Kapitel 40

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Erster Tag in Garmisch

„Wollen Sie wirklich noch eins?", schaute mich der Barkeeper an der Hotelbar skeptisch an. Anscheinend konnte er mich nicht einordnen. Wahrscheinlich dachte er, ich wäre eine von den 15-jährigen Fangirls, die gerade eine Abfuhr von ihrem Schwarm bekommen hatte und sich nun besaufen musste.

Wieso war ich eigentlich hierher gekommen? Ich hatte schon bei den letzten Metern gemerkt, dass es gar keine gute Idee war, Trinken zu gehen. Normalerweise hatte ich mich nämlich extrem gut unter Kontrolle - das lag noch an meinem früheren Kontrollwahn - aber wenn ich mal richtig trank, stürzte ich eben auch richtig ab. Die Springer waren nach der heutigen Quali alle bei PR-Terminen und nachdem ich mich morgens bei Thomas doch krank gemeldet hatte - ich konnte nicht in dieses Büro gehen mit dem Ultraschallgerät -, war ich irgendwie hier gelandet. Meine Füße waren wie von selber her gelaufen. Wahrscheinlich, weil ich einfach nur meinen Kopf ausschalten wollte. Ich wollte an nichts mehr vor der ganzen Scheiße denken. Nicht mehr daran, was passiert war. An gar nichts mehr!

Und was half, den Kopf auszuschalten? Richtig: Alkohol.

„Ich bezahle auch", lallte ich auf Deutsch, denn meine Sprache wurde immer am schnellsten undeutlich, und wedelte mit meiner Kreditkarte herum. Also gab der Kerl mir noch eine Wodka-Mische, bei der ich ihm genau gesagt hatte, wie er sie machen sollte. Sonst bekam ich nämlich kein Wodka runter.
Dabei musste ich daran denken, dass Alkohol die selben Symptome hervorrief wie eine Cerebellum (Kleinhirn)-Schädigung. Dieses war in normaler Funktion nämlich an der Blickstabilisierung durch die Hemmung des vestibulookulären Reflex zuständig sowie für Zielmotorik und Stützmotorik. Da die Zellen im Cerebellum gegen Alkohol besonders empfindlich waren, fielen diese Funktionen eben aus, sodass es zu einer allgemeinen Ataxie kam, die besonders in den Extremitäten auftrat, weswegen die Bewegungen unkoordinierter wurden. Genau das selbe Bild in der Sprache, da die Feinmodulation der Sprachmuskeln nicht mehr gewährleistet war - also lallte man. Und es trat eine Gang-und Rumpfataxie mit erhöhter Fallneigung auf.
Der Grund, wieso viele unter Alkohol-Einfluss nicht mehr auf einer geraden Linie gehen konnten. Besonders ich nicht, schließlich trank ich höchstens abends mal ein Glas Wein. Und seit ich mit Peter zusammen war auch das immer weniger - schließlich war Alkohol nicht so gerne gesehen bei Sportlern.

Zwischen diesen Gedanken schaute ich immer auf die Uhr, denn in einer halben Stunde waren die slowenischen Springer mit der Pressekonferenz fertig und dann suchte Peter bestimmt nach mir. Bis dahin musste ich wieder auf dem Zimmer sein, damit er nichts merkte. So hatte ich mir das Ganze zumindest überlegt.

Ich griff nach dem Glas und trank einen Schluck. War ich noch am Anfang von der Bitterkeit des Wodkas ein wenig zusammengezuckt, schmeckte es jetzt richtig gut.
Vielleicht stirbt das Ding ja davon, dachte ich völlig benebelt und fing an - vermutlich ziemlich gruselig - zu grinsen.

„Bist du schonmal verarscht worden im Leben?", versuchte ich dem Kerl hinter dem Tresen in die Augen zu schauen, doch es fiel mir schwer, mich auf einen Punkt zu fokussieren - fehlende Blickstabilisierung! „So richtig. Wo du dir nur noch gedacht hast: bis hierhin und nicht weiter!"

Der Typ schaute mich merkwürdig an. Was hatte der bloß? Total den Stock im Arsch!

„Noch nie? Das glaube ich nicht", lachte ich auf. Alkohol machte mich gegenüber Fremden viel offener, als ich es normalerweise war und bei dem Pegel, den ich mittlerweile hatte, war es echt kein Wunder mehr. „Ich meine richtig verarscht. So richtig!"

„Naja, das Leben ist nicht immer einfach."

„Genau", haute ich mit der Faust auf die Theke und der Typ zuckte ernsthaft etwas zusammen. War dieses dumme Hotel etwa so fein, dass sich hier noch nie jemand besoffen hatte? Seine Sorgen ertränkte, so wie ich es gerade tat?
„Es gibt Grenzen im Leben!", schwafelte ich weiter. Da dachte ich auf einmal an Max. Ob der das gutheißen würde, was ich hier tat? Bestimmt. „Habt ihr Weißwein? Ich muss mal etwas Kultiviertes trinken", kicherte ich bei dem Gedanken an Max. Okay, jetzt dachte der Barkeeper wahrscheinlich wirklich, dass ich 15 Jahre alt war, so kindisch wie ich mich benahm.

„Welchen willst du denn haben?", mittlerweile duzte mich der Barkeeper. Oder es war ein anderer Typ als am Anfang, da war ich mir nicht ganz sicher. „Die Farbe ist entscheidend", hob ich meinen Zeigefinger hoch. „Nicht gelb, nicht blau, nicht grün und auch nicht rot! Weiß soll er sein, weiß wie die Unschuld."

Hatte ich ernsthaft Unschuld gesagt?

Hast du!, kreischte das Teufelchen, dabei hast du schon deine Unschuld verloren und dafür diesen Bastard in deinem Bauch bekommen. Das rote Ungetier drehte sich wie Rumpelstilzchen im Kreis, währenddessen das Engelchen kotzend in der Ecke lag. Anscheinend vertrug es keinen Alkohol.

„Doch kein Weißwein", entschied ich, denn die Farbe hatte mir den Geschmack verdorben. Natürlich hatte der Typ mir das Glas schon hingestellt.

Ach, scheiß drauf, dachte ich mir und trank den Wein. Er war gut, obwohl mir gerade alles gut schmecken würde. Wie ein Weinkenner schwenkte ich den Wein im Glas und tat so, als würde ich mit der Nase dran riechen. Prompt schwappte etwas aus dem Glas über und tropfte auf meine Hose.

Schnell drehte ich mich auf meinem Hocker, um zu sehen, ob jemand mein Missgeschick mitbekommen hatte. Doch außer mir war keiner da und außer, dass mir von der schnellen Drehung schwindelig wurde, passierte nichts. Es war schließlich erst 17 Uhr. Wer saß da außer mir schon am helllichten Tage an der Hotelbar? Richtig: Niemand.

In diesem Moment kam tatsächlich ein blonder, großer Mann in einen blauen Hose und einer Blau-roten Jacke in den Raum. Es sah genauso wie unsere Teamkleidung aus, nur eben in anderer Farbkombination.

„Können Sie mir bitte einen Fencheltee auf mein Zimmer bringen?", fragte er den Barkeeper hinter dem Tresen auf weich klingendem Englisch, der sofort nickte und zu wissen schien, wer das da vor ihm war, denn er fragte nichtmal nach der Zimmernummer.

„Hey, blonder Typ?", sprach ich ihn auf Deutsch an. Ich hatte tatsächlich keine Peilung mehr, schließlich hatte er gerade auf Englisch geredet. Hieß, er konnte vermutlich kein Deutsch. Doch soweit hatte ich bei der Frage nicht gedacht.

„Sorry?", drehte er sich zu mir um, obwohl er schon wieder auf dem Weg zur Tür war. Der Aufenthaltsraum mit der Hotelbar war nämlich mit einer Glasfront und einer Tür von der Eingangshalle abgetrennt. „Was hast du gesagt?", erkundigte er sich auf Englisch. Es klang sehr schön und melodisch in meinen Ohren, nicht so hart wie die deutsche Sprache. Eher skandinavisch.

Bemüht, meinen Blick auf ihn zu fokussieren und mir dabei nicht noch den Rest des Weins über die Jeans zu kippen, guckte ich ihm in die Augen. Sie waren von undefinierbarer Farbe. Blau? Nein. Braun? Nein. Grün? Auch nicht. Irgendwas dazwischen. „Bist du Skispringer?", versuchte ich klar und deutlich zu sprechen, nuschelte aber - Dysphagie. Zumindest sprach ich diesmal Englisch.

„Willst du etwa ein Autogramm, obwohl du mich nichtmal erkennst?", lachte er über mich, sodass ich aufstehen wollte, um meine dämliche Frage wieder gut zu machen. Dummerweise hatte ich den Alkohol unterschätzt und meine praktischen Fähigkeiten, von diesem hohen Barhocker herunterzukommen, hielten sich auch in Grenzen.

„Wow, pass auf!", rief der blonde Skispringer, hielt mich am Arm fest und bewahrte mich vor einer unsanften Begegnung mit dem Boden. „Hast du etwa getrunken? Was machst du eigentlich in dem Hotel, das den Teams vorbehalten ist? Autogramme bekommst du draußen und nicht hier an der Bar."

Bei seinen Worten und dem vorwurfsvollen Blick hätte ich mich normalerweise in Grund und Boden geschämt, doch so machte mir das nichts aus. Wahrscheinlich ekelte er sich total vor mir, weil ich einen Fleck vom Wein auf der schwarzen Jeans hatte und bestimmt ziemlich nach Alkohol roch. Schnell machte ich mich von seinem Arm los und strengte mich an, mich gerade hinzustellen. Ich hätte es doch bei Wein belassen und nicht den Wodka dazu nehmen sollen.

„Ich bin kein Fan!", widersprach ich ihm empört und wollte in Richtung Ausgang gehen, denn die Begegnung regte mich jetzt schon auf. Wieso hatte ich ihn überhaupt gefragt, ob er Skispringer war? Dieses Gespräch war absolut lächerlich. Über die Schulter ergänzte ich noch: „Ich gehöre zu den Slowenen als Teamarzt-Assistentin."

Genau in dem Moment schaute ich durch die Glasfront nach draußen und bemerkte die grüne Teamjacke der Slowenen, da Jernjej durch die Eingangshalle in Richtung der Hoteltreppe joggte. Anscheinend war die Pressekonferenz früher zu Ende als ich geplant hatte, reimte ich mir schnell zusammen.
„Scheiße", fluchte ich auf Deutsch. Das konnte doch echt nicht sein! So viel Pech wie ich konnte man gar nicht haben, das war unmöglich. Wenn Peter mich jetzt angetrunken - okay, betrunken - sah, dann würde er entweder ausrasten oder mich mit Sorgen überschütten. So gut kannte ich seine Reaktionen in extremen Situationen noch nicht, um das einschätzen zu können. Vielleicht auch beides: erst ausrasten und dann die Sorgen. Vor allem würde er rausbekommen, dass ich ihn heute morgen mit der Ausrede, ich sei krank, angelogen hatte. Obwohl ich mich nun tatsächlich krank fühlte. „Scheiße, scheiße, scheiße!"

Da sah ich noch einen Slowenen ins Hotel kommen - es sah nach Tilen aus, der zum Glück nicht in Richtung der Glasfront sah. Dabei hätte ich noch 20 min nach regulärem Zeitplan gehabt. Mit Schwung drehte ich mich um und wäre fast hingefallen, hätte der blonde Typ nicht hinter mir gestanden, der mittlerweile ebenfalls in Richtung Ausgang gegangen war. Was der Barkeeper wohl dachte, so wie ich mich hier aufführte?

„Blonder Typ, du musst mir helfen", sah ich ihn an und realisierte erst dann, dass ich schon wieder Deutsch geredet hatte. Alkohol und meine Sprachfähigkeiten vertrugen sich wirklich nicht gut. „Ich brauche Hilfe", brach meine Stimme weg, aber ich versuchte ihn einschwörend anzusehen, um ihn die Dringlichkeit klar zu machen.

„Was ist los? Soll ich dich nach draußen bringen oder was? Geht es dir so schlecht? Mädchen, was trinkst du denn so viel? Bei deiner Größe sollte man seine Grenzen kennen."

Pff, ich war fast 1,70m groß. Auch wenn er mindestens 1,85m war. Etwas größer als Peter. Aber egal, da konnte ich jetzt keine Zeit für verschwenden, mich über sein Kommentar aufzuregen. Schließlich musste ich handeln, jede Minute konnte Peter durch den Eingang kommen und mich durch die Glasfront sehen.

„Mein Team kommt wieder und du musst rausgehen und Peter davon abhalten hier reinzukommen. Irgendwie, egal wie! Verwickele ihn in ein Gespräch oder so, egal was. Hauptsache, er kommt hier nicht rein! Er darf mich auf keinen Fall so sehen und ich muss schnell in mein Zimmer hochlaufen." Flehend sah ich ihn an. „Bitte, du bist meine einzige Hoffnung." Die Panik machte meinen Kopf wieder klarer und ich merkte, wie ich mich kurz konzentrieren konnte und etwas sicherer stand.

„Peter? Meinst du Peter Prevc? Was hast du denn mit Peter zu tun?" Überhaupt nicht überzeugt von meiner Geschichte, sah mich der blonde Typ zweifelnd an.

„Ist kompliziert, mach einfach. Am besten auch die anderen Slowenen, damit mich keiner sieht. Und erzähl keinem was davon. Du hast was gut bei mir. Jetzt geh."

„Das mache ich nur, weil ich sehr, sehr gespannt auf deine Erklärung morgen bin! Wenn du wieder nüchtern bist. Mach, dass du wegkommst."

Oh Gott, ich hätte dem blonden Fremden um den Hals fallen können. Ihn zu überzeugen hatte bestimmt 5 Minuten gedauert, trotzdem war in der Zwischenzeit kein anderer Springer hereingekommen. Meine Chance! Schnell öffnete ich die Tür, schaute kurz in den Flur und lief dann auf sehr wackeligen Beinen zur Treppe, so wie Jernej vorhin, nur dass es bei ihm sportlich-locker ausgesehen hatte und bei mir vermutlich wie ein Pudel, dem man die Beine verknotet hatte.

Egal, ich musste es bis oben in mein Zimmer schaffen, dann würde ich der Katastrophe nochmal entronnen sein. Also rannte ich die zwei Stockwerke hinauf, merkte mal wieder, dass ich mehr Sport machen und weniger auf Stühlen sitzen und mich vor allem von Wodka fern halten sollte, kam aber tatsächlich bis zu meinem Zimmer.

Mit zittrigen Händen suchte ich die Schlüsselkarte in meiner Hosentasche, zog sie heraus und schloss die Tür auf. Drinnen ließ ich mich außer Atem sofort auf mein Bett fallen. Wollte tief durchatmen und mich wieder beruhigen. Doch mein Körper hatte andere Pläne und ich merkte, dass mir auf einmal speiübel wurde, eilte ins Bad und übergab mich über der Toilette. Na wenigstens nicht auf den Boden, beglückwünschte ich mich selber mit sehr viel Galgenhumor. Noch einmal würgte ich und fragte mich in diesem Moment, wieso zur Hölle ich das hier gerade getan hatte. War es das wert gewesen, dass ich für ein paar Stunden meine Probleme vergessen hatte? Sie mich dafür jetzt aber umso schlimmer und bedrohlicher einholten?

„Lolla, du bist echt dumm", sagte ich laut zu mir selber und nickte, um mich selber zu bestätigen. Obwohl es Max wahrscheinlich sogar als Fortschritt sehen würde, denn ich hatte absolut unlogisch, irrational und dämlich gehandelt. Das komplette Gegenteil der früheren Lolla und das war ja mein Ziel gewesen. Nur den Grund und das Ergebnis fände er nicht so witzig. Seufzend sank ich auf den Badezimmerfußboden, der aus weißen Fliesen bestand, und lehnte meinen pochenden Kopf an der kühlen Heizung an. Das linderte zumindest etwas den Schmerz. Hoffentlich hatte ich Aspirin in meiner Reisetasche oder wie es fachsprachlich genannt wurde: Acetylsalicylsäure. Die hemmte nämlich die Cyclooxygenase, welche man normalerweise benötigte um Prostaglandine zu synthetisieren, die als Schmerzmediatoren bei der Schmerzübertragung (Nozizeption) beteiligt waren.
Schwach musste ich anfangen zu lächeln, wenn ich schon wieder an so etwas denken konnte, musste das Kotzen wenigstens gegen meinen Alkoholpegel geholfen haben.

Tatsächlich konnte ich zumindest etwas klarer als vorher denken, auch wenn meine Kopfschmerzen immer mehr zunahmen. „Verdammt", fluchte ich und spürte erneut, wie mir heiße Tränen die Wange hinab liefen und mein Kinn hinunter tropften. Wie hatte ich von einem auf den anderen Moment so tief sinken können?

Gestern morgen war ich noch glücklich und voller Energie aufgestanden, überzeugt davon, dass mein Leben zwar in anstrengend, aber in Ordnung war. Und nun? Nun war alles aus den Fugen geraten. Wo war vorne, wo war hinten? Wo war unten, wo war oben? Wer war neben mir? Gab es überhaupt jemanden?

Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen und fing an, laut zu schluchzen. So gerne wie ich gestern Abend geweint hätte, so gut konnte ich es gerade, denn dieses Tag hatte mir den Rest gegeben. Klar, hätte ich nicht trinken sollen, denn dadurch fühlte sich jetzt alles noch schlimmer an. Aber ich hatte es gebraucht, für einen Moment aus diesem Albtraum gerissen zu werden. Wie kam ich hier nur wieder heraus? Für einen Moment sehnte ich mich nach Peter an meiner Seite. Jemand, der mich in Arm nahm, mich ganz doll festhielt und sagte, dass alles in Ordnung war. Auch wenn es das nicht war.

Doch es war keiner hier. Peter durfte ich jetzt nicht ablenken, denn sein Sport ging vor. Sein Sport würde immer vorgehen. Es war hart mir das einzugestehen, doch ich wusste es. Und spürte es in genau diesem Moment. Doch jetzt gerade brauchte ich ihn. Jede Faser meines Körpers verlangte von mir, zu ihm zu gehen und mich trösten zu lassen, mich an seine Brust zu schmiegen und seinen Pfefferminz-Zitronen-Duft mit Nivea-Shampoo-Note einzuatmen. Durch seine weichen braunen Haare zu fahren und ihm dabei zuzusehen, wie er die Augen schloss, weil er es so gerne mochte, wenn ich ihm durch die Haare fuhr.
Doch ich konnte es nicht. Konnte das nicht ausblenden. Dieses Ding. Mich. Meine Gefühle. Uns. Was es bedeutete.

Verzweifelt schloss ich meine Augen, während ich immer noch auf den Fliesen saß, meinen Kopf an der kühlen Heizung lehnte und mir die Tränen unter den Wimpern hervorquollen und auf den Boden tropften. So saß ich einfach nur da und fühlte, wie alles aus mir raus lief, was meine Glandula lacrimalis (Tränendrüse) fähig war, zu produzieren. Irgendwann kam ich mir vor wie ausgesaugt, als wäre alles Wasser, dass ich im Körper hatte, rausgelaufen. Zumindest hatte mein Magen sich beruhigt und mir war nicht mehr so schlecht.

Stöhnend versuchte ich, mich am Waschbecken hochzuziehen, doch rutsche beim ersten Mal gleich auf den Fliesen aus, schlug mir aber glücklicherweise nicht auch noch die Stirn auf. Das war noch das, was mir fehlte! Am besten eine tiefe Platzwunde und die A. temporalis (Schläfenarterie) getroffen, sodass es richtig doll blutete. Noch einmal nahm ich meine Kraft zusammen und stand wenig später auf meinen Füßen. Sollte ich in den Spiegel schauen?

Ich wagte es, die Überraschung hielt sich allerdings in grenzen, denn ich hatte nicht wirklich erwartete, jetzt wie die letzte Schönheit auszusehen. Stattdessen erkannte ich mich selber kaum wieder. Verstopfte Nase, rote Augen, Tränen im ganzen Gesicht und auf meinem Sweatshirt verschmiert, meine Haare konnten sich nicht zwischen Vogelnest und Irrgarten entscheiden. Kurzerhand drehte ich den Wasserhahn auf und schüttete mir Tonnen von eiskaltem Wasser über das Gesicht, bis ich das Gefühl hatte, wieder einigermaßen ich selber zu sein. Kopfschüttelnd wühlte ich in meiner Reisetasche und fand eine Tablette, die ich sofort mit einem Schluck Wasser herunterspülte.

Mir blieb nichts anderes übrig - und ich wollte auch nichts anderes - als mich für den Rest des Tages in mein Bett zu legen und den Kopf unter der Bettdecke zu verstecken. Vorher zog ich mir eine Jogginghose und einen Kapuzenpullover an, denn in der Jeans mit Weinflecken und dem vollgeheulten, nassen Sweatshirt fühlte ich mich wie der letzte Penner an der Straßenecke von nebenan. Da ich nach einer Minute im Bett die Stille nicht mehr aushalten konnte, griff ich nach meinen Kopfhörern und machte die Zufallsauswahl an.

Sollte ich Max anrufen? Doch der wäre vermutlich auch völlig überfordert in dieser Situation, schließlich konnte er mir in dieser Situation auch nicht helfen und mit gutem Zureden würde sich auch nichts ändern. Auf der anderen Seite könnte ich auch „nur" Zuspruch gebrauchen. Aber in diesem Zustand konnte ich mit keinem Reden, denn auch wenn ich mich übergeben hatte, waren meine Gedanken immer noch vernebelt. Besonders fiel ich gerade in ein absolut melancholisches Loch, wie ich hier lag: allein, zusammengekrümmt und mit einem Haufen Probleme. Ohne den einzige Menschen, der mir gerade wirklich hätte helfen können.

Wäre ich mir wenigstens sicher, wie Peter reagieren würde! Eigentlich wäre es mir das liebste, könnte ich das schlagende Herz in meinem Bauch loswerden, ohne das es jemand mitbekam. Einfach still und heimlich in die Klinik fahren, kurz im OP dem Chirurgen und dem Anästhesisten Hallo sagen, dann wieder nach Hause und ohne komische Gedanken mich zu Peter legen können.

Nie wieder würde ich mir Antibiotika von diesem Arzt verschreiben lassen, ohne dass er mich über alle, aber wirklich alle möglichen Kontraindikationen (Interaktion zwischen Medikamenten bzw. neg. Auswirkungen auf die Wirkungsweise) aufklärte!

„Sag mal, weinst du oder ist das der Regen, der von deiner Nasenspitze tropft? Sag mal, weinst du etwa oder ist das der Regen, der von deiner Oberlippe perlt. Komm her, ich küss den Tropfen weg. Probier ihn, ob er salzig schmeckt."

Sofort griff ich nach meinem Handy und drückte auf „Weiter", denn solche Liebeslieder konnte ich gerade nicht hören. Schon wieder spürte ich, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, obwohl ich gedacht hatte, dass keine mehr kommen könnten. Aber ich wollte nicht schon wieder weinen, daher biss ich mir auf die Wange, was zwar unglaublich weh tat, aber es half mir immer, durch den Schmerz die Tränen zurückhalten zu können.

"Living is easy with eyes closed." Scheiße, wie lange hatte ich keine Musik mehr auf meinem Handy gehört? Ich wusste gar nicht mehr, dass ich diese Lieder hier drauf hatte. Die Beatles hatte mein Vater immer gehört. Auf seinem alten Plattenspieler, einer der schönen Erinnerungen in meinem Leben, wie ich manchmal stundenlang davorgesessen hatte und mir die alten Platten von ihm früher angehört hatte. Damals liebte ich die Beatles und konnte jeden Text auswendig. Mittlerweile hörte ich sie nicht mehr, denn sie erinnerten mich immer an früher. So wie jetzt.

„Misunderstanding all you see." Mir kam es gerade vor, als wäre das Lied auf meine Lebensgeschichte geschrieben worden. Verstand ich vielleicht wirklich alles falsch und es würde alles gut werden, wenn ich mit Peter sprach? Log ich an, indem ich ihm nichts sagte? Machte ich gerade einen Riesenfehler?

Doch ich wollte darüber jetzt nicht nachdenken und drückte wieder auf weiter. Da kam Elise von Ludwig van Beethoven. Scheiße, auch das war als ich noch ganz klein war, mein absolutes Lieblingslied gewesen und ich hatte es so oft gespielt, dass sich die Noten ganz tief in mein Gehirn gebrannt hatten. Obwohl ich es so tapfer durchgehalten hatte, stahl sich nun doch eine Träne aus meinem Augenwinkel hervor.

Willst du etwa wieder so werden wie früher, Lolla? rief meine innere Stimme nun ganz empört.

„Nein!", antworte ich laut in das eigentlich stille Zimmer, welches für mich aber erfüllt von den Zeilen der Lieder und meinen Gedanken und Gefühlen war. Quasi ein einziges Stimmengewirr.

Nun mischte sich auch noch der Engel ein. Du wirst das schaffen, Lolla. Du bist stark genug und du hast mittlerweile schon so viel geschafft! Mit Peter zusammen wirst du auch dieses Hindernis meistern. Zum Glück sah ich den Teufel nirgends und als mich das Engelchen mit einer Handvoll Blütenstaub bestreute, merkte ich wie ich langsam ruhiger wurde und wieder Hoffnung schöpfte.

Was verrückt war, denn auf der einen Seite machte mich die Musik unheimlich traurig, weil sie mich an früher erinnerte, aber auf der anderen Seite zeigte sie mir in diesem Moment, dass ich schon andere Hürden und Schwächen überwunden hatte. Verdammt! Ich hatte es geschafft, Deutschland und meiner Familie zu entkommen, vor allem aber meinem freudlosen Leben von früher. Das, was ich hier in Slowenien erreicht hatte, konnte ich mir doch nicht einfach so wieder nehmen lassen!

Wieder musste ich unter Tränen lächeln und spürte wie mein Herz aufging. Peter! Dabei kam mir wieder in den Kopf, was Cene mir am ersten Abend, als er mich erschreckt und ich ihn mit der Bratpfanne bewusstlos schlagen wollte, erklärt hatte: Peter liebte seinen Sport und ich konnte, durfte und brauchte nicht von ihm verlangen, dass er diesen für mich aufgab. Genauso wenig, wie er es mit meinem Studium zu versuchen brauchte. Es war eben so, dass für uns beide diese Bestandteile so elementar waren, dass es nicht ohne sie ging. Auch wenn das nicht hieß, dass kein Platz für den jeweils anderen war. Anstatt traurig darüber zu sein, dass ich ihn nicht ständig um mir hatte, sollte ich glücklich sein. Und dankbar. Und nicht ständig egoistisch und selbstbezogen. Erst jetzt verstand ich eigentlich, was Cene mir damals zu erklären versucht hatte.

Als ich dies dachte, klopfte es an der Tür.

Erstaunt, wer das sein konnte, ging ich hin und war überrascht als Thomas vor der Tür stand. Hoffentlich hatte der Blonde sein Wort gehalten und nichts gesagt. Ach Gott, wie viel Unsinn ich heute gebaut hatte. Den blonden Typ hatte ich schon wieder total vergessen, ich erinnerte mich gar nicht mehr genau, was vorhin passiert war, so doll hatte ich es verdrängt.

„Hey Lolla. Ich wollte mal schauen, wie es dir geht. Darf ich reinkommen?", fragte mich der Teamarzt und seine Brille rutschte ihm wieder mal die Nase herunter. Ganz ohne Kittel sondern in der grünen Teamjacke des slowenischen Teams sah er aus, wie ein ganz normaler Mensch. Ich konnte ihn mir gut vorstellen, wie er mit seiner Familie am Abendbrottisch saß und seinen Söhnen bei den Mathehausaufgaben half. Durch seine ruhige, besonnene und vertrauensvolle Art stellte ich ihn mir als einen sehr guten Vater vor.

„Wie geht es dir denn? Machst du dir immer noch Sorgen wie gestern?", wollte er wissen, nachdem ich ein Stück nach hinten getreten war und die Tür geöffnet hatte, um ihn reinkommen zu lassen. Er trat in mein Zimmer und rümpfte die Nase.

„Was ist das? Es riecht so nach...Alkohol. Aber das kann nicht sein, was ist das Lolla?"

Ernsthaft? Also ich roch überhaupt nichts, aber meine Nase war ja auch die letzten paar Stunden durchs Weinen verstopft gewesen. Roch es etwa aus dem Bad oder war es meine Hose mit dem Wein drauf? Natürlich hatte ich nicht das Fenster geöffnet, schließlich hatte ich vorhin noch andere Probleme im Kopf gehabt.

Prüfend sah er mich an, sodass ich mich mal wieder wie beim Röntgen fühlte und mich unwillkürlich tiefer in meinen Pullover kuschelte, um mich vor ihm verstecken zu können. Was natürlich super funktionierte.

„Hast du etwa getrunken? Lolla, du solltest dich ausruhen und spazieren gehen, keinen Alkohol trinken! Vor allem: du weißt schon noch, dass du schwanger bist oder?"

Ne, das hatte ich vergessen. Was dachte Thomas denn, wie gut ich Sachen ausblenden konnte?Ich war zwar wirklich gut darin, aber so gut auch wieder nicht.

„Ja und? Ich treibe doch eh ab, das habe ich dir doch gestern gesagt. Sobald wir wieder zurück sind und ich mit Peter gesprochen habe." Langsam setzte ich mich auf mein Bett, während Thomas das Fenster aufmachte.

„Na und? Trotzdem hätte das nicht sein müssen. Aber egal, das ist deine Verantwortung. Du studierst Medizin, also weißt du um die Risiken. Wenigstens scheinst du mir jetzt wieder ziemlich nüchtern zu sein. Muss ich daraus schließen, dass der Tag ziemlich hart für dich war?"

Nickend schaute ich auf meine Füße, die ihn meinen neuen Lieblings-Socken steckten: Sie waren rot und mit blauen Skispringern drauf. Peter hatte sie mir vor meiner Prüfung als Glücksbringer geschenkt und wollte mir immer noch nicht verraten, wo er die herhatte. Seitdem hatten sie einen Ehrenplatz in meinem alten Schrank zuhause.

„Peter hat nach dir gefragt, falls dich das aufheitert", lächelte Thomas mich mit einem sanften Funkeln in den Augen an.

Bei Peters Namen hob ich sofort den Kopf: „Ist er sauer auf mich?", fragte ich zweifelnd mit leiser Stimme. Schließlich hatte ich Peter gestern Abend total ablehnend ohne jede Begründung abgewiesen. Er hätte jeden Grunde, auf mich sauer zu sein.

Vertrauensvoll zwinkerte mir Thomas zu. „Er hat sich Sorgen um dich gemacht. Sauer schien er mir nicht zu sein. Soll ich im sagen, dass er zu dir kommen soll oder brauchst du noch Zeit, um dein heutiges Abenteuer zu verarbeiten?" Ein bisschen vorwurfsvoll, aber auch belustigt sah er mich an und ich war total froh, dass er mir keine Moralpredigt gehalten hatte. Schließlich wusste ich selber, dass ich mich daneben benommen hatte. Ja sogar noch mehr, als Thomas dachte, denn er hatte mich vor ein paar Stunden schließlich nicht gesehen.

„Was hast du ihm überhaupt gesagt, was ich habe?", wollte ich wissen, denn eigentlich war die Absprache, dass ich ja von der Schanze wegblieb, weil ich krank war.

„Nur, dass du schlimme Kopfschmerzen hast. Also nichts ansteckendes."

Außerdem hatte ich vorhin ja sogar Kopfschmerzen, also war es nicht mal gelogen Peter gegenüber. Das war mir wichtig, denn nichts zu sagen war eine Sache, ihn direkt anzulügen eine andere.
Natürlich nickte ich übertrieben heftig und sprang gleich auf, um meine dreckigen Sachen, die ich vorhin nur auf den Boden geworfen hatte, in meine Tasche zu werfen. „Riecht es hier noch komisch?", rief ich Thomas hinterher, der schon wieder auf dem Weg zur Tür war. Er drehte sich nochmal um: „Ganz ruhig, Lolla, so schlimm war es nicht. Meine Nase ist nur sehr geschult. Schließlich war ich auch mal Student." Lachend ging er hinaus durch die Tür auf den Flur und ließ mich grinsend zurück.

Über den Dächern der WeltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt