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Er stand ihr jetzt ganz nahe. Lia spürte seine Hitze durch ihre beiden Jacken hindurch. Ihre Körpertemperaturen entfachten ein loderndes Inferno, das nur weiter angeheizt, aber nicht gelöscht werden konnte. Es musste etwas passieren, sonst fürchtete Lia, von ihren sengenden Gefühlen verschlungen zu werden. Er rückte gerade so weit mit seinem Oberkörper von ihr ab, dass er seine großen Hände an ihre Wangen legen konnte. Sie glühten. Fast schon automatisch schob Lia ihr Kinn leicht nach vorne, um ihre Lippen freizugeben. Ganz langsam, wie in Zeitlupe, neigte er seinen Kopf. Sein Blick bohrte sich zuerst in ihre blauen Augen und blieb dann an ihren leicht geöffneten Lippen hängen, die ihn so sehnlichst erwarteten. Er schloss die Augen, wisperte nur "Lia", und überwand die letzten Zentimeter, die ihre Lippen voneinander trennten - 

"Hallo, jemand zuhause?!", meckerte Klara, während sie mit einem Finger an Lias Stirn klopfte. Als diese zusammenzuckte und nur verwirrt zu ihrer Freundin schaute, konnte Klara einen lauten Seufzer nicht mehr unterdrücken. "Was hat der Typ denn bitte mit dir gemacht, dass du hier den ganzen Abend Löcher in die Luft starrst?" Obwohl in ihrer Wortwahl Missbilligung mitschwang, war Klara offensichtlich über Lias Verhalten belustigt. "Er...", fing Lia an, "Er hat mich...umarmt." "Ja, das sagtest du bereits. Das war's aber", versuchte Klara, ihre Freundin wieder in die Realität zu holen. "Er hat an meinen Haaren gerochen", murmelte Lia vor sich hin. "Auch das. Vielleicht hast du zu viel Shampoo benutzt", zwinkerte Klara der Blondine zu. "Aber hey, das ist lange nicht Grund genug, mich hier alles alleine machen zu lassen. Schließlich hat er dich nur umarmt. Nicht geküsst, zu sich nach Hause eingeladen oder mit dir geschlafen." 

Das hatte gesessen. Klaras starke Worte ließen Lia zusammenfahren. Beschämt über ihre Tagträumerei schaute sie auf den Boden vor sich. Ihre Freundin hatte recht. Lia stand schon den ganzen Abend neben sich, dabei war dies das Highlight ihres Schuljahres. Das Winterfest. Die Vorbereitungen neigten sich dem Ende zu. Der ganze Korridor pulsierte vor Energie. Überall wurden die letzten Dekorationen angerichtet, der Schichtplan überarbeitet und hektische letzte Anordnungen erteilt. Obwohl Klara und Lia eine der späteren Schichten in ihrer Schokoladenfabrik hatten, bestand auch für sie Anwesenheitspflicht. In wenigen Stunden wurde das Fest offiziell eröffnet. Ihre gesamte Klasse arbeitete gerade daran, ihrem Raum den letzten Schliff zu verpassen. Es war ein freudiges Treiben, an dem sich sogar die Schülerinnen und Schüler beteiligten, die die letzten Tage über vor Aufgaben geflohen waren. Sogar Frau Arnold hatte sich zurecht gemacht und getreu dem Motto "Charlie und die Schokoladenfabrik" einen Zylinder aufgesetzt. Zusammen mit ihrem schicken Blazer passte die Lehrerin einfach perfekt in das dekorierte Klassenzimmer. 

"Tut mir leid", seufzte Lia ihrer brünetten Freundin zu. Sie bückte sich und griff nach den Pinseln, die sie vorhin schon hatte aufheben wollen. Klara wuschelte ihr mit einem breiten Grinsen durch die Haare. "Ist schon gut. Das ist halt so, wenn man verknallt ist." Allein das Wort "verknallt" reichte aus, um Lias Herz einen Luftsprung zu entlocken. Dabei war das Objekt ihres Gefühlszustandes gar nicht anwesend. "Komm, wir holen die restlichen Getränkekisten aus dem Nebenraum", schlug Klara vor. Lächelnd schob sie Lia aus dem Raum. 

Lia bemühte sich wirklich, Klaras fröhlichem Gerede zuzuhören. Doch bereits nach ihren ersten drei Sätzen hörte Lia ihrer besten Freundin nicht mehr zu. Erneut sah sie sich selbst und Paul wie aus einer fremden Perspektive. Auf ihren Köpfen sammelten sich die schweren Schneeflocken, eine Straßenlaterne und einige Fenster beleuchteten die nächtliche Szene. Paul vergrub sein Gesicht in ihren Haaren, rückte dann schnell von ihr ab, entschuldigte sich und verwand in der Dunkelheit. Was war nur mit ihm los? Mochte er sie oder nicht? Lia wusste nicht so ganz, wo sie bei ihm stand. Manchmal schrieb er ihr meterlange Nachrichten über seinen Tag, er erzählte ihr Witze oder fragte sie Persönliches. Teilweise schickte er ihr sogar Herzen oder machte ihr Komplimente! Dann gab es jedoch Tage, an denen er sich kaum meldete und ihre Konversation einen gezwungenen Charakter hatte. Viel mehr als ein "Wie geht es dir? - Gut, und dir?" kam bei diesen Tagen nicht heraus. 

Lia hinterfragte auch ihre eigenen Gefühle. Obwohl sie so intensiv von Paul schwärmte und sich Millionen Situationen mit ihm ausdachte, war sie sich nicht sicher, ob sie für einen Kuss bereit war. Sie hatte es genossen, seinen Körper so nahe an sich geschmiegt zu fühlen. Aber wenn sie sich vorstellte, dass er seine Lippen gegen ihre drücken könnte, oder dass seine Zunge in ihrem Mund wüten könnte, da wurde ihr auf einmal ganz mulmig. Der Gedanke daran, sich vor ihm auch nur auszuziehen jagte ihr solche Angst ein, dass sie das folgende Szenario sofort aus ihrem Kopf verbannte. Sie konnte nicht. Obwohl sie sich nach seiner Seele und seinem Herzen sehnte, betrübte sie der Gedanke an das Körperliche. Wie konnte man jemanden lieben, aber doch nicht "wollen"? Kann das überhaupt "Liebe" sein? Und wie konnte man als fast 16-jährige solchen Schiss haben? Ihre Fragen und Zweifel stimmten sie trübselig. 

"Mit wem haben wir eigentlich noch Schicht?", fragte sie Klara, um sich abzulenken. Heute sollte ein toller, lustiger Abend werden. Warum sich von etwas die Laune verderben lassen, das nicht passiert war? "Mit Jenny und Felix", antwortete Klara. Sie schnaufte kurz, als sie den nächsten Kasten Cola anhob. "Interessante Kombi", lächelte Lia, als sie ihrer Freundin das Gewicht abnahm. "Ja, das stimmt. Habt ihr eigentlich noch was miteinander zu tun, Jenny und du?" Lia überlegte kurz, und dachte dann laut: "Naja, Leos Geburtstag war der Höhepunkt. In der Schule haben wir kaum was miteinander gemacht." "Das war doch der Abend, an dem sie ihr Bier fast ausgespuckt hat, als sie Pauls Namen gehört hat, oder?", überlegte Klara. Natürlich sprachen Lia und sie über alles und das inkludierte auch Jennys plötzliche Trinkunfähigkeit. "Ich meine, man kann annehmen, dass die beiden sich kennen. Die sind doch gleich alt, waren wahrscheinlich im gleichen Jahrgang", spekulierte Klara. "Aber da war irgendwas. Ihre Reaktion war doch echt seltsam, und dass ihr jetzt auch nicht wirklich miteinander sprecht ist doch auch komisch", bemerkte die Brünette, während sie sich an ihr eigenes Kinn tippte. 

Zurück in der Schokoladenfabrik schaute Klara zu, wie Lia den Kasten Cola unter der aufgebauten Theke verstaute. Mit verschränkten Armen betrachtete sie ihre Klassenkameraden, die um sie herum Stehtische aufstellten. Ihr Blick scannte kurz den gesamten Raum, der in knalligen Grün- und Lilatönen erstrahlte. Dann fixierte sie sich wieder auf das Gesicht ihrer jüngeren Freundin. "Da stimmt was nicht. Du solltest Jenny mal drauf ansprechen." Ihr Augen verengten sich leicht. "Oder nein...Lass mich das machen." 

BROKEN (TRUST)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt