Kapitel 36

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Domens Sicht

Dumm glucksend schaute ich Lolla von der Seite an. „Du weißt schon, dass ich das ziemlich witzig finde, oder?"

„Was denn?", sah sie mich böse an, doch sie konnte wie Cene gar nicht böse gucken. Zwischen ihnen könnte man ein Battle machen, wer besser darin war. Obwohl - mein Bruder war wirklich hoffnungslos unterlegen.

„So besonders ist Fliegen nun auch wieder nicht. Du setzt dich in einen zu kleinen Sitz, wo deine Beine weh tun und deine Ohren immer zufallen. Wenn du Glück hast, gibt es Tomatensaft..." - gab es natürlich nicht und wenn, dann würde ich ihn nicht trinken, aber ein paar Klischees musste ich Lolla doch eintrichtern, „...oder die Stewardess ist heiß", grinste ich.

„Domen!", sie haute mir mit dem Ellbogen zwischen die Rippen und traf sogar.

„Aua", beschwerte ich mich, während wir in Richtung des Flugterminals gingen, wo uns ein Flugzeug nach Deutschland zum Auftakt der Vierschanzen-Tournee bringen sollte. Innerlich kribbelte bereits die Vorfreude über den bevorstehenden Wettkampf in mir. Lolla hatte mir gerade verraten, dass sie noch nie geflogen war, weswegen ich mich jetzt über ihre Nervosität lustig machte.

„Hey, alles klar?", blieb Peter stehen und wartete auf uns. Zum Glück hielt er sich in der Mannschaft etwas zurück und beschützte Lolla nicht die ganze Zeit, so wie er es normalerweise machte. Das wäre sonst echt anstrengend geworden.

„Deine Freundin ist noch nie geflogen und hat Schiss", posaunte ich sofort heraus und hätte mich mal wieder dafür ohrfeigen können, dass ich solche Neuigkeiten nie für mich behalten konnte. Aber Peter hätte es eh mitbekommen, so aufgeregt wie Lolla war.

Lolla stöhnte auf und versuchte erneut, böse zu schauen. Es misslang ihr.

„Wieso hast du mir das nicht gesagt?", fragte Peter besorgt und stellte sich neben Lolla.

„Vielleicht hatte sie einfach keinen Bock auf dich?", vermutete ich und hoffte, dass er jetzt nicht einen auf Glucke tat.

„Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst", lächelte Lolla ihn verlegen an, sodass Peter ihre Hand nahm.

„Toll gemacht, jetzt tue ich das nämlich, Lolla", grinste er und strich ihr mit dem Daumen über die Wange.

Himmel, ich fand es ja eigentlich echt cool, dass die beiden zusammen waren, aber manchmal nervte mich Peter mit seiner romantischen Ader total. „Jetzt mach es nicht noch schlimmer, Peter. Ich kümmere mich schon um Lolla. Sie sitzt am Fenster neben mir und wenn sie kotzt, halte ich ihr die Haare", erklärte ich ihm und zog Lolla an der Schulter nach vorne, damit sie endlich einstieg.

Peter war sauer, das sah ich, doch Lolla ging mit mir, daher konnte er nichts dagegen sagen.

„Ich kann schon für mich alleine entscheiden, Domen. Außerdem kotze ich nicht so leicht. Eigentlich freue ich mich sogar aufs Fliegen", wies Lolla mich zurecht, während wir ins Flugzeug gingen und ich die Reihe aussuchte, wo es sich Tilen schon gemütlich gemacht hatte. Mit ihm und Timi kam ich neben meinen Brüdern am besten zurecht, weil wir schon in der Jugendmannschaft zusammen waren und uns seit Jahren kannten.

„Ärgert dich Domen?", grinste der braunhaarige Junge nun und faltete seine langen Beine zusammen, damit wir auf die anderen zwei Plätze kamen. „Soll ich mich zwischen euch setzen, damit er dich nicht nerven kann?", wand sich Tilen an Lolla, die ihn dankbar anschaute.

Als ob ich so nervig war! Tilen übertrieb doch voll.

„Lass das lieber, sonst bekommt Peter einen Anfall", warnte ich ihn. Mein Bruder schaute nämlich schon misstrauisch zu uns rüber und schien mit seinem Platz neben Jernej nicht Hundert Prozent zufrieden zu sein. Vermutlich hätte er lieber neben Lolla gesessen.
Ich schob Lolla einfach auf den Fensterplatz und ließ mich in die Mitte fallen. Kurz darauf rollte das Flugzeug los und Tilen und ich sahen belustigt zu, wie Lolla sich am Fenster festkrallte und raus sah. Als wir abhoben und in der Luft waren, schien ihr etwas komisch zu werden.

„Alles gut?", lehnte sich Tilen vor, der auch mitbekommen hatte, dass Lolla seit einigen Minuten nichts mehr sagte, obwohl wir angeregt über die Vierschanzen-Tournee geredet hatten. Doch Lolla nickte und murmelte, dass ihr etwas übel sei. Wir steckten uns Kopfhörer in die Ohren, waren nach etwa einer Stunde da und stiegen aus dem Flugzeug in den Bus zum Teamhotel, das sehr nah bei der Schanze in Oberstdorf war.

Ich freute mich schon auf's Springen, obwohl diese Saison für mich lange nicht so gut wie die Letzte angefangen hatte. Fast musste ich den Kopf schütteln darüber, dass ich damals als Weltcupführender und Tournee-Favorit angereist war. Dieses Mal war ich froh, überhaupt mitgenommen worden zu sein. Mein Stil funktionierte nicht mehr so gut, was wahrscheinlich auch daran lag, dass ich nochmal gewachsen und schwerer geworden war. Trotzdem mochte ich diese Serie in Deutschland und Österreich, denn es waren meistens richtig viele Zuschauer und das Fernsehen da.
Auch wenn das Unterschriften geben nervte. Cene fand es toll, doch mich begeisterte es nicht, denn dabei bekam man von den Menschen immer so wenig mit. Die standen immer nur vor einem und fotografierten einen mit ihrem Handy, anstatt dass sie irgendwas sagten. Ne! Nur fotografieren. Viel lieber hätte ich mich mit ihnen unterhalten, wo sie herkommen und so weiter, das interessierte mich. Aber so stumm da zu stehen und meine Karten zu verteilen, fand ich langweilig.

„Wollen wir gleich zur Schanze?", fragte ich Tilen und Lolla, denn ich mochte es, einfach nur die Atmosphäre aufsaugen zu können und ein paar der anderen Springer zu sehen.

„Wir müssen doch erstmal im Hotel einchecken", entgegnete Tilen mir. „Auch wenn das bei dir nicht viel mehr heißt, als deine Tasche aufzumachen und alle Sache auf den Boden zu schmeißen."

Ich protestierte nicht, denn er hatte Recht. Ordnung war mir entschieden zu anstrengend. Wieso sollte ich Zeit damit verballern, meine Sachen ordentlich in den Schrank zu legen, wenn wir in ein paar Tagen eh weiterfuhren?

„Wehe, man kann nachher in unserem Zimmer keinen Schritt mehr machen!", warnte er mich, obwohl er selber auch gar nicht ordentlich war. In diesem Winter teilten wir uns ein Zimmer, wenn wir mit in den Weltcup durften, was bei mir leider noch nicht oft der Fall gewesen war. Zwischendurch musste ich immer wieder im ContiCup springen, bis sich meine Sprünge stabilisierten.
Wenigstens wurde ich nicht mehr mit Peter in eins gesteckt, der war mit Jernej einquartiert. Lolla hatte ein Einzelzimmer und ich war sehr gespannt, ob ich Jernej dazu bekäme, mir zu verraten, ob Peter bei Lolla schlief. Denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sich diese Möglichkeit entgehen ließ.
Wobei - so korrekt und arbeitseifrig wie er beim Skispringen war, konnte es auch sein, dass er das Risiko nicht einging.

„Nehmt ihr mich mit zur Schanze?", wollte Lolla wissen, die sich wieder gefangen und ihre normale Gesichtsfarbe hatte.

„Ne, dich lassen wir im Hotel versauern", blickte ich sie belustigt an. Was sie schon wieder dachte!

„Aber ohne Peter", warf Tilen lachend ein und ich musste mitlachen.

„Was ist mit mir?", rief Peter quer durch den Bus, der unser Gespräch mitgehört hatte.

„Nichts, wir nehmen Lolla nur mit zur Schanze, während du bei der Pressekonferenz sitzen darfst", ärgerte ich ihn und sah selbst von hier, wie genervt er war. Witzigerweise wollten die letzten Jahre die slowenischen Medien ihn immer deshalb vor der Kamera haben, weil er so ein absoluter Überflieger und im ständigen Duell mit Severin Freund war.
Jetzt hätte man annehmen können, dass sie das Interesse verloren hätten, nachdem er nichtmehr gut sprang, doch nun fragten sie ihn jedes Wochenende neu, was das Problem sei. Wenn er oder die Trainer das wüssten, hätten sie es doch längst abgestellt! Immer diese Reporter...

„Erstmal ist Teamsitzung, Domen! Da geht keiner zur Schanze", erklärte mir unser Co-Trainer, der hinter uns saß und anscheinend zugehört hatte. „Und dann sollt ihr noch eine Runde laufen und euch dehnen, damit ihr nach dem Rumsitzen wieder locker werdet", dämpfte er meine Vorfreude auf einen gemütlichen Schneespaziergang über das Gelände. Na toll!

Also musste ich mich fügen, denn auch mein Gequengel half nicht, als wir am Hotel angekommen waren. So bezogen wir die Zimmer - allein um Tilen zu ärgern, nahm ich meine Tasche, drehte sie um und schüttelte kräftig, sodass sich der ganze Inhalt auf dem Boden verteilte - und hörten uns die Planung für den nächsten Tag von Goran an. Peter ging zu seiner blöden Pressekonferenz und Tilen, Lolla und ich machten uns zu Fuß auf den Weg zur Schanze.

Natürlich liefen uns auf dem Weg dahin bereits Fans über den Weg, die ganz aufgeregt wurden, weil sie uns noch nicht erwartet hatten und wir mussten mal wieder stumm rumstehen und uns fotografieren lassen. Wie mich das nervte!

„Kommst du aus Deutschland?", fragte Lolla auf Englisch ein ca. vierzehnjähriges Mädchen, was uns nur mit ganz großen Augen anstarrte.

Ich musste lachen. Hatte ich nicht vorhin noch darüber nachgedacht, dass die Fans nie sprachen und jetzt quatschte Lolla einfach drauf los? Wahrscheinlich war es für sie genauso langweilig, die ganze Zeit nur dazustehen und nichts zu machen.
Das Mädchen nickte begeistert, bekam ganz rosige Wangen und ihre Augen fingen an zu leuchten. Irgendwie niedlich, sie erinnerte mich ein bisschen an Nika.

Daraufhin redeten sie auf Deutsch weiter und jetzt wurde Tilen und mir langweilig, denn wir verstanden kein Wort. Stimmt, ich hatte ja ganz vergessen, dass wir nun in Lollas Heimatland waren! Wir gingen vor in Richtung des abgesperrten Bereichs für die Springer und hofften, dass ein paar aus den anderen Teams da waren. Zehn Minuten später rannte Lolla hinter uns her: „Wartet doch mal!", rief sie mit ärgerlicher Stimme. „Könnt ihr nicht mal zwei Minuten stillstehen?"

„Nein", lachten Tilen und ich gleichzeitig drauf los. Da kamen uns ein paar Springer aus dem polnischen Team entgegen: Kamil, Piotr und Stefan.

„Hey, Domen. Hey, Tilen", begrüßten sie uns mit einem Handschlag. „Seit wann seid ihr hier? Wir dachten eigentlich, wir wären das erste Team", sah uns Kamil fragend an. Ich mochte die Polen, sie waren immer freundlich, fair und super witzig. Außerdem sprang Kamil einfach überragend, so wie Peter in seiner guten Saison.

„Wir sind erst vor drei Stunden angekommen", beantwortete Tilen die Frage. „Aber hier ist ja schon ordentlich was los." Erstaunt blickte er sich um, wo in der Tat schon die ganzen Fersehsender ihre Bereiche aufgebaut hatten und auch ein paar Fans liefen komischerweise herum. Wie die kleine Deutsche eben.

„Ist deine erste Tour, oder?", wollte der Pole wissen, woraufhin Tilen nickte.

„Wen habt ihr denn da mitgenommen?", deutete Stefan auf Lolla. „Hast du noch eine Schwester, Domen? Zwei nicht genug?"

„Ja, das ist meine verschollene Schwester, Lolla. Sie wurde erst vor ein paar Monaten wiedergefunden", wiederholte ich den Running Gag aus unserem Team, woraufhin Tilen und Lolla losprusteten, obwohl es mittlerweile nur noch albern war. Trotzdem musste ich auch irgendwie lachen, verdrehte aber dabei die Augen. Dass sie sich darüber ernsthaft immer noch amüsieren konnten. Schließlich hatte ich mir das im Trainingslager damals nur aus Spaß ausgedacht.

„Ne", schüttelte Lolla den Kopf, als wir uns beruhigten. „Eigentlich bin ich Medizinstudentin in Slowenien, aber ich helfe dem Teamarzt ein bisschen. Außerdem komme ich aus Deutschland."

„Vor allem aber ist sie Peters Freundin!" , rutschte mir heraus, bevor ich darüber nachdenken konnte.

„Oh", waren die Polen erstaunt. „Das hat er ja gar nicht erwähnt bis jetzt!"

Okay, Lolla konnte doch böse gucken. Sehr böse sogar.

„Domen, sag mal, geht's noch?", sagte sie mit leiser, aber scharfer Stimme. Wie eine Messerklinge. „Ich zwinge Peter jedesmal, wenn wir draußen sind, eine Kapuze aufzusetzen, damit uns bloß keiner erkennt und du rennst los und erzählst es dem Erstbesten, der uns über den Weg läuft?"

Instinktiv zog ich meinen Kopf ein wie eine Schildkröte, als ich ihre Worte hörte. Hoffentlich kam Peter nie in den Genuss eine wütende Lolla zu erleben, das war gar nicht lustig.

„Naja, Kamil, Stefan und Piotr sind jetzt nicht die Erstbesten...", versuchte ich mich heraus zu reden, aber Lolla unterbrach mich sofort.

„Darum geht es doch gar nicht! Du weißt ganz genau, dass das nur im Team bekannt sein sollte. Nicht in der Öffentlichkeit! Scheiße, man! Genau das wollte ich doch nicht", beängstigt sah ich, wie Lolla Tränen in die Augen kamen.

Das hatte ich wirklich nicht gewollt. Manchmal verfluchte ich mein loses Mundwerk. „Tut mir Leid, Lolla. Ich habe es nicht so gemeint", versuchte ich, sie zu trösten und strich ihr unbeholfen über den Arm.

„Lass mich in Ruhe, Domen!", rief sie ärgerlich und stapfte in die andere Richtung fort. Weg von uns.

„Super gemacht", gratulierte mir Tilen ironisch. „Freu dich darauf, wenn Peter das mitbekommt."

Mist, den hatte ich ja ganz vergessen! Er würde bestimmt total austicken, weil ich meine Klappe nicht gehalten hatte. Schließlich war Peter immer sehr bedacht, welche Informationen er über sich preisgab und das mit Lolla hatte er tatsächlich nicht dafür vorgesehen, das hatte er dem Team schließlich gesagt.

„Könnt ihr mir einen Gefallen tun und die Sache für euch behalten?", bat ich die Polen inständig und sah erleichtert, wie Kamil sofort nickte. „Klar, von uns erfährt niemand etwas, oder Leute?" Die anderen nickten auch. „Wir müssen eh weiter", verabschiedeten sie sich und gingen in Richtung der Schanze.

„Hey, entspann dich, Domen", versuchte der ältere Slowene mich aufzuheitern. „Lolla wird sich bestimmt wieder einkriegen und wenn Peter hört, dass die Polen nichts weitersagen, wird er dich schon nicht umbringen."

„Ha!", lachte ich trocken auf. „Da kennst du meinen Bruder aber schlecht. Dem geht es nicht darum, wem ich das erzählt habe, sondern ums Prinzip, dass ich eben etwas über ihn erzählt habe, was ich nicht sollte. Der wird abgehen wie ein Hamster auf Koks", sah ich schon meinen Bruder vor meinem inneren Auge. „Oder er bestraft mich mit Schweigen, das kann auch sein." Bei dieser Strategie lief es immer darauf hinaus, wer von uns beiden sturer war. Ob ich mich zuerst entschuldigte oder Peter einknickte und mir verzieh. Manche Streits hatten sich jedoch über Monate gezogen und wir hatten nur das Nötigste miteinander geredet. Peter hasste es, dass ich nie meinen Mund hielt und eigentlich hatte ich es gerade ja auch gar nicht erzählen gewollt, aber irgendwie nicht unterdrücken gekonnt. Mist!

Tilen und ich gingen weiter über das Gelände, schrieben hier und da Autogramme und wurden von einem Reporter aufgegriffen, kehrten jedoch als es anfing zu dämmern, relativ schnell wieder zum Hotel zurück, da wir noch die obligatorische Runde laufen gehen mussten.

Lollas Sicht

Im Hotel war absolut tote Hose, da Peter bei der Pressekonferenz festsaß und die Springer spazieren beziehungsweise laufen waren. Das Gespräch mit Domen hing mir nach, da ich es wirklich doof und unnötig fand, was er gesagt hatte. Schließlich war genau diese Situation damals meine Angst gewesen, als Peter es dem Team sagen wollte, dass mich dann alle nur noch als „seine Freundin" sehen und darauf reduzieren würden.
Klar, war ich unheimlich stolz auf ihn, wenn Peter im Fernsehen interviewt wurde oder ich Artikel las und wusste, dass sie falsch waren, da er in Echt vollkommen anders war, die Reporter aber nicht bei ihm zuhause in seiner Wohnung waren und ihn beobachten konnten.
Doch ich wollte nicht nur diesen einen Status haben: Peter Prevc' Freundin. Zumindest nicht damit vorgestellt werden. Mal ganz davon abgesehen, dass Domen sich nicht das Recht rausnehmen konnte, das zu erzählen, wem er wollte.

Da ich Ablenkung brauchte, ging ich zum Nebengebäude, wo die Ärzteteams aller Nationen einquartiert waren. Thomas hatte es mir vorhin, als die Springer Sitzung hatten, schon gezeigt und es war total faszinierend, weil ich nun sah, wie professionell und international die medizinische Betreuung ausgerichtet war.

Hoffentlich ist Thomas da und hat Etwas für mich zu tun!, dachte ich mir, als ich die Tür aufstieß. Ein Glück sah ich den mir mittlerweile vertrauten Arzt in normaler Kleidung mit seiner Hornbrille auf der Nase in irgendwelchen Papieren rumstöbern.

„Hallo Lolla", hob er überrascht seinen Kopf, als ich in das kleine Zimmer hineintrat. Eine Nation hatte immer ein eigenes „Büro" und die Untersuchungsräume wurden geteilt. Schließlich wurden die Sportler für größere Untersuchungen eh in das nächste Krankenhaus gefahren. „Ich dachte, du bist mit Domen und Tilen draußen und schaust dich um? Ist dir eigentlich noch übel?"

Kopfschüttelnd antwortete ich: „Das war nur das Fliegen, jetzt geht es wieder. Und draußen werden die die ganze Zeit nur fotografiert und so was." Domen im Team zu verpfeifen kam für mich nicht in Frage, auch wenn ich ganz schön sauer auf ihn war. Petzen würde ich trotzdem nicht. „Kann ich dir hier etwas helfen?"

„Also eigentlich haben wir noch nicht wirklich was zu tun. Aber weißt du was? Vorhin habe ich gehört, dass Severin Freund da war und die Gelegenheit genutzt hat, sich mit den Teamärzten seine neuen Aufnahmen anzugucken."

„Der ist vom deutschen Team, richtig?" Ich musste mich unbedingt nochmal bei Cene bedanken, denn ausschließlich seinetwegen stand ich bei den ganzen Namen nicht völlig aufgeschmissen dar.

„Genau, das Interessante ist, dass er bereits zwei Kreuzbandrisse hatte und immer noch - besser gesagt, wieder - in der Reha ist. Natürlich wird er bei sich zuhause durch Ärzte betreut, aber Dr. Dorfmüller muss auch informiert bleiben. Wenn ein Springer stark verletzt ist und nicht mehr mit zu den Springen fährt, sehen wir die meistens nicht mehr oft während der Saison", erklärte mir Thomas. Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Eigentlich ziemlich doof, jedoch logisch, denn weder Springer noch Arzt konnten an zwei Orten gleichzeitig sein. „Hast du Lust, dass wir hingehen und uns die Bilder anschauen?"

Begeistert nickte ich, auch wenn ich von bildgebenden Verfahren absolut keine Ahnung hatte. Trotzdem klang es wie die perfekte Ablenkung.
Thomas ging mit mir aus dem Zimmer und den Flur mit dem weißen Boden entlang, der mich irgendwie an Klinik erinnerte. So steril, sauber und nach Desinfektionsmittel riechend.
Vor einer offenen Tür und einem Büro, welches identisch wie unser Slowenisches aussah, blieb Thomas stehen. Naseweis lugte ich seitlich an ihm vorbei, um reingucken zu können und sah einen großen, kräftigen Mann mit dunklen Haaren im Kittel stehen.

„Hallo Mark", begrüßte Thomas ihn, sodass er sich umdrehte und uns überrascht ansah.

„Thomas, dich habe ich jetzt nicht erwartet! Kann ich dir bei etwas helfen?" Dr. Dorfmüller sprach natürlich Deutsch mit Thomas, schließlich kam der genauso wie ich aus Deutschland. Die Teamärzte schienen sich gut zu kennen.

„Ne, ich möchte dir nur eine junge Dame vorstellen, die mir seit einiger Zeit assistiert und schauen wollte, was du so machst."

„Lolla von Bergmann ist mein Name und ich spreche Deutsch", sagte ich eilig, bevor er noch anfing, auf Englisch mit mir zu reden. Mein Nachname war zwar verräterisch, aber ich wusste nicht, wie schnell er den mitbekommen hatte. „Freut mich sehr, Sie kennenlernen zu dürfen, Dr. Dorfmüller."

„Nenn mich doch bitte Mark, Lolla", lachte er herzlich und schüttelte mir kräftig die Hand. Fast schon zu kräftig. Vermutlich war er wie Thomas Chirurg oder Orthopäde. „Du sprichst Deutsch?"

„Nein, ich tue nur so", scherzte ich und merkte, wie gut es gewesen war, hierher zu kommen. Nach der Situation mit Domen spürte ich meine gute Laune wiederkommen. „Ich komme eigentlich aus Deutschland, bin aber nach dem Physikum nach Ljubljana gewechselt."
Die Geschichte hatte ich mittlerweile keine Ahnung wie oft erzählt, sodass sie mich schon selber nervte.

„Interessant, wo hast du denn in Deutschland studiert? Wie kommst du zu Thomas ins Team?" Anscheinend hatte auch Dr. Dorfmüller - genau wie Thomas - nicht viel zu tun und beschloss, mich auszufragen. Nachdem ich ihm alles erklärt hatte, beeindruckte er mich mit seinem Lebenslauf. Ich kam kaum noch aus dem Staunen heraus: Er betreute seit ca. 10 Jahren sowohl die Box - als auch die Skisprungnationalmannschaft! Und dazu führte er noch eine sportmedizinische Praxis. Absolut beeindruckend.

Thomas und Mark lachten über meinen offenen Mund. „Eigentlich habe ich sie hierher gebracht, damit sie sich mal ein paar Bilder von Severin anschauen kann, weil der doch heute Vormittag hier war. Hast du die auf dem Rechner?", fragte Thomas nach dem Grund unseres Kommens und riß mich damit aus meiner Faszinations-Starre.

Der deutsche Arzt nickte: „Die sind aber im Röntgen-Zimmer", bemerkte er und so gingen wir in das Untersuchungszimmer, wo mehrere große Bildschirme und Rechner standen sowie ein paar tragbare Röntgengeräte. Für alles weitere - CT (Computertomographie), MRT (Magnet-Resonanz-Tomographie)— musste man in die Klinik fahren.
Trotzdem war ich beeindruckt, wie viel Equipment den Sportärzten zur Verfügung stand. Vermutlich, weil an der Schanze das ganze Jahr und nicht nur bei der Vierschanzen-Tournee trainiert wurde.

Fünf Minuten später sah ich mehrere Röntgen- und MRT-Bilder, die Mark aufgerufen hatte.

„Verrate noch nichts", wies Thomas Mark an, der schon anfangen wollte, mir das Bild zu erklären.

Mist! Darauf hatte ich nämlich gehofft, denn viel erkennen - außer, dass es sich ums Knie handelte, doch das war beim Kreuzbandriss logisch -, tat ich darauf nicht. Wir hatten weder Radiologie noch Bildgebungstechnik im Studium bis jetzt gehabt. Das würde im 8. und 9. Semester kommen.

„Oh, endlich sind wir mal in der Situation und dürfen abfragen, was?", lachte Mark und lehnte sich auf seinem Drehstuhl zurück. „Wie damals im Studium", scherzten sie, doch ich fühlte mich ziemlich gequält. Die beiden hatten gut lachen: Sie waren schon fertige, renommierte Ärzte und mussten nicht noch tausende mündliche Prüfungen bestehen. Vor allem war es mir total peinlich, dass ich nichtmal die Kreuzbänder richtig erkannte!

„Was siehst du auf den Bildern? Erkennst du etwas, Lolla?", schaute mich Thomas aufmunternd an. „Sie ist erst im 6. Semester", erklärte er Mark und ich war ihm dankbar dafür. Beide wussten anscheinend noch, dass man das eigentlich noch nicht hatte.

„Wenn ich ehrlich bin, erkenne ich fast nichts", gab ich zu, dass ich keine Ahnung hatte. Was blieb mir auch anderes übrig? Wann bekam ich schon die Möglichkeit, in Ruhe mit zwei Ärzten mir Röntgenaufnahmen von Kreubandrissen anzuschauen? Vermutlich in dieser Ruhe nie wieder, denn in der Klinik war alles viel hektischer. Da wollte ich diese Chance nicht durch Raten zunichte machen.

„Okay, wir fangen ganz einfach an: Welches Kreuzband ist potenziell stärker gefährdet und wie diagnostizierst du das?"

Das war einfach, schließlich hatte ich für die Prüfung von vor einer Woche im Teil Orthopädie auch Knieverletzungen gehabt und in der kurzen Zeit hoffentlich nicht allzu viel vergessen. Also ratterte ich mein Wissen runter: „Das anfälligere Kreuzband ist das Vordere, besonders bei Fußballern und Skifahrern..."

„Weißt du noch, wie das Vordere verläuft?", unterbrach mich der deutsche Arzt und sah mich erwartungsvoll an. Anscheinend war Knie Marks Fachgebiet oder zumindest mochte er es gerne. Die Frage war pures Anatomie-Wissen.

„Es zieht vom Condylus lateralis des Femurs, genauer gesagt von der lateralen Wand der Fossa intercondylaris, nach medial in die Area intercondylaris anterior vor der Eminentia intercondylaris der Tibia." (Auf Deutsch: innerhalb des Kniegelenks von der hinteren, oberen Außenseite zur vorderen, unteren Innenseite und damit im 90 Grad Winkel gegenläufig zum hinteren Band - „kreuzen" sich, daher „Kreuzbänder")

Thomas und Mark nickten einstimmig. „Wieso ist das Vordere dann häufiger betroffen als das Hintere?"

Kurz überlegte ich und riet: „Das vordere Band hat den größten Anteil an der Stabilität des Knies und wird demzufolge am stärksten belastet?"

Meine Antwort hörte sich unsicher an und das bemerkte natürlich auch Mark, sodass er nun anfing, zu erklären: „Hierfür ist der Verlauf entscheidend, deshalb habe ich dich den gerade abgefragt. Er verhindert das Weggleiten der Tibia (Schienbein) gegenüber dem Femur (Oberschenkelknochen) nach anterior (vorne). Außerdem schränkt es zusammen mit den anderen Bändern die Rotation im Kniegelenk ein."

„Ah, okay!", verstand ich, was er mir damit sagen wollte, „deshalb auch der Schubladentest? Weil dann die Funktion fehlt, wenn das vordere Kreuzband gerissen ist..."

„Das nennt man in der Orthopädie eine LCA-Ruptur", warf Thomas von der Seite ein.

„...okay, bei einer LCA-Ruptur...", übernahm ich die korrekte Bezeichnung und musste mich zusammenreißen, um nicht den Faden zu verlieren, „...also da kann man dann den Unterschenkel gegenüber dem Femur nach anterior (vorne) verschieben? Wie eine Schublade, die man aus einem Schrank zieht?"

„Genau!", stimmte mir Mark begeistert zu. „Das LCA (Ligamentum crutiatum anterior = vorderes Kreuzband) fehlt als Begrenzung, weil es durchgerissen ist. Man kann das dann noch spezifizieren mit dem sogenannten Lachmann-Test. Hast du davon schonmal gehört?"

Schnell schüttelte ich den Kopf und sog begierig die neuen Informationen über diese Untersuchungsmethode auf. Es war für mich sehr beeindruckend und unheimlich motivierend, was die beiden Ärzte alles wussten und mir erklärten.
Bis jetzt hatte ich von Thomas ja nur absolute Routine-Untersuchungen mitbekommen und selbst die fand ich schon total spannend, da es endlich richtige Praxis und nicht nur Auswendiglernen war. Obwohl ich hier beim Abfragen merkte, dass man die Theorie schon brauchte. Wenn man nicht wusste, wie die Kreuzbänder verliefen, erkannte man auch auf den MRT- und Röntgenbilder nichts. Erst als Mark auf die Uhr schaute, hörte die Lehrstunde auf.

„Ach Gott, es ist ja schon 20.00 Uhr! Wir haben noch Teamsitzung nach dem Abendessen", stand Mark zwar lachend, aber sehr eilig auf. „Jetzt muss ich mich aber sputen. Lolla, wenn dir bei Thomas langweilig wird, komm einfach vorbei und wenn wir etwas Spannendes haben, dann sage ich dir Bescheid. Den anderen Ärzten gebe ich die Info auch durch, schließlich haben wir nicht alle Tage jemanden hier, der etwas von uns lernen möchte", zwinkerte er mir zu und lief dann aus dem Raum, während Thomas und ich langsamer hinterher gingen, nachdem wir die Rechner heruntergefahren hatten.

„Das war absolut super! Es bringt ganz viel Spaß und ich bin wirklich dankbar, dass ihr mir so viel erklärt habt", bedankte ich mich überschwänglich bei Thomas, der lachte und sich ziemlich zu freuen schien.

„Ich wusste, dass es dir gefällt, mitzukommen. Weißt du, Lolla, ich finde es schade, dass man im Studium nicht mehr praktischen Bezug hat. Deshalb bemühe ich mich, einen Assistenten mitzunehmen. Vor zwei Jahren hatte ich einen jungen Mann im 8. Semester, dem es aber sehr schnell zu zeitintensiv wurde. Dafür ist die Bezahlung eben nicht gut genug."

Da hatte er schon Recht, mit Trinkgeld beim Kellnern verdiente man dort vermutlich mehr, aber dafür lernte man eben nichts beim Tellerabräumen - oder in meinem Fall: beim Teller runterschmeißen.

„Also ich bin super froh, dass du mich mitgenommen hast", sprach ich ehrlich meine Freude aus.

Thomas deutete nach vorne: „Dein Freund sieht gerade allerdings nicht so froh aus."

Ich folgte seinem Blick und sah einen düster dreinblickenden Peter auf uns zu kommen.


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