünf Tage Antibiotika verschrieben bekommen. Von der Wechselwirkung wusste ich nichts. Wirklich!", sah sie mich fast entschuldigend an.

„Hat der Arzt nicht gefragt, ob du die Pille nimmst?", staunte ich. Eigentlich müsste das eine Standardfrage sein.

„Ne, das wüsste ich ja", verneinte sie tatsächlich und ich wunderte mich mal wieder über die Fachkompetenz einiger Ärzte. Natürlich hatte die Pille nie eine absolute Wirkung oder konnte vollständige Verhütung garantieren, trotzdem war es wahrscheinlich, dass Lollas Schwangerschaft durch genau die Wechselwirkung entstanden war. Antibiotika setzte den Wirkungsgrad dieser Pille nämlich um ca. die Hälfte hinunter. Das konnte man schon als Behandlungsfehler definieren.

„Egal, ich sollte mich nicht so anstellen. Ich treibe eh ab."

„Lolla, das solltest du nicht jetzt entscheiden. Denk erstmal darüber nach und sprich mit Peter...", wollte ich sie beruhigen, wurde aber wütend unterbrochen.

„Als ob ich darüber mit Peter rede! Und als ob ich darüber nachdenken müsste. Es gibt überhaupt keine andere Möglichkeit. Ich bin viel zu jung dafür und außerdem studiere ich noch."

Das war nicht der richtige Punkt, um ihr medizinisch zu erläutern, dass sie sich bereits seit ca. 6 Jahren im gebärfähigem Alter befand und daher medizinisch als nicht zu jung galt, also stellte ich die Medizin einmal zurück und versuchte, sie nur als das Mädchen anzusehen, was gerade verzweifelt vor mir saß. Es war keine leichte Situation für sie, denn es musste absolut überraschen gekommen sein.
„Weißt du, wie lange das her ist? Hast du nicht bemerkt, dass du deine Periode nicht bekommen hast?", versuchte ich, ein paar Informationen zur Situation zu bekommen, denn nur dann wäre ich in der Lage, ihr angemessene Tipps zu geben.

Lolla schien sich etwas zu beruhigen und wischte sich die Tränen ab. „Ne, die sind bei immer etwas unregelmäßig und ich habe irgendwann aufgegeben, die aufzuschreiben, weil ich es eh immer einen Tag vorher merke. Und - ach Gott, wie lange ist das her?", überlegte sie laut. „Ah doch, das war an dem Tag, als Max weggefahren ist. Und das müsste ich in meinem Handy eingespeichert haben, weil ich mir eine Erinnerung gestellt hatte." Hastig zog sie ihr Handy aus der Hosentasche, warf es dabei auf den Fußboden und ich sah bis hier auf meinem Stuhl den Riss über ihren Display. Doch in diesem Moment schien ihr das egal zu sein.

„Mittwoch, der 23.10.", las sie vor und ich rechnete gleich nach: „Also 8 Wochen."

„Was heißt das?", fragte Lolla, doch ich wusste nicht, was sie meinte. Fragte sie mich gerade in der Rolle als Medizinstudentin oder Schwangere oder beides? „Ich meine für die Abtreibung", setzte sie nach.

„Du solltest wirklich erst mit Peter und vielleicht deinen Eltern...", fing ich an, aber ich schien auf verlorenem Posten zu sein. So aufgelöst und verändert hatte ich Lolla noch nie erlebt, denn sie ließ mich kaum zu Wort kommen.

„Meine Entscheidung steht zu Hundert Prozent fest", sah sie mir entschlossen ins Gesicht. „Ich werde Peter jetzt nicht mit so etwas belästigen, vor allem nicht vor der Tournee. Er würde sich nur Sorgen machen. Oder er ist sauer auf mich. Oder beides. Ich werde gar nicht mit ihm reden, mein Entschluss steht eh fest."

Du meine Güte, ich bekam das Gefühl, dass die Situation meine Kompetenzen überstieg, denn Lolla schien überhaupt nicht mit sich reden zu lassen und guckte mir nicht mehr in die Augen. „Lolla, das hier ist kein Spiel! Du wirst mit ihm darüber reden müssen. Schließlich könnte er Vater werden, du musst mit ihm reden!" Ich stand auf, fasste sie an den Schultern und schüttelte sie leicht, um sie aus ihrem Film aufwachen zu lassen. „Oder ist es nicht von ihm?"

Erschrocken schaute sie mich an, zumindest achtete sie nun wieder auf mich. „Doch."

„Versprichst du, dass du mit ihm darüber redest, Lolla?" Dieses Versprechen musste ich ihr abnehmen, sonst könnte ich nicht mehr mit ruhigem Gewissen Peters Arzt und Lollas Mentor sein, das funktionierte nicht. Solch ein Geheimnis wollte ich nicht mit mir herumtragen. Und ihr Verhalten wollte ich nicht ohne Weiteres einfach so billigen. Es war nicht richtig.

Ausweichend nuschelte sie: „Nicht jetzt während der Tournee."

Diesen Punkt konnte ich verstehen, schließlich arbeiteten die Sportler jeden Tag im Jahr für die Saison im Winter. „Direkt danach! Lolla, versprich es mir!" Scharf sah ich sie durch meine Brille an.

Sie atmete mehrmals durch, nickte dann und sah mir in die Augen. Erneut sah ich Tränen darin glitzern. „Du kennst doch in Slowenien Ärzte, oder? Wo kann ich am besten zum Abtreiben hingehen?"

Eigentlich war ich komplett dagegen, dass sie an dem heutigen Tag darüber nachdachte, ohne mit ihrer Familie oder Peter darüber geredet zu haben, doch mir blieb nichts anderes übrig, als ihr gegenüber medizinisch korrekt zu antworten. „Hm, 8. Woche...", überlegte ich laut. „Medikamentös mit Mifepriston und Prostaglandinen geht meiner Information nach nur bis zur 9. Woche, da bist du ja eigentlich schon drüber. Also bleibt nur chirurgisch übrig - ich kenne mehrere Chirurgen in der Klinik, die sehr gut sind. Das ist das kleinere Problem, Lolla."

„Und das geht noch?"

Beruhigend nickte ich ihr zu. „Das geht fast komplikationslos bis zur 14. Woche. Und in medizinischen oder familiären Ausnahmefällen auch noch länger." Nachdem ich das gesagt hatte, sah ich, wie sie durchzuatmen schien. Allerdings guckte sie auf den Boden und knetete ihre Hände, was mir verriet, dass sie von entspannt ein ganzes Stück entfernt war.

„Wieso muss mir das passieren? Es haben tausende Menschen jeden Tag ungeschützten Sex, tausende wollen unbedingt Kinder bekommen und ich nehme die Pille und werde trotzdem schwanger. Auch noch gleich beim ersten Mal! Ich glaube, wir haben sogar ein Kondom benutzt. Das ist doch echt absurd!" Kopfschüttelnd saß sie auf der Liege. „Das hat mir gerade noch gefehlt."

Mir kam eine Idee. Wäre es schlau, um Lolla von ihren furchtbar negativen Gedanken wegzubekommen oder wäre es absolut kontraproduktiv?
Deshalb war ich in die Orthopädie gewechselt - dieses Thema war hochsensibel und auch als Arzt ein Wechselbad ständiger Gefühle. Sollte ich riskieren, dass sie sich noch mehr von dem Thema abwand? Obwohl: mehr ging gar nicht. Schließlich sagte sie selber, dass sie sich zu hundert Prozent sicher war, dass sie das Kind nicht behalten wollte. Das war ihre Entscheidung und an ihrer Stelle hätte ich vermutlich genauso gehandelt.

Allerdings hatte ich das Gefühl, dass sie nichts davon realisieren konnte, was ich ihr gesagt hatte. Diese ganze Gerede um Medikamente und Abtreibungsmethoden. Im Grunde ging es um etwas ganz anderes.

„Leg dich mal auf die Liege", wies ich sie an.

„Ich habe keine Gallenblasen-Kolik, Thomas. Da siehst du nichts", grinste sie etwas und mit ihrem verheultem Gesicht, sah sie wie ein kleiner Grufti aus. Trotzdem folgte sie meinen Anweisungen. Ob sie wusste, was ich vorhatte?

„Das suche ich auch gar nicht", rollte ich das Ultraschallgerät an die Liege heran und holte das Gel hervor.

„Thomas?", verwirrt sah sie mich an. Neonatologie (Säuglingskunde) kam im Studium spät, erst im 10. oder 11. Semester, deshalb wusste sie das Medizinische nicht, was ich wusste. Diese Untersuchung hatte ich die letzten dreizig Jahre - wenn das reichte, eher mehr - nicht mehr durchgeführt.

„Was machst du?", wollte Lolla wissen und ihre Stimme gewann wieder Stärke und Interesse. Doch ich musste mich erstmal konzentrieren, denn als ich auf den Bildschirm schaute, sah ich nur schwarz-weißes Gegriesel - auch das Gefühl hatte ich die letzten dreißig Jahre nicht mehr gehabt. Bei den Skispringern suchte ich schließlich nicht so häufig einen acht Wochen alten Embryo im Ultraschall. Aber dann klärte sich das Bild und ich sah, nach was ich gesucht hatte.

„Da", rief ich etwas zu begeistert und vergaß, dass es der Situation unangemessen war. Gerade kam bei mir der begeisterte Mediziner und Familienvater durch. Ich nahm mich innerlich sofort zurück und rollte den fahrbaren Bildschirm so hin, dass Lolla etwas sehen konnte. Den Ultraschallkopf ließ ich die ganze Zeit an der gleichen Stelle liegen.

„Siehst du das?", fragte ich gespannt und beobachtete ihr Gesicht. Die grauen Augen starrten angestrengt auf den Bildschirm, aber es war selbst für ungeschulte Augen nicht zu übersehen. Ein großer schwarzer Fleck mit einem hellen Etwas darin, was den Embryo darstellte. Aber noch auffälliger war...

„Ist das...?", geschockt sah Lolla das Bild, das sich ihr bot, an. „Das ist doch nicht... Das ist doch nicht in mir, das kann nicht sein... Ist das ernsthaft das, was ich denke?" Lolla blickte mich mit riesigen Augen an.

„Was denkst du denn?"

„Es ist das schlagende Herz, oder?" Sie schien ihre Worte erst zu realisieren, als sie sie ausgesprochen hatte. Ich hatte das Gefühl, dass sie jetzt erst verstand, über was wir hier redeten. „Das ist echt. Verdammt!" Ihr fingen wieder an, die Tränen über das Gesicht zu laufen. „Da schlägt einfach ein anderes Herz in mir. Das kann doch nicht sein."

„Ja, du hast recht. Es ist, was du denkst. Man kann das schlagende Herz tatsächlich ab der 8. Schwangerschaftswoche im Ultraschall sehen. Der Embryo ist zu der Zeit ca. 1,5 cm groß, aber man kann auch schon den Kopf erkennen. Sogar Blut wird bereits durch die Nieren produziert und der kleine Magen produziert Magensäure."

Während ich ihr das erklärte, sah ich, wie sie erneut aus der Fassung geriet. Ich hatte völlig das Zeitgefühl verloren und wusste mittlerweile nicht mehr, wie viele Taschentücher ich ihr schon gegeben hatte. Aber einfach so ins Hotel zu gehen und sie alleine zu lassen, konnte ich nicht. Wofür war ich Arzt geworden? Um Menschen zu helfen. Und genau das musste ich gerade tun.

Schnell wischte ich Lolla das Gel vom Bauch und setzte mich neben sie auf die Liege. „Lolla, ich habe dir das nicht gezeigt, um dich irgendwie beeinflussen zu wollen. Wenn du weiter abtreiben möchtest, dann unterstütze ich dich dabei - vorausgesetzt, du redest mit Peter. Ich kann deine Meinung total nachvollziehen. Mal davon abgesehen, dass ihr ja noch gar nicht lange zusammen seid, ist der Zeitpunkt einfach der Falsche, richtig?"

Erleichtert sah ich, wie sie nickte und sich mit dem Handrücken über ihre roten Augen rieb. Von ihrem Zopf hatten sich ein paar Strähnen gelöst und hingen ihr in die Stirn. Gerne hätte ich etwas getan, um ihre Sorgen zu mindern, doch ich konnte kaum etwas tun.
„Der einzige Grund, wieso ich das getan habe, ist, damit du erkennst, dass es echt ist. Und Lolla, auch wenn es dir so vorkommt, es ist nichts Schlechtes! Deshalb brauchst du dich nicht schlecht oder schuldig zu fühlen. Eigentlich ist es wunderschön. Schau es dir einmal an. Ganz in Ruhe."

Ich rief das Bild auf, dass ich eben mit dem Ultraschallgerät gemacht hatte und beobachtete sie genau. Zumindest ihre Atmung hatte sich wieder normalisiert, obwohl sie noch blasser als heute morgen war. Und dann lächelte sie ein bisschen. Eigentlich war es gar kein Lächeln, nur ihre Mundwinkel hoben sich ein paar Millimeter. Doch es reichte, um zu wissen, dass ich das Richtige getan hatte.

„Du hast nichts Falsches getan. Okay?" Es war mir wichtig, dass sie das verstand und aufhörte, sich Vorwürfe zu machen. „Du hast alles getan, was du konntest und es ist eben passiert. Aber das ist keine Katastrophe, sondern nur der natürliche Lauf der Dinge. Hättest du jemanden verletzt oder umgebracht, müsstest du dich schlecht fühlen, aber nicht bei so etwas. Und du kannst ja abtreiben, da bin ich der Letzte, der das nicht verstehen würde. Wenn du mit Peter redest, wird er das sicher auch verstehen. Mach dich nur nicht selber dafür verantwortlich. Es ist passiert und du hast keine Schuld daran", schloss ich meine Ausführung und hoffte, dass sie mich verstanden hatte.

Zumindest nickte sie wieder und wagte ein kleines Lächeln. „Danke, Thomas", hörte ich leise ihre Stimme, vielleicht hatte ich es mir auch eingebildet.
Aufmunternd lächelte ich sie an und stand auf. „Wollen wir den anderen einfach sagen, dass du Fieber hast und du ruhst dich die nächsten Tage aus, guckst ein bisschen Skispringen und gehst spazieren?", sah ich sie fragend an. „Du weißt, ich sage keinem was - Schweigepflicht."

Doch Lolla schüttelte energisch den Kopf. Das war die kräftigste Geste, die ich in den vergangenen Stunden von ihr gesehen hatte. „Bitte lass mich weiterarbeiten. Ich will nicht so viel Zeit zum Nachdenken haben!"

Etwas zweifelnd gab ich nach und nickte. Wenn sie es gerne so wollte, hatte ich nicht das Recht, ihr reinzureden. „Na gut, aber dann gehst du jetzt schnell ins Hotel und schläfst! Ich komme in ein paar Minuten nach." Lolla stand auf und ging flott zur Tür. Wahrscheinlich wollte sie jetzt einfach nur noch raus aus diesem Raum. „Tschüss, Thomas", sagte sie noch und huschte schon aus der Tür raus.

„Mach es gut, Lolla", seufzte ich und ließ mich auf den Schreibtischstuhl fallen. Erschöpft fuhr ich mir durch die weiß-grauen Haare und nahm die Brille ab. Das Vergangene hatte mich emotional aufgewühlt. Nie hätte ich gedacht, dass ich so etwas mal bei den Skispringern erleben sollte. Eine Weile blickte ich auf das Bild auf dem Monitor, der immer noch den acht Wochen alten Embryo zeigte. Dann griff ich nach meinem Handy und wählte die Nummer von zu Hause.

„Thomas?", hörte ich die erstaunte Stimme meiner Frau. „Wieso rufst du denn noch so spät an? Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?"

„Alles gut, Liza. Gibst du mir mal die Jungs?"

„Aber Milo schläft schon", erwähnte sie unseren jüngeren Sohn. 10 Jahre alt war er mittlerweile.

„Egal, wecke ihn bitte kurz auf. Danach kann er weiter schlafen."

„Na gut. Wenn du meinst...", ihre Verwunderung brachte mich zum Grinsen.

„Mmh...Hallo?", klang die verschlafene Stimme meines Sohnes an mein Ohr.

„Milo, mein Kleiner, hier ist Papa. Ich wollte dir nur gute Nacht sagen und dass ich dich lieb habe."

„Ich dich auch, Papa", murmelte er noch und schien schon wieder eingeschlafen zu sein.

Über den Dächern der WeltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt