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Müde - aber aufgeregt - ließ Lia ihren Rucksack auf den Boden fallen. Sie rutschte mit dem Rücken an der Wand des Schulkorridors herunter, sodass sie nun neben ihrem Hab und Gut auf dem Boden hockte. Um sie herum saßen schon einige Oberstufenschüler, meistens mit Kopfhörern aufgesetzt. In Lias Hand befand sich ihr weißes Handy, auf welchem sie mit flinken Fingern tippte.


Ununterbrochen schrieb sie mit Paul. Und mit Klara. Wenn sie einmal nicht weiter wusste, konsultierte sie ihre beste Freundin, die ihr meistens zu einem "Sei süß und frech, Lia!" riet. Doch nachdem sie nun knapp zwei Monate mit dem 17-jährigen schrieb, benötigte sie immer weniger Ratschläge. Sie wurde mutiger, frecher und auch persönlicher. Ziemlich viel tauschten Paul und Lia miteinander aus. Einmal hatte sie ihm geschrieben, dass sie ziemlich hungrig sei (Manchmal unterhielten sie sich über die Schandtaten von Tierquälern, und manchmal eben über Banalitäten wie Cornflakes). Darauf hatte er mit einem Selfie geantwortet, in dem er in einen saftigen Döner biss - selbstverständlich vegetarisch.



Und wenn es nicht um den Alltag oder die Schule ging, unterhielten sie sich über Musik. Es war einfach ihr gemeinsames Medium. Ab und zu schickte Paul ihr aus dem Nichts Videos, auf denen er einen Song auf seiner Gitarre spielte. Dann saß er mit zusammengezogenen Augenbrauen auf seinem Bettrand und konzentrierte sich mit gesenktem Blick auf die zu spielenden Griffe. Sein Kopf wippte leicht nach rechts und links, und das Sonnenlicht ließ die Gitarrensaiten aufblitzen. Es war ein Geschenk für Augen und Ohren, empfand Lia. Hätte sie sich getraut, hätte sie ihm etwas gesungen.



Wenn alle Themen zu oberflächlich wurden, entwickelten sich ihre Gespräche in eine sehr persönliche Richtung. Und das, obwohl sie noch nie miteinander gesprochen hatten. Langsam fragte sich auch Lia, was das sollte. Doch den Mut, ihn einfach vor seinen Stufenkameraden anzusprechen, hatte sie nicht. Obwohl sie sich in der Realität schon oft begegnet waren, war es, als würde ihre Bekanntschaft - Freundschaft? Romanze? - nicht existieren. Doch wenn Lia auf ihr Handy schaute, sah sie alles.



Sie sah ihre langen Gespräche über ihre Vergangenheit. Über Pauls Schmerz, als sich seine Eltern trennten. Über seine schlimme depressive Phase, die daraus resultierte. Dass er anfing zu rauchen, mit 13 Jahren. Das alles erzählte ihr dieser junge Mann, einfach so. Umgeben von Smileys, Fotos und Sprachnachrichten.


Und auch Lia hatte sich ihm geöffnet. Sie beichtete ihm, dass sie so ehrgeizig war, dass sie oft an ihren Aufgaben zerbrach. Dabei gab sie immer mehr als einhundert Prozent und war niemals dazu in der Lage, ein "ausreichend" zu akzeptieren. Ihr Ehrgeiz begann, ihrem Körper zu schmerzen.


Was sie ihm ebenfalls hinlegte war ihr ungeschütztes Herz. Sie sagte ihm, dass sie sich nicht wie eine "typische Jugendliche" fühlte. Es fiel ihr schwer, dies genauer zu definieren. Sie versuchte es mit Worten wie "Ich trinke nicht so gerne" oder "Ich kann nicht einfach so mit jemandem 'rumknutschen". Lia fragte sich regelmäßig, ob sie vielleicht zu spießig war. Auf Sorgen wie "Ich gehe nicht sonderlich gerne auf Partys, bin ich seltsam?" reagierte Paul so, wie es sich jedes Mädchen nur wünschen könnte:



"Lia, du bist gut so, wie du bist. Du solltest dich nicht verstellen."


Doch ob dies auch für ihre Angst vor Nähe galt? Lia war sich sicher, dass sie Paul sehr mochte. Aber ihr erging es nicht wie zum Beispiel Klara: Wenn die Brünette jemanden mochte, wollte sie die ganze Zeit bei der Person sein. Sie wollte ihren Schwarm am Liebsten umarmen und küssen und kuscheln. Doch wenn Lia an den körperlichen Kontakt dachte, wurde ihr ganz schwindelig. Sie hatte so viele Romane gelesen - Sie hatte sogar ohne Wimpernzucken die Fifty Shades of Grey - Trilogie verschlungen - doch sobald sie daran dachte, dass sie sich von einem Jungen anfassen lassen sollte, wurde sie panisch.



Sie steckte in einer Zwickmühle. Ihre Schwärmereien für Paul wurden immer heftiger. Zu gerne würde sie ihn treffen und seinen grandiosen Humor live erleben. Sie mochte seine spontane, lustige, aber tiefgründige Art. Er war zweifellos intelligent, aber nicht oberflächlich. Sein Charme bewirkte, dass Lia ihm näher sein wollte - aber nicht körperlich. Und wie sollte sie das bewirken? Konnte man überhaupt bei einem Jungen (Meine Güte, er war fast 18!) landen, wenn man Panik bei dem bloßen Gedanken bekam, sein Haus zu betreten? Ihn zu umarmen? Den Körper für Schlimmeres herzugeben?



Kurz dachte sie an das Ereignis zurück, das ihre Angst hervorgerufen hatte. Sie war sich sicher, dass sie aufgrund dieser einen Sache total eingeschüchtert war. Lia war mal bei einem Freund zu Besuch gewesen. Plötzlich hatte dieser begonnen, sie anzufassen. Sie hatte sich zunächst nicht rühren können und war dann mit Tränen in den Augen geflohen. Sie verfluchte die Erinnerung, denn sie stand wie eine unüberwindbare Mauer zwischen ihr und Paul. Erst viel später würde Lia verstehen, dass eben diese Mauer mit den richtigen Händen zusammengefaltet werden konnte wie Papier...


Wie soll ich vorgehen? Lia war sich nicht sicher, was sie wollte. Doch während ihr Kopf vor Grübelei schon qualmte, zeigte ihr Herz ihr deutlich, was sie wollte. Sie wollte Paul. Sie wollte seine Zuneigung und sie wollte ihn verstehen. Komplett.


Und wie sie da so saß, die Schule noch wie benebelt von der frühen Morgenstunde, tippte sie eine besondere Nachricht an Paul...


Die Vorbereitungen für das Winterfest hatten begonnen. Von Mittwoch bis Freitag würden die Räume zugeklebt und bemalt werden, bis die Schule nicht mehr zu erkennen war. Und am Samstag Abend würden dann Ehemalige, Freunde und Familie kommen und die Werke der Schülerinnen und Schüler betrachten.


Alle Schüler ab der 9. Klasse würden die drei Tage gleich lang in der Schule sein. Von morgens um acht bis abends um sechs. Lia wusste also, dass Paul genauso lang hier war wie sie. Mit abwesendem Blick starrte sie auf die Nachricht, die sie soeben gesendet hatte:



Lia: "Wollen wir später zusammen Bahn fahren? :)"

BROKEN (TRUST)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt