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In einer Schar von Schülern wurden Lia, Paul und Yasmin den Weg zum Bahnhof hinauf geschoben. Einige Jungen rannten mit auf und ab hüpfenden Rucksäcken an ihnen vorbei - offensichtlich hatten sie es eilig. Lia hingegen hatte es nicht eilig. Obwohl sie es eigentlich nicht mochte, so eng von anderen Menschen umgeben zu sein, war sie dankbar für die Chance, die sie hatte. So wie sie jetzt neben Paul herlief, war sie überglücklich. Ihre Füße traten fast im gleichen Takt auf den Boden auf und gelegentlich streiften sich ihre Hände. Ob das nur zufällig passierte?


Lia sah alles durch die rosarote Brille. Unter ihrem aufgeregten Lächeln schaute sie immer wieder zu Paul hinauf, der dicht neben ihr lief. Er war vielleicht einen halben Kopf größer als sie und hatte eine Hand lässig in die Jackentasche geschoben. Mit klopfendem Herzen musste das Mädchen feststellen, wie gut Paul seine Mütze stand. Lässig umspielte sie seinen Kopf und gerade seine braunen Haare, die vorne hervorlugten, sahen durch den blauen Stoff noch weicher aus. Lia musste sich beherrschen, nicht einfach den Arm auszustrecken und seine Frisur zu ruinieren...


Später konnte das Mädchen kaum sagen, über was sie gesprochen hatten. Sie wusste nur noch, dass Yasmin gelegentlich ein wenig gekichert hatte, sich sonst aber aus dem Gespräch herausgehalten hatte. Paul und Lia hatten ununterbrochen berichtet, diskutiert, gewitzelt. Die beiden befanden sich in einer unsichtbaren Blase, die für niemanden sonst Platz zu bieten hatte. Niemand hätte gedacht, dass die beiden heute das erste Mal miteinander gesprochen hatten. Ihre Gesten zu- und miteinander (gelegentliches Anstupsen und herzliches Schubsen) waren so vertraut, als hätten sie sich schon immer gekannt. Vielleicht fühlten sie sich sogar so.


Und auch während sie am Bahnhof standen und mit vielen anderen Schülern auf ihren Zug warteten, wurde ihre Laune nicht gedämpft. Übereifrig gestikulierte Lia, wenn sie eine Geschichte erzählte. Paul, der völlig beiläufig an seiner Zigarette zog, lachte herzlich über die offene, fast schon zappelige Art der Blondine. Und auch Yasmin, die sich selbst in den Armen hielt, lächelte über ihre Unterhaltung. Lia wünschte sich, der Abend würde nie enden. Dabei war der wärmende Zug gerade erst in Sichtweite.


Mühselig drängten die Jugendlichen sich an den Konkurrenten vorbei. Frech quetschte Paul sich durch die Tür in das Zugabteil, dessen Heizung auftauende Wärme versprach. An einer Seite des Zuges waren Sitze nebeneinander angebracht, sodass man seitlich zur Fahrtrichtung Platz nahm. Hastig erkämpfte die kleine Gruppe drei dieser Sitzgelegenheiten.



"Ha, geschafft", triumphierte Paul, während er seine Mütze zurecht rückte. Anscheinend war sie ihm sehr wichtig - Lia hatte ihn bisher kaum ohne sie gesehen. Kurz hing sein Blick an Lia fest, dann fischte er sein Handy aus der Hosentasche. Abwesend tippte er auf der Oberfläche herum, bevor er sich wieder Lia zuwandte, die direkt neben ihm saß. Er drehte seinen Oberkörper ein wenig zu ihr und fragte aus dem Nichts: "Hast du eigentlich Thinking Out Loud von Ed Sheeran gesehen? Das Video, meine ich."


Gerade, als Lia mit dem Antworten beginnen wollte, wurden ihre Sinne benebelt. Pauls maskuliner Geruch schwang ihr mit solcher Dringlichkeit entgegen, dass Lia an gar nichts anderes mehr denken konnte. Sie wurde sich mit einem Mal peinlich bewusst, wie ihre Körper sich aneinander schmiegten, während sie auf den kurzen Sitzen saßen. Und wie nah sich ihre Gesichter erst waren...


Lia lief dunkelrot an, räusperte sich, und rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her. Ich muss ja wohl wie der letzte Idiot wirken!, dachte sie. Schnell antworten. Was war die Frage gewesen?
"Ähhh...Nee, noch nicht", antwortete das Mädchen langsam. Wow, Lia, du bist heute ja besonders wortgewandt!, schalte sie sich selbst.



Um Pauls warmen Blick bildeten sich Lachfalten, als er seinen Mund zu einem breiten Grinsen verzog. "Na, da hast du aber was nachzuholen. Große Kulturlücke! Gerade, wo du doch selbst tanzt", neckte er sie. Dabei stieß er ihr vorsichtig den Ellenbogen in die Seite. Lia glotzte ihn mit großen Augen an. Schon wieder war Paul sich ihrer Interessen und Hobbies so peinlich genau bewusst. Immer schien er zu wissen, was ihr gefallen würde, was sie sehen sollte. Ihr gefiel die Idee, dass er an sie dachte. Sie erfüllte ihr Herz mit Wärme.


Da Lia nicht antwortete, tippte der junge Mann ihr keck gegen die Stirn. "Hallo? Jemand zu Hause?" Mit einem gespielt bösen Blick schubste Lia seine Hand weg und antwortete etwas zu laut: "Dann zeig' endlich her!" Pauls Grinsen wurde immer breiter, als er auf seinem Handy tippte. Schließlich drückte er Lia das Gerät in die Hand und reichte ihr seine Kopfhörer hinterher. Lia schloss das Kabelgewirr an das Handy an. Wollte er mithören? Ein Blick zur anderen Seite bestätigte ihr, dass Yasmin in ihr eigenes Handy vertieft war.


Zögerlich schob Lia Paul also einen Kopfhörer vors Gesicht. Sie lächelte schüchtern und mit leicht gehobenen Augenbrauen stellte sie indirekt die Frage, ob er mithören wollte. Paul schmunzelte ein "Danke", steckte sich den Kopfhörer ins Ohr und tippte auf das Handy. Nun saßen die beiden da, die Köpfe nah beieinander über das Gerät gebeugt, auf einem Ohr das Lied, auf dem anderen Ohr das Rattern des Zuges hörend.


Paul hatte Recht. Lia war sofort fasziniert von seiner Musikauswahl. Natürlich hatte sie Thinking Out Loud schon ein paar Mal im Radio gehört, aber die Choreographie zu dem Text zu sehen war einfach wunderschön. Und noch schöner war es, die zuckenden Finger Pauls wahrzunehmen, der anscheinend in Gedanken die Gitarre mitspielte. Lias flüchtiger Blick zu ihm offenbarte ihr sogar, dass er seine Lippen minimal bewegte. Sang er etwa mit?


Paul musste bemerkt haben, dass Lia ihn anschaute. Leicht neigte er den Kopf zu ihr und sah ihr in die Augen. Und da geschah es: Ein magischer Moment, der die beiden eine Weile lang mit unzerbrechlichen Mauern gefangen hielt. Ihr intensiver Blickkontakt war unerträglich lang und doch so kurz. Jedes einzelne Wort, das die Stimme in ihre Ohren sang, wurde aufgesogen und mit dem sehnsüchtigen Blick des Anderen verknüpft. Gegenseitig suchten sie in ihren Gesichtern, doch nach was sie suchten, wussten sie nicht. Sie konnten ihre Blicke nicht abwenden. Lias Herz schlug so laut, dass sie sich fragte, ob Paul es hören konnte.


Das hohe Quietschen der bremsenden Bahn riss die beiden aus der Magie. Verwirrt und mit rasendem Herzen stellten die Jugendlichen fest, dass sie sich bereits an ihrem Heimatbahnhof befanden. Hastig sprangen sie auf, schulterten ihre Rucksäcke und hüpften aus der Bahn. Den ganzen Heimweg lang würde Lias Körper vor Aufregung zittern.

BROKEN (TRUST)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt