Kapitel 19

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Peters Sicht

„Ich kann kaum glauben, dass schon Sonntag Abend ist", sagte Lolla neben mir im Auto, während ich über die dunkle Landstraße fuhr. In 15 Minuten würden wir die Stadt erreichen.

„Kommst du mit zu mir?", fragte ich sie und schaute sie kurz von der Seite an.

„Magst du bitte auf die Straße gucken, Peter? Sonst geht nämlich gar keiner zu dir, weil wir am Baum da vorne kleben", ermahnte Lolla mich. „Und ich habe morgen Uni und überhaupt nichts vorbereitet. Und ich habe keine Uni-Sachen mit dabei. Ich habe ja nicht mal Anziehsachen", lachte sie und zupfte an ihrem T-Shirt.

„Du ziehst einfach wieder Sachen von mir an", grinste ich. „Außerdem sind deine Klamotten jetzt bestimmt trocken. Was hast du denn morgen für Fächer?"

„Von 10 bis 14 Uhr Sprachkurs und 16 bis 18 Uhr Physiologie-Seminar", antwortete sie mir.

„Lolla, du musst ehrlich nicht zum Sprachkurs. Du sprichst sehr gut, du verstehst alles, was ich sage, du hast meine Eltern verstanden, sogar Thomas mit den medizinischen Sachen verstehst du", versuchte ich ihr einzureden.

Kein Wunder, dass Lolla die ganze Zeit müde war, wenn sie sich den Stundenplan so voll haute und auch noch zum Sprachkurs ging. Was wirklich unnötig war. Außer dem R, ein paar Aussprache- und Grammatikfehlern sowie allgemein ihrem deutschen Akzent gab es nicht wirklich viel, was sie hätte verbessern können. Vermutlich war sie schriftlich nicht so gut wie mündlich, da sie ja immer nur redete, aber sie studierte doch eh auf Englisch.

„Das Medizinische ist auf Latein und Griechisch", versuchte sie mein Argument zu entkräften.

„Kostet der Kurs etwas?", wollte ich wissen.

„Ne, der ist ja von der Uni und freiwillig."

„Siehst du!" Das hatte ich erhofft, dann musste sie da ja nicht hingehen. „Also kannst du den ausfallen lassen."

„Aber es bringt mir Spaß, etwas über die Sprache und Grammatik zu lernen. Außerdem mag ich die Leute da."

Wenn ich Lolla mit nach Hause nehmen wollte, musste ich es anders angehen. So hatte sie viel zu viele gute Argumente. „Für dieses Seminar morgen, musst du da was vorbereiten? Wirst du abgefragt oder so?"

„Ne, in Seminaren wird man nicht wirklich abgefragt. Aber wenn man keine Ahnung hat, dann versteht und lernt man nichts, sondern lässt das nur an sich vorbeiziehen. Und das rächt sich am Ende des Semesters, weil man vor der Klausur dann einen riesigen Berg an Stoff zu lernen hat."

„Aber es passiert nichts, wenn du morgen keine Ahnung hast?"

„Stimmt, aber sieh mal Peter: Wenn du morgen nicht zum Training gehst, passiert dir auch nichts. Du verlierst keinen Wettkampf, wirst nicht aus der Mannschaft geschmissen, nichts. Es hat quasi keinerlei Konsequenzen. Aber wenn du immer nur danach handelst, stehst du im Winter da und hast nicht trainiert, richtig?"

Da konnte ich nichts gegen einwenden, also nickte ich.

„Medizin ist genauso. Nur stehst du da vor den Klausuren und kannst nichts. Aber das kann man nicht an zwei Tagen wieder aufholen, du kannst schließlich auch nicht deine Saisonvorbereitung in einer Woche machen. Deshalb ja, ich muss mich vorbereiten. Zumindest sollte ich mir einmal das Thema durchlesen."

Angestrengt überlegte ich, denn mittlerweile waren wir fast in der Stadt. Aber ich wollte nicht ohne Lolla in meine Wohnung zurück! Mit ihr zusammen war sie auf einmal viel schöner und gemütlicher geworden. Alleine war es immer so unbelebt und farblos.
Ich wollte nicht alleine in meinem Bett liegen und an Lolla denken, sie aber nicht in den Armen halten können. Davon hatte ich in den letzten Wochen, eigentlich seit ich sie kannte, also seit mehr als einem Monat, viel zu viele Nächte gehabt.

„Steht das Physio-Zeug im Internet?", hatte ich vielleicht eine Lösung gefunden.

„Schon."

Sehr gut, frohlockte ich im Inneren. „Dann liest du dir einfach auf meinem Laptop nachher das Thema durch. Ich bringe dich morgen früh mit dem Auto bis nach unten zu deinem Berg, wenn ich zum Training fahre, und morgen - ganz ausnahmsweise, auch wenn es dir so viel Spaß bringt - lässt du den Sprachkurs ausfallen und dann hast du ja bis 16.00 Uhr Zeit zu lernen."

Ich fand das einen ziemlich perfekten Plan. Sie seufzte und ich verlor schon die Hoffnung. „Bitte, bitte, bitte Lolla. Du würdest mich sehr glücklich machen damit", fügte ich noch hinzu.

„Du bist verdammt hartnäckig, weißt du das?", fragte sie in einem Tonfall, an dem ich, ohne sie anzusehen, hörte, wie sie lächelte, und legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel. Die Stelle an meinem Bein fing sofort an zu kribbeln.

„Du hast gewonnen", gab Lolla nach.

„Mindestens so gut wie ein Weltcupsieg", stellte ich fest und freute mich wie ein kleiner Junge. „Würdest du aber bitte deine Hand von meinem Bein nehmen? Sonst kleben wir gleich wirklich am Baum", bat ich, denn jetzt fiel es mir schwer, mich auf die dunkle Straße zu konzentrieren.

Lolla nahm ihre Hand von meinem Bein und legte sie stattdessen auf meine rechte Hand, die auf dem Schaltknüppel lag. Ihre Hand war schon wieder kalt, aber mittlerweile wunderte ich mich eher, wenn sie mal warm war.

Fünf Minuten später parkte ich das Auto wenige Meter von der Wohnung entfernt und wir gingen ins erste Stockwerk hoch, zogen uns die Jacken und Schuhe aus, wobei Lolla mit dem Rücken zu mir stand. Leise ging ich einen Schritt näher an sie heran, schlang meine Arme um ihre Hüfte und hob sie hoch.

„Peter, lass mich runter!", meckerte sie und versuchte sich aus meinem Griff zu winden, aber zumindest dafür reichte mein Training. Ich wusste zwar nicht, wie die Saison werden würde, aber wenigstens Lolla festhalten konnte ich. Für den Moment reichte mir das vollkommen.

„Und wovon träumst du nachts?", fragte ich Lolla grinsend. „Dachtest du ernsthaft, dass ich dich runter lasse?", ließ ich sie auf mein Bett fallen.

„Nicht von dir", schob sie beleidigt ihre Unterlippe vor und drehte sich zur Seite.

Ich ließ mich neben sie fallen: „Als ob du nicht von mir träumst", neckte ich Lolla und drehte sie zu mir rum. Sie drehte sich wieder weg.

„Darf ich dich jetzt nicht mehr küssen oder was?", ich hatte mich die ganze Autofahrt schon darauf gefreut.

„Nö", spielte sie beleidigt. Ich legte Lolla meine Hand in den Nacken und massierte sie leicht mit dem Daumen in kreisenden Bewegungen und gab ihr einen Kuss auf ihre helle Haut.

„Jetzt?", fragte ich sie.

„Ne, du darfst aber weiter machen."

„Oh vielen Dank, die werte Dame, dass Sie mir das erlauben. Ich darf", alberte ich herum, drehte sie aber auf den Bauch, sodass ihr Rücken zu mir zeigte, und massierte ihren Nacken und die Schultern mit beiden Händen.
Anscheinend war ich nicht schlecht darin, denn Lolla entspannte sich merklich. Ich konnte spüren, wie ihre Muskeln locker wurden. Es war interessant, sonst wurde immer nur ich von irgendwelchen Physio's massiert und dabei war natürlich jeder Handgriff professionalisiert. Es aber an Lolla zu spüren, wie sie sich entspannte, war ein ganz neues Gefühl für mich.

„Also ich will ja nichts sagen, aber ohne T-Shirt wäre es bestimmt noch angenehmer." Nein, ich hatte keine Hintergedanken.

Aber Lolla war mir geistig in dem Sinne eh voraus und durchschaute mich sofort. „Peter, die Unschuld in Person, was?", lachte sie ins Kissen hinein.

Ungläubig sah ich aber, wie sie tatsächlich ihr T-Shirt vorne aus der Hose zog und es nach oben schob. Zwei Sekunden später lag sie in BH vor mir - der mir verdächtig nach schwarzer Spitze aussah - und ich sah auf ihren Rücken. Sanft fuhr ich mit der Hand ihre Wirbelsäule herunter. An dem Verschluss hielt ich kurz inne.

„Denk nicht mal dran, den zu öffnen, Peter!", warnte sie mich.

Das würde ich nicht tun. Ich war schon mehr als überwältigt davon, dass sie mir bis hierhin vertraute. Und dieses Vertrauen würde ich nicht sofort wieder zerstören durch eine unüberlegte Aktion.
Als Antwort küsste ich sie zwischen den Schulterblättern und lies meine Hand auf ihrem Rücken liegen. „Lolla, ich habe dir gesagt, dass du mir vertrauen kannst und das werde ich nicht brechen."

So schnell konnte ich gar nicht gucken, wie sich umgedreht hatte und mich zu sich runter zog. Stürmisch fing sie an, mich zu küssen und ich erwiderte ihren Kuss nur zu gerne. Als sie mich wegschob, um zu atmen, sah sie mich an: „Ich vertraue dir, Peter. Sonst würde ich gerade nicht hier liegen."

Sie hatte es mit ernster Stimme gesagt und ich lachte nicht drüber oder scherzte. Ich spürte, dass sie es genauso meinte. Lolla vertraute mir.

Ganz zart senkte ich meine Lippen auf ihre und ließ sie dann ihren Hals hinunter wandern.

„Wehe, du machst mir wieder einen Knutschfleck", hörte ich ihre Stimme in einem strengen Tonfall und ich schaffte es irgendwie, zu lachen und sie gleichzeitig zu küssen. „Ich musste den letzten die ganze Zeit mit den Haaren überdecken und Nina habe ich erzählt, ich hätte eine Allergie gegen mein Waschmittel bekommen."

Jetzt löste ich mich von ihr und musste wirklich lachen. „Gegen dein Waschmittel?"

Sie grinste beschämt: „Ja, ich weiß, war nicht so ganz das Intelligenteste, was ich von mir geben konnte. Es war spontan, ich hatte nicht nachgedacht, dass man am Hals ja nicht soo viele Klamotten trägt, vor allem hatte ich nichtmal einen Schal."

„So wie Domen beim Training einmal. Er war zu spät gekommen und sagte ernsthaft, er hätte seinem Opa beim Rasen mähen helfen müssen. Es war noch dunkel. Es war acht Uhr. Und es hatte geregnet." Ich musste immer noch den Kopf schütteln, bei dem Gedanken daran.

„Hört sich nach Domen an. Ist er damit durchgekommen?", schmunzelte Lolla, während ich anfing, ihr Kreise auf den flachen Bauch zu zeichnen.

„Natürlich nicht. Die Trainer wussten sofort, dass das Quatsch war. Vermutlich waren sie sich nichtmal sicher, ob Domen überhaupt weiß, wie ein Rasenmäher angeht. Er musste einen Kasten Bier für die Mannschaft ausgeben."
Ich schaute Lolla zu, wie sie genießerisch die Augen geschlossen hatte. Ich versuchte, mir dieses Bild ganz tief in mein Gehirn zu brennen, für die Nächte, die ich sie nicht vor mir in meinem Bett liegen haben würde, ohne T-Shirt mit offenen Haaren und geschlossenen Augen.

„Den Kasten musste ich im Übrigen kaufen, weil er vergessen hatte, in den Supermarkt zu fahren."

„Muss cool sein, so einen kleinen Bruder zu haben", sagte sie mit einer leicht traurigen Stimme.

Ich wurde sofort aufmerksam. Ob ich sie fragen sollte? Erstmal abwarten, beschloss ich. Vielleicht kam es ja von ihr aus.

„Ich hätte gerne einen kleinen Bruder gehabt oder so süße kleine Schwestern. Du hast echt nette Eltern, Peter", öffnete Lolla ihre Augen und sah mich an. „Nimmst du mich irgendwann nochmal mit?"

Wie könnte ich diesen grauen Augen etwas abschlagen?

„Natürlich, so oft du willst", versicherte ich ihr leise und küsste sie sanft. „Wie sind deine Eltern so? Bestimmt ist es nicht so chaotisch wie bei uns, oder?", sagte ich in einem lockeren Tonfall und lachte, um die Frage normal klingen zu lassen.

Lolla schluckte kurz. „Geht so. Nicht so cool wie deine. Hey, du hast mir versprochen, dass ich an deinem Laptop lernen darf", sah sie mich nun erwartungsvoll an. „Versprochen ist versprochen!", erinnerte sie mich.

Das war eine deutliche Antwort gewesen. Anscheinend noch zu früh. Ich beschloss, Lolla nicht weiter auszufragen - das würde sonst den kompletten Abend ruinieren, da war ich mir sicher. Und ich hatte sie nicht zu mir in die Wohnung geholt, um ihr jetzt wehzutun.

„Schon gut, kannst du alleine aufs Sofa gehen oder soll ich dich tragen?", neckte ich Lolla und sie boxte mir grinsend gegen die Brust, stand auf, schnappte sich ihr T-Shirt und lief ins Wohnzimmer zum Sofa.

Ich ging ihr langsamer hinterher, holte in der Küche erst mein Laptop, der auf dem Tisch lag, und folgte ihr dann.

„Oh, der feine Herr hat ein MacBook. Vielleicht sollte ich auch Skispringer werden. Ist wahrscheinlich rentabler als erstmal 6 Jahre zu studieren und sich dann kaputt zu arbeiten", verspottete sie mein graues MacBook, was ich ihr auf die Knie legte.

Mich erstaunte, dass sie ihr Studium so sah, obwohl es ihr so wichtig war und sie es so liebte. Ich wusste nicht, ob ich es realistisch oder negativ nennen sollte. Oder irgendwas dazwischen.

Lolla klappte es auf. „Was ist dein Passwort? Muss ich vor irgendwas Angst haben, was sich hier drauf befindet?", fragte sie mich und lächelte verschmitzt.

Ich setzte mich neben sie aufs Sofa und zog sie auf meinen Schoß beziehungsweise vor mich, sodass ich über ihre Schulter auf den Bildschirm schauen konnte. Mich interessierte, was sie lernen musste. Schließlich war es eine ganz andere Welt, als die, die ich kannte.

„Von uns allen laufen die Geräte über das Geschäft von Dad, das kann man steuerlich absetzen", erklärte ich ihr.
Natürlich hatte ich einige erfolgreiche Jahre mit Prämien hinter mir. Aber ich wollte gar nicht an meine nicht vorhandenen Gewinne aus der letzten Saison denken. Zum Glück hatte ich noch Sponsorenverträge aus den Vorjahren, mit denen ich beispielsweise die Wohnung bezahlte. Trotzdem hoffte ich inständig, dass die nächste Saison besser wurde.

„Primoz Peterka", antwortete ich Lolla auf ihre Frage nach dem Passwort.

„Was für ein Zeug?", drehte sie sich verständnislos um. „Siehst du, deshalb hätte ich morgen in den Sprachkurs gehen sollen. Ich verstehe längst nicht alle Wörter."

Das, was ich an Perfektionismus im Springen hatte, schien sie beim Lernen zu haben. Jetzt verstand ich, wenn meine Teamkollegen manchmal die Augen über mich verdrehten.

„Das ist kein Wort, sondern ein Name. Ein früherer slowenischer Skispringer, kennst du den?", fragte ich sie, wobei ich natürlich wusste, dass sie ihn nicht kannte. Aber sie war so süß, wenn sie sich aufregte.

Sie rümpfte die Nase: „Hey, ich kannte nichtmal deinen Namen vorher, Peter! Wie soll ich jetzt auch noch Skisprunghistorie wissen? Ich kannte ja nichtmal den Boyfriend-Hosen-Typ aus Österreich. Der, der mit der lieben Marisa zusammen ist."

Lolla lachte und ich musste mitlachen. Sie schaffte es immer wieder, jede Situation einzigartig zu machen.

„Primoz Peterka war Skispringer bis ungefähr 2006, aber seine letzten Jahre waren nicht bedeutsam. Er hat mit 17 seinen ersten Weltcupsieg geholt, also so wie Domen letzte Saison, wurde dann in Slowenien total gefeiert, kam mit dem Ruhm nicht klar, hatte Alkoholprobleme, psychische Probleme und beendete dann ziemlich schnell seine Karriere.
Früher, als ich klein war, war er mein größtes Vorbild, mittlerweile ist er mir eine Warnung, dass ich mich nie von mir selber und dem Fokus abbringen lassen darf."

Alles, was ich Lolla erklärte, war absolut ehrlich. Tatsächlich hatte ich letzte Saison ab einem gewissen Punkt Angst bekommen, dass es bei mir genauso laufen würde wie bei Peterka, wusste rational aber, dass das völliger Quatsch war. Wenn ich hart genug arbeitete, würde auch der Erfolg wiederkommen. Da war ich mir sicher.
Ich griff um Lolla herum und tippte das Passwort ein, denn sie würde bestimmt nicht wissen, wie man den Namen schrieb.

„Oh Gott, ist das süß! Bist du das?", wurde sie ganz aufgeregt, als sie meinen Hintergrund sah, und ich hielt vorsichtshalber das Laptop fest. Dad würde mich umbringen, würde ich es kaputt machen.

„Was habe ich dir mit dem „süß" gesagt?", fragte ich sie und machte schnell das Internet auf, damit sie nicht noch länger das Kinderfoto von mir zwischen meinen Eltern anschauen konnte.

Beleidigt drehte sich Lolla zu mir um: „Vorhin bei deinen Eltern sollte ich das noch sagen."

„Da hast du ja auch behauptet, dass Ema süßer sei als ich."

„Ist sie auch."

„Ey, gerade eben war ich noch süß!"

„Bevor du mir gesagt hast, dass ich nicht sagen soll, dass du süß bist."

„Dass du nicht sagen sollst, dass ich süß bin, heißt aber nicht, dass du mich nicht süß finden sollst", versuchte ich ihr zu erklären.

„Aber wenn du mir sagst, dass ich dir nicht sagen soll, dass du süß bist, wenn du süß bist, dann ist das Verbot für mich, dass ich dir nicht mehr sagen soll, dass du süß bist, selbst wenn du süß bist, nicht mehr süß."

Also bei dieser Logik und Argumentationstechnik bezweifelte ich nicht, dass sie hervorragend durch ihr Studium kam. „Ich habe keine Ahnung, was du mir gerade sagen willst", gab ich zu und gab ihr stattdessen einen Kuss.

„Bedeutet, dass ich gewonnen habe", freute Lolla sich und drehte sich wieder zum Laptop hin.
Schnell tippte sie eine Adresse ein, loggte sich in etwas ein, das sich „In-med" nannte und von der Uni zu sein schien, und öffnete eine sehr kompliziert aussehende PDF Datei, die sich:

„The principles of the Franck-Starling mechanism and the heart efficiency"

nannte. Sie scrollte auf Seite 34 von 85 Seiten vor, zog das Laptop näher an sich, lehnte sich zurück und legte ihren Kopf in die Kuhle zwischen meinem Hals und Schulter. Ich gab ihr einen Kuss in die Haare.

Gespannt schaute ich auf den Text. Da waren viele Graphen und Diagramme mit bunten Kurven und englischen Erklärungen. Ich fing an zu lesen:

„Premature ventricular contraction causes early emptying of the LV into the aorta. Since the next ventricular contraction occurs at its regular time, the filling time for the LV increases, causing an increased LV end-diastolic volume..."

Was wollten die von mir?

Mal ganz davon abgesehen, dass mein Englisch im Vergleich zu den anderen Skispringern wirklich nicht das Beste war - die Norweger und die Deutschen sprachen alle viel besser als ich - waren viel zu viele Fachwörter in diesem Text. Bestimmt Latein oder Alt-Griechisch oder was die da alles hatten. Meinetwegen auch Hebräisch - ich zumindest verstand es nicht.

Lolla schien meine Meinung nicht zu teilen, zumindest machte sie einen ganz entspannten Eindruck, las sich den Text durch und scrollte ab und zu eine Seite weiter. Nach zehn Minuten hielt ich es nicht mehr aus: „Warte mal: Verstehst du das gerade ernsthaft?"

Erstaunt drehte sie sich um. „Wieso sollte ich das nicht verstehen?", schaute sie mich mit großen Augen an.

War das ihr Ernst?

„Das ist Englisch", fing ich an aufzuzählen, „da sind komische Diagramme, die aussehen, als würde Ema mit Buntstiften malen, da sind lauter seltsame Abkürzungen und Bustaben durcheinander gewürfelt und Fachwörter. Hier...", ich zeigte auf eine Stelle im Text, die es besonders in sich hatte, „...LV, FSM, sRR, AMP, PCA, du willst mir nicht ernsthaft sagen, dass du das verstehst, oder?"

„Wenn du damit jeden Tag zu tun hast, ist es nicht so schwer. LV zum Beispiel steht für Left Ventrikel, also die linke Herzkammer. Du weißt ungefähr, wie ein Herz aussieht, oder?"

Ich nickte, das wusste ich. Herz hatte man schließlich schonmal gehört und als Sportler kannte man sich zumindest ein bisschen aus.

„Okay, dann sag mir mal, wo das Blut aus deinem Körper im Herzen ankommt ", forderte mich Lolla auf.

„Wie, wo das ankommt?", verstand ich die Frage nichtmal.

„Man unterscheidet doch das venöse, also sauerstoffarme, und das arterielle, also das sauerstoffreiche Blut".

Soweit konnte ich ihr folgen.

„Jetzt muss das Venöse ja wieder zum Herzen zurück. Wie macht es das?"

„In den Venen?", vermutete ich. Das war logisch.

„Sehr gut. Und zwar wird das Blut gesammelt in zwei sehr großen Venen. Das ist die Vena cava superior und die Vena cava inferior, die das...", fing Lolla an zu erklären.

„Lass die Fachbegriffe weg, die sagen mir eh nichts. Ist das Latein?"

Lolla nickte: „Okay, dann nennen wir sie obere und untere Hohlvene. Oder merk dir einfach zwei große Venen, ja?"

Zwei große Venen für das sauerstoffarme Blut zurück zum Herzen. Das verstand ich.

„Die münden nun in den rechten Vorhof. Von dort wird das Blut in die rechte Kammer geleitet und zwar durch die Trikuspidalklappe, das ist eine Segelklappe, wobei... - die lassen wir auch weg. Merk dir: vom rechten Vorhof in die rechte Kammer."

Ich nickte. Es brachte mir Spaß, zuzuschauen, wie Lolla mir mit leuchtenden Augen aus ihrer Sicht vermutlich absolute Basics, aus meiner Sicht Dinge, über die ich sonst kaum nachdachte, erläuterte.
So langsam verstand ich Domen, wieso er Lolla „Lieblings-Mathenachhilfe" nannte - sie konnte sehr einfach und verständlich erklären.

„Wie fließt das Blut bis jetzt?", holte sie mich aus meinen Überlegungen zurück.

„Zwei große Venen, dann rechter Vorhof, rechte Kammer, die Klappen lassen wir weg." Zumindest hatte ich ihr aufmerksam zugehört.

„Perfekt. Jetzt wollen wir aus dem venösen ja wieder arterielles Blut machen", fuhr sie fort. „Also muss es zu den Lungen kommen: über die Lungenarterien zur Lunge - dort ist der Gasaustausch - jetzt haben wir wieder Sauerstoff im Blut und dann durch die Lungenvenen zurück zum Herzen.
Nun in den...?", sie sah mich erwartungsvoll an.

„Linken Vorhof?", riet ich.

Lolla gab mir einen kurzen Kuss zur Belohnung.

„Bekomme ich das jetzt immer, wenn ich was richtig sage?", fragte ich sie hoffnungsvoll.

„Mal schauen", lachte sie, „aber nicht ablenken. Jetzt sind wir im linken Vorhof, dann geht es in die linke Kammer. Von dort in die Aorta, also die Hauptschlagader, und wird im ganzen Körper verteilt. Verstanden?"

Ich nickte und war gleichzeitig fasziniert, denn ich hatte tatsächlich etwas gelernt. Vorher hätte ich nie den Herzkreislauf erklären können. Spätestens bei rechts, links hätte es aufgehört.

Lolla freute sich. „Und LV bezeichnet daher nur einen Teil vom Herzen, nämlich die linke Kammer. Ventrikel heißt Kammer", erklärte sie mir. „Atrium heißt Vorhof".

„Du weißt schon, dass ich das ziemlich cool finde, was du machst, oder? Ich schätze zwar, dass das, was du mir gerade gesagt hast, nur so zwei Seiten von den 85 ausmacht...", sagte ich, während Lolla anfing, lachend den Kopf zu schütteln. „Wie, etwa mehr als zwei Seiten?"

„Das steht hier nirgendwo. Das lernst du im ersten, spätestens im dritten Semester. Ich bin im Sechsten, da wird das als vorausgesetzt definiert. Es weiß aber wirklich jeder."

„Danke Lolla, bis eben habe ich mich noch schlau gefühlt, zumindest weniger dumm im Vergleich zu dir".

„Gerne doch", funkelten ihre Augen auf; sie gab mir noch einen Kuss, den ich zwar versuchte, in die Länge zu ziehen, aber sie entzog sich mir und wand sich wieder dem Text zu.

Irgendwie begriff ich gerade, dass es sein könnte, dass in unserer Beziehung gar nicht mal nur mein Skispringen und die Saison das große Problem werden könnte. Wie es sonst immer der Fall gewesen war.
Mit meiner letzten Freundin, vor so zwei Jahren war das, hatte ich mich nicht gestritten. Wir hatten uns einfach auseinander gelebt und kaum noch gewusst, über was wir reden oder zusammen unternehmen sollten.
Ich ahnte, dass bei Lolla die Schwierigkeit war, dass ich mich gegen die Medizin durchsetzen musste. Und ich wusste jetzt schon nicht, wie. Die Begeisterung, mit der sie mir gerade den Blutfluss durchs Herz erklärt hatte, war richtig ansteckend und ich sah ihr an, wie sehr sie es liebte.
Auch wenn es vermutlich total anstrengend und nervenaufreibend war. Schließlich saß sie hier gerade am Sonntagabend, während andere Leute Fernsehen schauten, und las sich diesen aus meiner Sicht furchtbar komplizierten, unverständlichen Text durch.

Es würde eine große Herausforderung werden.

„Möchtest du auch einen Tee trinken?", fragte ich Lolla leise, um ihre Konzentration nicht zu stören.

Als sie nickte, stand ich vorsichtig auf, ging in die Küche und setzte Teewasser auf. Heimlich beobachtete ich sie durch die Küchentür, die ich offengelassen hatte. Sie hatte sich natürlich ihr T-Shirt wieder angezogen, aber ich konnte den Blick trotzdem nicht von ihr abwenden.

Je mehr ich von Lolla mitbekam, desto stärker drängte sich in mir die Frage auf, wieso um Himmelswillen ihre Familie sie nicht vermisste.
Sie schien mir einerseits aus Sicht ihres Freundes - durfte ich mich so nennen beziehungsweise Lolla meine Freundin nennen? - aber auch aus Sicht ihrer Familie, als kein Mensch, den man einfach so fallen ließ.
In der kurzen Zeit hatte sie mir schon so viel über Geben und Nehmen beigebracht, über Leidenschaft und Vertrauen, dass ich es mir nicht vorstellen konnte, wie ihre Eltern dieses Mädchen einfach so abstießen. Oder zumindest kein Interesse zu zeigen schienen.

Ich goss das Teewasser ein, nahm die Tassen und ging ins Wohnzimmer zurück. Jetzt erst fiel mir auf, dass ich gar keinen Tisch vor dem Sofa stehen hatte. Wo sollte ich die denn abstellen?
Ein bisschen doof kam ich mir gerade schon vor, weil ich mit den Tassen in der Hand dastand und nicht wusste, was ich machen sollte.

„Möchtest du da jetzt so lange stehen bleiben, bis der Tee kalt ist?", fing Lolla an zu lachen, ohne ihre Augen vom Bildschirm zu nehmen.

Wieso hatte ich eigentlich so ein kluges Mädchen auf meinem Sofa sitzen?

„Ähm, ne...", fehlten mir die Worte für meine Unfähigkeit, „mir ist nur aufgefallen, dass ich keinen Tisch hier habe und..."

„Wie machst du es sonst immer?"

„Ich stelle sie auf den Fußboden."

„Na, dann stell sie da doch jetzt auch hin", schlug sie vor.

Okay, das war echt dumm, Peter. Ich setzte ihren Vorschlag in die Tat um und nahm wieder meinen Platz auf dem Sofa ein.

Lolla drehte sich um und lächelte: „Siehst du? Das eben war süß, wie du da gestanden hast und nicht wusstest, was du mit dir anfangen sollst."

„Kann es sein, dass süß nur die liebe Umschreibung für „leicht eingeschränkte logisch-kognitive Fähigkeiten" ist?"

„Im Allgemeinen nicht", sie machte eine Kunstpause, „aber bei dir schon." Lolla lachte herzhaft.

„Hättest du nicht gerade mein Laptop auf den Knien, würde ich dich zur Strafe jetzt über die Schulter legen, aufs Bett werfen und durchkitzeln", drohte ich Lolla an.

„Sei bitte leise, ich muss mich konzentrieren, Peter", wies sie mich zurecht, lehnte sich wieder an mich und ich musste es akzeptieren, dass Medizin im Moment wichtiger war. Das Studienfach würde ein sehr starker Konkurrent werden.

Ich linste auf die Seitenangabe, sie war bei Seite 58. Es waren aber 85 insgesamt. „Willst du die alle durchlesen?", fragte ich sie ganz leise.

„Psst, wenn du mich störst, dauert es noch länger".

Na gut, das wollte ich nicht. Also war ich still und versuchte noch einmal, mitzulesen, gab es aber nach dem Wort: „sarcoplasmic reticulum" sofort wieder auf, denn ich hatte keine Ahnung, was es bedeutete.
Stattdessen genoss ich es, Lollas Nähe zu spüren, ihre Haare an meiner Wange zu fühlen, ihren Atemzug zu hören, das Gewicht ihres Körpers an meinem zu merken und meine Hand locker auf ihrem Oberschenkel ruhen lassen zu können.
Es fühlte sich ganz natürlich und vertraut an, so mit ihr auf dem Sofa zu sitzen. Ich spürte, dass die Bindung zwischen uns nicht gespielt war. Außer das, was Lolla in ihrem Inneren trug, hatte ich nicht das Gefühl, dass wir uns etwas vormachten.
Ich atmete ihren Geruch ein, während sie sich anscheinend verstärkt konzentrieren musste, sich leicht aufrichtete und nach vorne lehnte. Mein/ihr T-Shirt war Lolla von der einen Schulter gerutscht und zeigte ihre Haut. Diese Stelle zog mich förmlich an und so fing ich an, ganz leicht und leise ihre Schulter mit Küssen zu bedecken und wanderte zu ihrem Hals.

Lolla drehte sich leicht wütend um.

„Ich bin leise", verteidigte ich mich.

„Du bist zwar leise, aber dafür kann ich mich auf nichts anderes mehr konzentrieren, als das ich dich küssen möchte", stellte sie fest.

„Dann tu es doch", versuchte ich, den Kampf mit der Medizin aufzunehmen.

„Nein, ich will das hier noch fertig bekommen", entschied Lolla und drehte sich wieder um.

Erste Schlacht verloren, Peter. Das konnte ja noch spaßig werden.

Ich hielt es ca. 5 Minuten aus, bis ich ihr ganz vorsichtig und leise - ich war wirklich vorsichtig - meine Hand unters T-Shirt schob und auf ihre Hüfte legte. Fast dachte ich schon, dass sie sich wieder umdrehte und beschwerte, da klappte sie mein Laptop zu und seufzte:

„Du bist wirklich verdammt stur, Peter Prevc."

Endlich küsste Lolla mich und ich trug sie ins Schlafzimmer.

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