9a

103 8 0
                                    

Wir gingen nun mitten durch die Stadt und ich hatte solche Angst, aber ich versuchte, sie mir nicht anmerken zu lassen. Man durfte uns nicht für schwach halten. Das ging jedoch kläglich schief, als mich etwas Hartes im Gesicht traf und ich zusammenzuckte. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich tastete meine Wange ab und hatte einen klebrigen Saft an den Fingern. Auf dem Boden lag eine Tomate. Der fremde Mann drängte uns alle weiter und wir ignorierten, dass immer mehr Dorfbewohner uns mit ihren Lebensmitteln bewarfen.

Völlig nass und klebrig kamen wir an einem recht großen Gebäude zum Stehen. Es war nicht sowie die meisten Häuser aus Holz, sondern aus festem Stein gebaut. Der Mann befahl mir, die schwere hölzerne Tür zu öffnen und wir schritten hindurch. Drinnen war es recht dunkel, da es nur wenige kleine Fenster gab, welche das Sonnenlicht hereinließen. Die Wände waren uneben, man konnte die übereinandergelegten Steine erkennen. Wir gingen durch einen kurzen schmalen Flur, der zu einer weiteren Tür führte. Ansonsten sah ich im Vorbeigehen nur noch eine Einzige. Schon von weitem konnte man Schreie vernehmen, welche aus der Tür kamen, an der wir zum Glück nur vorbeigingen. Doch diese wurden vom dicken Stein gedämpft. Ich wollte mir kaum vorstellen, wie laut die Schreie von drinnen waren. Ich erschauderte.

Ich musste wieder die Tür am Ende des Flures öffnen. Der Raum war trist und leer. Vereinzelt topfte es von der Decke und es gab nur ein Fenster. In der Mitte des Raumes befand sich ein ca. zwei Quadratmeter großes Gitter mit einem dicken Schloss, das im Boden eingelassen war. Da ich noch immer vorne in der Reihe stand, reichte der Fremde mir den Schlüssel, damit dieser weiterhin seine Waffe bereithalten konnte. Während die anderen den Schlüssel neugierig betrachteten, wusste ich durch Isaac sehr wohl, was damit anzufangen war. Trotz der ernsten Situation musste ich grinsen, als ich daran zurückdachte, wie ich versuchte die Tür von Isaacs Hütte zu öffnen.

Ich bückte mich zu dem Gitter und schloss es auf.

"Rein da.", sagte der Mann und richtete wieder sein Jagdgewehr auf uns. Wir stiegen nacheinander die kurze Leiter hinunter, bis wir auf dem Boden standen und das Gitter über uns geschlossen wurde. Wir hörten noch die Schritte des Mannes, wie er sich entfernte, dann war es still. Zu schreien hätte nichts gebracht. Selbst wenn uns jemand hören könnte, würde derjenige uns nicht helfen. Wir waren hier die Bösen.

Dieser Kerker hatte kein einiges Fenster, weshalb es stockdunkel war. Ich konnte weder sagen, wie groß der Raum war, noch, ob hier womöglich eklige Tierkadaver lagen. An den Gedanken von toten Ratten, bekam ich eine Gänsehaut.

Ich wollte mich hinsetzen, als ich ein leises Wimmern von weiter hinten im Kerker vernahm. Die anderen hatten es wohl auch gehört, denn Ruby fragte in die Dunkelheit:

"Hallo? Ist hier jemand?" Ein leises Krächzen hallte durch den Raum.

"Hierrr..." Aidan, Ruby, Freya und ich folgten mit vorsichtigen Schritten der Stimme, um nicht gegen etwas oder jemanden zu stoßen. Mein Fuß blieb an etwas hängen, was ich als ein Bein identifizierte. Ich bückte mich und fragte:

"Bist du eine von uns? Kommst du aus der Zukunft?" Die Person brachte ein undeutliches 'Ja' zustande.

"Woher wissen wir, dass du nicht lügst?", fragte Aidan.

"Was hat er oder sie denn noch zu verlieren? Warum sollte man also lügen?" Die Person bewegte sich und griff nach meinem Arm. Ein weiteres Krächzen kam aus seinem oder ihrem Mund.

"Fühlen... Piercings... Ohrringe...". Ich tastete der Person im Gesicht herum, was bei Licht wohl sehr seltsam erscheinen würde. Ich spürte die Piercings und Ohrringe.

"Leute, das ist einer von uns. Er oder sie sagt die Wahrheit." Freya richtete ihr Wort an die Person.

"Wie heißt du?"

"Rebecca...Nurse." Ich nahm Rebeccas Hand und drückte sie.

"Wie schaffen das, Rebecca, wir kommen hier schon irgendwie raus." Ich wusste nicht, für wen ich diese Worte überhaupt aussprach. Ich glaubte nicht mehr daran, meine Freunde vermutlich auch nicht mehr. Und dieses Mädchen? Sie wohl am aller wenigsten. Sie muss bestimmt schon einige Zeit ohne Wasser hier unten gesessen haben. Ich trug noch meine Wasserflasche bei mir, die ich von Isaac bekommen hatte. Es war nicht mehr viel drin, aber zumindest etwas. Ich verzichtete darauf es selbst zu trinken. Zwar hatte ich nach dem langen Marsch ziemlichen Durst, aber Rebecca brauchte es dringender als ich. Sie war schließlich kurz vor dem verdursten.

Ich nahm meine Flasche raus und hielt sie Rebecca an den Mund. Sie trank gierig, bis nichts mehr herauskam. Sie räusperte sich und war wieder einigermaßen fähig verständlich zu sprechen.

"Hier sind noch welche. Elizabeth Howe, Susannah Martin und Sarah Wildes. Sie haben vor einer Weile aufgehört zu sprechen, ich glaube sie sind ohnmächtig. Sie gehören auch zu uns." Während Freya, Aidan und Ruby sich auf die Suche nach den anderen drei machten, blieb ich bei Rebecca.

Meine Freunde hatten sie schon bald gefunden, rüttelten sie irgendwie wach und gaben auch ihnen den letzten Rest an Wasser, das sie bei sich trugen.

Sarah begann zu erzählen, dass die vier ihren Prozess bereits hinter sich hätten. Sie wurden alle für schuldig erklärt. Sie sollten alle auf dem Scheiterhaufen brennen. Sie erwähnte auch kurz einen Verhör, ging aber nicht genauer darauf ein. Man konnte an ihrer Stimme hören, dass sie nicht darüber reden wollte. Hier unten hatte sie doch nichts mehr zu verlieren, was konnte also so schlimm sein, dass sie nicht darüber sprechen wollte? Ich bekam eine Gänsehaut, als ich mir alles Mögliche vorstellte.

Wie lange wir schon hier waren, konnte ich nicht sagen, aber irgendwann überkam mich die Müdigkeit und ich schlief auf dem kalten, feuchten Boden des Kerkers ein.

Ich wachte auf, weil ich so sehr zitterte. Ich zog meine Knie an meine Brust und schlang meine Arme darum. Hier unten war es eiskalt und es gab nichts, mit was man sich hätte wärmen können. Es war noch immer stockdunkel, ich sah nicht mal die eigene Hand vor Augen. Also konnte ich auch nicht auf meinen Countdown schauen. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, wie lange ich geschlafen hatte. Es konnten genauso gut Stunden wie auch Sekunden gewesen sein. Ich fühlte mich hilflos, weil ich nicht wusste, wie lange ich noch hatte. Da fiel mir zum ersten Mal auf, dass es im Leben der Zukunft immer um Zeit ging. Nichts war wichtiger. Man hatte dann und dann einen Termin, man musste dann aufstehen, um auf die Arbeit zu gehen, man musste dann losgehen, um noch seine Bahn zu erwischen, man wollte an dem Tag etwas mit der Familie unternehmen und an dem Tag mit Freunden, man musste dann zu Hause sein, um seine TV-Serie nicht zu verpassen. Alles war auf zeitliche Planung angewiesen und angepasst. Hier machte man alles dann, wann es eben gerade passte. Das machte einfach alles einfacher. Nichts war nicht so stressig.

Es war so furchtbar anstrengend immer auf die Zeit zu achten, warum fiel mir das erst jetzt auf? Die Menschen hier brauchten das gar nicht, warum auch? Es lief doch alles gut so. Ich wollte das auch, die Last einfach abwerfen, dass alles zu einem bestimmten Zeitpunkt geschehen musste. Nur war das gar nicht so leicht, wenn man in der Zukunft aufgewachsen war, so wie ich.

Ich dachte an Isaac, er kannte das alles gar nicht, dieser Stress und die Hektik des Alltags in der Zukunft. Dafür beneidete ich ihn. Und ich bewunderte ihn dafür, dass er so ein wahnsinnig toller Mann war. Er hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt, um einer Gruppe fremder Leute zu helfen. Selbst wenn es letzten Endes nicht viel gebracht hatte, rechnete ich ihm das hoch an.

Verdammt nochmal, ich vermisste Isaac so unbeschreiblich. Ich wollte mich nur noch in seine Arme verkriechen, seinen frischen Duft nach Kiefern einatmen und mich in seinen blauen Augen verlieren.

Erst als ich etwas Kühles auf meinen Händen spürte, merkte ich, dass ich weinte. Diesmal wischte ich die Tränen aber nicht weg, es konnte sie sowieso niemand sehen. Abgesehen davon, hatte ich es auch gar nicht nötig sie zu verstecken. Es war nur menschlich, dass man weinte, wenn gerade alles im Leben eines Menschen zunichte ging. Alles war einfach gerade zu viel. Also ließ ich es raus. Ich schluchzte, weinte und konnte gar nicht mehr aufhören. Nach einer Weile kroch jemand zu mir. Freya drückte mein Gesicht an ihre Schulter und drückte mich fest, um mir Halt zu geben.

"Schhh, alles okay, lass es raus." Ich wusste nicht, wie lange wir so dasaßen, aber irgendwann hatte ich aufgehört zu weinen. Mit dem Kopf auf Freyas Schoß schlief ich irgendwann ein.

Blue Witch #redroseaward2019 #magicheartaward2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt