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"Na du?", wurde Lia begrüßt. Paul stand am Schulzaun angelehnt, eine Zigarette lugte zwischen seinen Fingern hervor, ein schelmisches Grinsen schmückte sein Gesicht. Lia strich sich ihre blonden Strähnen aus der Stirn und erwiderte sein "Na". Was antwortete man auch sonst darauf? 

Paul setzte sich nur in Bewegung und startete somit den Marsch zum Bahnhof. Penibel rückte er seine Mütze zurecht, ordnete seine dunklen Haare und betrachtete dann seine Begleitung von der Seite. "Du hast aber ordentlich geschafft heute, oder?", fragte er. Lia war sich nicht sicher, ob er seine Frage ironisch meinte. Als Paul jedoch langsam seine Hand ausstreckte und vorsichtig einen Farbklecks auf Lias Wange anstupste, merkte sie, dass er es ernst meinte. "J-ja", stammelte sie, "So grob ist schon alles mit Farbe bedeckt. Muss halt noch verfeinert werden." Sie bemerkte, wie ihr eine altvertraute Hitze ins Gesicht schoss. Schnell fügte sie an: "Was hast du bisher gemacht?" 

Paul nahm sich so lange Zeit für seine Antwort, als hätte er ein philosophisches Grundproblem zu bedenken. Gedankenverloren blickte er gerade aus. Just in dem Moment, in dem Lia zur Wiederholung ihrer Frage ansetzten wollte, berichtete er: "Hmm...Eigentlich nur herumgelungert. Wenn wir von den Lehrern erwischt wurden, haben wir irgendwas hin- und hertragen müssen. Dann wurde ich aber doch zum Malen verdonnert." 

"Richtig so", neckte Lia, "Das kannst du doch." Das Mädchen dachte, Paul würde sie nur kommentarlos anstarren, doch dann stahl sich doch ein Lächeln auf seine Lippen. "Danke", murmelte er leise, "Es ist ganz okay geworden." 

Mit jedem Schritt der Jugendlichen wurde der Himmel immer dunkler. Zum Glück war der Wind nicht so bissig wie die Tage zuvor, sodass die Kälte gut auszuhalten war. Obwohl ihr warm war, hatte Lia ihre Hände in den Taschen ihrer Winterjacke vergraben. Paul war heute schweigsamer als sonst. Ob bei ihm alles in Ordnung war? Lia traute sich nicht, ihn darauf anzusprechen. 

Auch heute war der Bahnhof wieder voll. Obwohl es schon spät und dunkel war, waren die Schüler voller Energie. In Grüppchen standen sie unter den Licht spendenden Laternen. Noch einen Tag vorbereiten, dann konnte übermorgen endlich das Winterfest stattfinden. Überall wurden über die Pläne und Schichten des Abends diskutiert. Gelegentlich war ein lautes Lachen oder Kreischen zu hören. Vielleicht hatte jemand einen Schneeball abbekommen. 

Paul und Lia gingen schweigend an den Schülergruppen vorbei und suchten sich einen abgelegenen Platz in einer der Glashütten, die Unterstand boten. Paul war nun doch darum bemüht, ihr Gespräch am Laufen zu halten. Er fragte Lia danach, wie ihr Tanztraining laufe und was sie sonst so tue, wenn ihr langweilig sei. Ähnliches fragte Lia zurück, und endlich wärmte sich ihre Konversation wieder auf. Beide grinsten, machten freche Bemerkungen über den anderen, oder stupsten sich scherzhaft an. Selbst ein Blinder mit Krückstock hätte sehen können, dass die beiden aneinander Interesse hatten. Mehr als nur Interesse...


Durch viele Wendungen kamen sie auf ihre Winterjacken zu sprechen. Und obwohl das ein banales Thema war, kamen Paul und Lia aus dem Gelächter nicht mehr heraus. "Also meine hält prima warm, aber die Taschen könnten größer sein", witzelte Lia. "Ich weiß nicht, wenn sie dich so schön warm halten würde, wärst du bestimmt mehr gewachsen", ärgerte sie Paul. Gespielt entsetzt riss Lia ihre Augenbrauen in die Luft und ließ ihre Kinnlade aufklappen. "Du bist nur so groß, weil du Unkraut bist. Das wächst schneller als Blumen." Lia schnickte mit ihrer Hand ihre Haare weg und versuchte somit, Wondermähnes zickige Geste nachzuahmen. Pauls Grinsen wurde immer weiter. "Wenn du meine Jacke mal tragen würdest, würdest du bestimmt wachsen!" Und bevor Lia sich eine schlaue Antwort einfallen lassen konnte, schlüpfte Paul bereits aus seiner dunkelblauen Jacke heraus. 


Mit ausgestrecktem Arm hielt er Lia seine Jacke hin. Sein Kinn schob er kurz nach vorne und deutete dem Mädchen somit an, seinen Arm endlich zu entlasten. Lia staunte kurz über ihr eigenes Selbstbewusstsein, als sie grinsend begann, sich aus ihrer Jacke zu schälen. Aus Spaß begann sie sogar, den Strip-Song "You Can Leave Your Hat On" zu singen: "Baby, take off your coat...Reaaaal slow." 

"Nicht schlecht", prustete Paul los. "Auf jetzt." Lia warf ihm ihre Jacke zu, schlüpfte in seine...Und sah aus wie ein geflohenes Kindergartenkind. Die Farbflecken in ihrem Gesicht passten perfekt zu diesem Look. Paul musste sich vor Lachen den Bauch halten. "Ich glaube, mit dem Wachsen wird das bei dir doch nichts mehr." Lia zog daraufhin eine beleidigte Schnute und wedelte wütend mit den langen Ärmeln der Jacke. Wäre der Boden nicht mit Schnee bedeckt, hätte Paul sich vielleicht lachend darauf hin und her gewälzt. 

"Aber du hast recht, sie hält schön warm", gestand Lia mit einem frechen Grinsen. "Auch, wenn ich die Jacke eher als Mantel deklariert hätte". Sie hob den unteren Saum der Jacke an, der ihre Knie umspielte. Paul betrachtete kurz das Kleidungsstück in seinen Händen, blickte dann an seinem Körper herunter und seufzte dann: "Zeit, mein Crop-Top anzuziehen." Und tatsächlich zwängte er sich in Lias Jacke, die viel zu klein für seinen Körper war. Lia konnte nur noch kreischen, als Pauls Arme fast horizontal in der Luft gehalten wurden. Seinen kuscheligen Bauch konnte die Jacke auch nicht verdecken, also streckte Paul ihn soweit raus, wie es nur ging, und posierte für Lia. Irgendwie sah er aus wie ein schwangerer Sumo-Ringer. 

Nachdem sich der Lachanfall der beiden gelegt hatte, kramte Lia neugierig in Pauls Taschen herum. Er hatte keine Einwände - Er riet sogar, was sie als nächstes finden könnte. Schließlich stieß Lias Hand auf eine Plastikpackung. Sie zog sie hervor und betrachtete die große Rauchen-Ist-Tödlich-Warnung, die ihr von der Tabak-Packung entgegen sprang. Wie sie es hasste. Rauchen, Alkohol, Drogen...Sie fragte sich zum millionsten Mal, warum man sich so etwas antun sollte. Und dann hinterfragte sie erneut, ob sie selbst nicht einfach zu spießig sei. 


Sie wollte Paul nicht verletzten, da sie ihn so gerne mochte. Also bemühte sie sich, ihren Ekel zurückzuhalten und Neugierde aufzusetzen. Obwohl sie zunächst mit gespieltem Interesse den losen Tabak begutachtete, wurde sie immer neugieriger und stellte Paul schließlich Fragen. Wie viel rauchst du täglich? Was kostet sowas? Wie fühlt sich das an? Könntest du aufhören? Offensichtlich nahm Paul ihr Interesse gut auf, denn er antwortete so ehrlich er konnte. Ob er froh war, als 17-jähriger Raucher nicht mit Ekel und Schuld beladen zu werden? Ob ihm das frühe Rauchen geholfen hatte, über die Trennung seiner Eltern hinweg zu kommen? Lia bezweifelte, dass dies der richtige Ansatz für seine Psyche war. Jedoch hielt sie ihre Zweifel zurück. 

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Gut gelaunt waren Lia und Paul Bahn gefahren. Konstant unterhielten sie sich und machten lustige Fotos voneinander. Auf dem Nachhauseweg diskutierten sie angeregt über die Hobbit-Filme, die als Vorgeschichte zu Herr der Ringe erschienen sind. Beide mochten die Filme, waren sich aber einig, dass sie zu lang gezogen waren. Geldmacherei oder Fanservice? 


Es begann wieder zu schneien. Dicke Flocken ließen sich faul auf ihre Heimat nieder, während die beiden Jugendlichen durch den Schnee stapften. Beide hatten rote Wangen von der beheizten Bahn und von dem Weg, den sie jetzt gingen. An der Kreuzung, die beide normalerweise trennte, hielt Paul sie kurz am Ärmel fest. "Ich begleite dich noch ein Stück nach Hause." Lia war erstaunt über seine Entschlossenheit und sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. 

Je näher die beiden der Straße kamen, die das Ende ihres Abends ankündigte, desto stiller wurden sie. Lia wusste, wo Paul wohnte. Mit seiner Begleitung machte er einen großen Umweg. Nur für sie. Lias Herz überschlug sich, als sie darüber nachdachte, wie sie sich bei ihm bedanken und verabschieden sollte. Sie war sich sicher, dass man ihr Hirn von außen rattern hören konnte. 


Schließlich blieben sie stehen. Der Schnee setzte sich langsam auf ihren Köpfen ab. Durch das warme Licht, das aus den Häusern strahlte, konnten sie einander gut sehen. Nervös scharrte Lia mit ihrer Fußspitze im Schnee. "Tja...Da sind wir", sagte Paul. Sein Blick war ernst. Lia lächelte ihn gleichzeitig dankbar und traurig an und brachte ein leises "Ja" hervor. "Danke fürs fast Heimbringen", scherzte sie müde. Paul lächelte, trat einen Schritt zurück und sagte dann: "Gerne. Komm gut nach Hause, wir sehen uns." Er drehte sich um und ging. 



Das war's? Etwas verdutzt blieb Lia an der Kreuzung stehen. Hatte sie sich Pauls Wärme heute nur eingebildet? War das für ihn wirklich keine große Sache gewesen, sie nach Hause zu bringen? Machte man das einfach immer so, war da nichts Besonderes dabei? Lias Gedanken überschlugen sich, sodass sie Pauls Stimme nicht hörte. "Lia", sagte er erneut, diesmal entschlossener. Lia drehte sich um, erstaunt, ihn wieder direkt vor sich zu sehen. Eine kurze, jedoch unendlich lange Zeit lang standen sie stumm voreinander. Pauls Augen leuchteten. Obwohl er Entschlossenheit ausstrahlte, war in seinem Farbgemisch noch mehr zu sehen. Bedauern? Schuld? Paul zeigte eine schmerzende Tiefe, die Lia bei ihm noch nie gesehen hatte. Gerade, als sie ihn fragen wollte, was denn los sei, schloss er sie in seine Arme. Fest drückte er ihren Körper an seinen, behutsam legte er eine Hand auf ihre Haare. Lia wagte es kaum, zu atmen. Die Welt stand still, und hätte Lias Herz es ihr nicht geflüstert, hätte sie nicht geglaubt, dass Paul sich an ihr festklammerte. Und seine Nase in ihren Haaren vergrub. 


BROKEN (TRUST)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt