"Hi", presste Lia atemlos zwischen ihren Lippen hervor. Der Schock hatte ihr sämtliche Luft aus den Lungen gedrückt und sie spürte, wie ihre Wangen immer wärmer wurden. Bald würden sie glühen und sie hoffte inständig, dass Paul die pinke Farbe als Folge des Treppenlaufens deuten würde...Und nicht als Zeichen des Feuers, das seine bloße Anwesenheit in der Jugendlichen entfachte.
Ihr Herz schien aus ihrem Brustkorb ausbrechen und zu Paul zu wollen, so heftig spürte sie ihren Puls an ihren Rippen widerhallen. Es war wahrlich eine seltsame Situation, in der sich die Schüler gerade befanden.
Lia griff reflexartig an ihren Ellbogen, sank ein wenig in ihrer Haltung ein und wich einen Schritt hinter Klara zurück. Es lag ein schüchternes Lächeln auf den Lippen der Blondine, die gerade so atemlos ihren Schwarm gegrüßt hatte. Klara stand kerzengerade und reckte ein wenig ihr Kinn nach vorne, als verspüre sie den Drang, ihre jüngere Freundin, die so schüchtern hinter ihr stand, zu beschützen. Ihre Augen schossen zwischen Lia und Paul hinterher, Klara wirkte ein wenig beunruhigt.
Paul hingegen lehnte sich nun lässig an das Treppengeländer, drückte den Block an seine Brust und grinste Lia an. Seinen Gesichtsausdruck würde sie auch noch Jahre später klar vor Augen haben, wenn sie an ihr erstes Treffen mit dem Jungen dachte. Und auch in diesem Moment wurde Lia erst bewusst, dass sie gerade das erste Mal mit ihm von Angesicht zu Angesicht sprach. Kein Handy, keine Blicke voll Luft, die sie nicht wahrzunehmen schienen. Nein, gerade standen sie keine zwei Meter auseinander, auf Augenhöhe.
"Hey, Lia", waren seine ersten Worte, die das Mädchen ohne ein elektronisches Medium vernahm. Sie wollte ihren Ohren kaum glauben, so anders klang seine Stimme, wenn man seine Mundbewegung gleichzeitig sah. Paul trug sogar eine durchsichtige Zahnspange, die einen jünglichen Kontrast zu seinem Bart aufwarf. Lia spürte, wie ihre Knie immer weicher wurden, während ihr Herz immer heftiger galoppierte.
Hätte Lia selbst nicht so oft vor Nervosität weg geschaut, hätte sie vielleicht gesehen, dass auch Paul Probleme hatte, ihrem Blick stand zu halten. Klara hingegen beobachtete die Szene mit Adleraugen. Obwohl sie für ihre Freundin vor Energie übersprudeln müsste, war sie wachsam. Es verunsicherte sie, dass sie nicht die gleiche Röte auf Pauls Wangen sah, welche Lias Gesicht zum Glühen brachte. Er musste sich wirklich gut unter Kontrolle haben.
Paul räusperte sich kurz, schaute vom Boden wieder zu Lia hinauf (Er ignorierte Klara völlig) und fragte sie: "Darf ich dir vielleicht ein paar Fragen stellen?"
Klara runzelte nur die Stirn, während Lias Herz einen Salto machte. Paul strich sich mit der typisch männlichen Handbewegung die Haare aus der Stirn und fügte hinzu, dass er beauftragt wurde, für einen Zeitungsartikel die Klassen nach ihren Projekten zu fragen. Anscheinend wollte die höhere Klassenstufe Informationen für eine Schulzeitung zum Winterfest sammeln. Und ausgerechnet Paul war ausgewählt worden, um diese Aufgabe zu erfüllen?
Da wurde sich selbst Lia unsicher. Paul war kein besonders guter Schüler; Er bewegte sich im durchschnittlichen, manchmal unteren Bereich. Weshalb also gerade er den Journalisten spielen sollte, erschien ihr ein Rätsel. Eine stolze innere Stimme schmunzelte. Ob er nur wegen ihr gekommen war?
Lia brach aus ihren Gedanken aus und bemühte sich, ihr hormongeladenes Grinsen zu unterdrücken. "Klar. Was gibt's?" Klara merkte, wie ihre Freundin nach einer ihrer blonden Strähnen griff und sie um ihren Finger drehte. Oh oh. Es musste sie vollkommen erwischt haben.
Klara nutzte den Augenblick, um aus der Angriffszone der Turteltauben zu fliehen. "Wenn man Schmetterlinge im Bauch hat, scheint das Hungergefühl auszusetzen. Da ich im Gegensatz zu euch aber gleich umkippe, geh' ich jetzt Pizza holen. Ich bring' dir eine mit, Lia. Bis gleich", erklärte Klara kokett. Sie zwinkerte Lia noch einmal kurz zu, bedachte Paul mit einem Nicken und huschte dann die Treppen herunter. Sie war sich sicher, dass Lias Gesicht jetzt zwei Rottöne dunkler werden würde...
Da war sie. Die unglaublich peinliche Stille zweier Menschen, die sich so viel sagen wollten, aber nicht den Mut hatten, auch nur ein einziges Wort auszusprechen. Sie bemerkten die Schüler-Grüppchen nicht mehr, die um sie herum die Treppen nahmen. Es gab nur noch sie zwei. Zumindest dachte das Lia.
Paul schlug vielsagend seinen Block auf, ließ seinen Kugelschreiber aufklicken und betrachtete Lia mit einem verschmitzten Lächeln. "Na dann leg' mal los. Was wird es bei euch im Raum Tolles zu sehen geben? Außer dir, natürlich." Als er Lias geschocktes Gesicht bemerkte, lachte er eine unglaublich warme Lache, hielt sich die Hand an die Stirn und murmelte "Sorry". Lia war baff. Sie fühlte sich, als hätte seine Wärme ihr eine Decke um den Kopf gelegt, durch die sie nicht ordentlich Luft holen konnte. Sie atmete tief gegen ihre Aufregung an und erzählte ihm mit zitternder Stimme von ihrem Konzept. Charlie und die Schokoladenfabrik. Mit einer wortwörtlichen Schokotafel und goldenen Eintrittskarten.
Obwohl Paul sich kurze Stichpunkte auf sein bisher leeres Blatt machte, war sein Blick dauerhaft an Lia geheftet. Sie wurde um die Nasenspitze immer roter und ihr nach unten gerichteter Blick offenbarte ihre langen Wimpern. Sie waren braun, nach vorne hin wurden sie so hell, dass man die Spitzen nicht sehen konnte. Es sei denn, sie tuschte sie, oder die Sonne umspielte das Mädchen so, wie sie es gerade tat. Ihr Haar leuchtete so golden auf, dass es schwer war, fokussiert zuzuhören und zu schreiben.
Auch Lia hatte Schwierigkeiten, sich auf ihren Bericht zu konzentrieren. Sie nahm Pauls wache Augen wahr, seinen lässigen Stand. Er legte offensichtlich Wert auf sein Aussehen. Sein blauer Winterpulli passte farblich perfekt zu seiner Mütze, die ihm aus einer Hosentasche herausragte. Unter dem Pulli lugte ein Hemd hervor und auch seine Jeans saßen perfekt an seinen Beinen und Hüften.
Paul trat ihr ein wenig näher und Lias Stimme stockte, als sie seinen Geruch wahrnahm. Entgegen ihrer Erwartungen roch er nicht nach dem penetranten Zigarettenrauch. Dieser war nur eine Unternote in einem anziehenden Gewirr aus Deo und seinem natürlichen, männlichen Körpergeruch. Paul brachte sie um ihren Verstand. Dabei stand der junge Mann nur mit einem Schulblock vor ihr und befragte sie nach dem Projekt ihrer Klasse.
Nachdem Lia ihren Bericht beendet hatte, zwang sie sich dazu, das Gespräch weiter zu führen. Es durfte jetzt einfach noch nicht aufhören. "Und was malt ihr?" Sie war stolz darauf, wie lässig ihre Stimme klang. Als wäre ihre Frage nur eine kleine Wolke am Himmel und nicht der Sturm, den Lia zu kontrollieren versuchte.
Paul musterte sie einige Sekunden still, bevor er antwortete. "Wir sind drei Klassen und haben gemeinsam den großen Musikraum oben. Unser Thema ist Breaking Bad. Vielleicht kannst du ja auch mal schauen kommen." Erneut griff er sich in die Haare und schaute Lia eindringlich an.
War das eine Einladung? "Gerne", murmelte Lia leise, und sie betrachtete ihn mit ihrem freudigsten Lächeln. Und dann trat wieder Stille zwischen die beiden. Keiner war sich sicher, wie er das Gespräch am Laufen halten konnte. Jeder sonst natürliche Kommentar erschien unangebracht, nichts war tauglich für ihren Gesprächsumstand.
"Na gut. Wir sehen uns später, Lia. 18 Uhr, Raucherhof!", zwinkerte Paul ihr also zu. Und bevor Lia darauf reagieren konnte, hatte er sich abgewandt und war die Treppen hinauf gesprungen. Er schaute nicht zu ihr zurück.

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BROKEN (TRUST)
Dla nastolatkówJa, es ist schon seltsam, wie sich Lia und Paul kennen lernen. Es erscheint wie Ironie des Schicksals, dass sich ihre Wege so oft berührt, aber nie gekreuzt hatten. Und als sich ihre Welten endlich vermischen, wird ihre Beziehung zueinander noch ku...