- 15 -

28 10 3
                                    

Lia war kotzübel. Sie wusste nicht, ob es ihr Herz oder ihr Magen war, welches ihr solche Krämpfe verursachte. Eines von beiden - oder sogar beide - schienen aus ihrem Körper ausbrechen zu wollen, so nervös war sie. Jedes Mal, wenn das Mädchen es wagte, auf die Uhr zu schauen, stockte ihr Herz erneut. Ihre Hände wurden immer zittriger und ihre Gedanken waren schon lange nicht mehr in dem Klassenraum. 


Nach dem Gespräch mit Paul hatte Lia sich wie in Trance vor das Klassenzimmer gesetzt, dass die Schüler für das Winterfest verwandelten. Gedankenverloren hatte sie eine blonde Strähne um ihren Finger gewickelt und durch die offene Klassentür gestarrt. Sie hatte mit ihm gesprochen. Ganz alleine. Und später würde sie es wieder tun. Lia war so abwesend, sie zuckte sogar zusammen, als Klara ihr einen Pizza-Karton auf den Schoß fallen ließ. Dabei hatte man ihr Zurückkommen schon lange riechen können...

"Aufwachen, Träumerin", hatte Klara nur gemurmelt, während sie an einem fettigen Stück Margherita kaute. Dann setzte sie sich neben Lia auf den Boden, ließ ihren Kopf an die Wand sinken und seufzte einmal laut auf. "Oh man ey, ich liebe Essen", stöhnte Klara, als sie sich noch ein Stück Pizza aus ihrem Karton fischte. Sie betrachtete es liebevoll und fügte hinzu: "Und Pizza liebe ich erst recht."


Das hatte Lia zum Lachen und somit wieder in die Realität gebracht. Eine Weile lang war sie wieder konzentriert gewesen, als sie mit geübtem Griff an einem Süßigkeiten-Baum zeichnete. Da die Wände zugeklebt waren, konnten die Schüler nämlich damit beginnen, ihre Motive zu skizzieren. Morgen würden sie dann mit der Farbe beginnen. Und damit mussten sich beeilen, denn sie hatten nur den morgigen Donnerstag und den Freitag Zeit, um den Raum für das Fest am Samstag herzurichten. 


Aber jetzt, da Lias Handy "17:43 Uhr" anzeigte, gab es keinen Grund mehr zur Konzentration. Die gesammelte Klasse saß auf dem Boden des Klassenzimmers. Vorhin hatte Frau Arnold sie dazu gedrängt, für heute Schluss zu machen und aufzuräumen. Jetzt stand die Lehrerin vor ihnen und lobte sie für ihren ersten künstlerischen Arbeitstag. "Das habt ihr bisher wirklich gut gemacht. Denkt dran, ab morgen Malerkittel oder irgendwelche alten Klamotten zu tragen. Ihr versaut euch beim Malen nur alles", erinnerte die Frau. Sie ließ ihren Blick durch den Raum streifen. Man sah ihr förmlich an, wie sie sich das Endprodukt des Raumes ausmalte. 

Erneut ermahnte Frau Arnold die Schüler, bloß nicht die Folien für den Overhead-Projektor zu vergessen. Sonst könnten sie ja gar nicht malen. Lia musste schmunzeln, als sie sich vorstellte, dass ihre Lehrerin wie eine Henne auf dem Ding saß, um es zu wärmen und beschützen. In Gedanken machte sie sich die Notiz, sicherheitshalber ein paar Fotos von den Motiven auszudrucken und morgen mitzubringen. Man kann sich ja nicht immer auf andere verlassen...


Unter offensichtlichem Vorurteil (oder war es Erfahrung?) wandte sich Frau Arnold noch an die Jungen. "Denkt dran, ich kontrolliere die Anwesenheit. Wer nicht da ist, braucht eine Entschuldigung der Eltern. Volljährig seid ihr ja noch nicht", zwinkerte sie böse. Dann blickte sie auf ihre Armbanduhr und beschloss, dass es für heute reichte. Wie von einer Tarantel gestochen sprangen die Jugendlichen auf, fielen laut in ihre Gespräche ein, kämpften darum, zuerst an ihren Rucksäcken zu sein und quetschten sich schließlich durch die Tür. Der ganze Korridor schwamm über mit Schülern, die aus dem Gebäude fliehen wollten. Nur schnell nach Hause und den Abend genießen, bevor man wieder hier war.

Einige Schüler sahen wirklich erschöpft und genervt aus. Klara und Lia waren sich einig, dass zumindest sie beide viel Spaß am Winterfest hatten. Sie waren eben an Kunst interessiert. Aber selbst die künstlerisch Unbegabten konnten genug Arbeit finden - wenn sie das nur wollten. 



Um die Mädchen herum wurde es immer enger und lauter, je näher sie auf den Haupteingang des Gebäudes zukamen. Man sollte meinen, dass Gymnasiasten wüssten, dass nicht alle vierhundert Leute gleichzeitig durch die Türen passten. Dennoch forderten sie diese Erkenntnis heraus. 
Genervt standen die Mädchen in der Schlange. Klara schnaubte schließlich: "Weißt du was, ich lauf hinten 'rum. Da bin ich wahrscheinlich sogar schneller bei der Bahn. Dann muss ich mich nicht mit den Menschen hier prügeln und du kannst dein Date mit Paul genießen". Sie kniff Lia kurz in die Wange, umarmte sie mehr schlecht als recht (Es war eher ein Oberkörper-Aneinander-Drücken), und verschwand schließlich in der Menschenmenge. 


Lia versuchte, ruhig zu bleiben, als sie sich schließlich durch die Türen schob. Sofort bog sie nach rechts ab, um dem Strom an pubertierenden, laut quasselnden Teenagern zu entkommen. Mit wackeligen Knien lief sie auf den Raucherhof zu. Sie sandte ein kurzes Stoßgebet gegen Himmel: "Bitte lass mich cool bleiben." Ob sie überhaupt in Ordnung aussah? Was, wenn ihre Haare noch unordentlicher als sonst waren? Sie hatte kein Deo mitgenommen. Was, wenn sie übel roch? 


Noch während sie auf den Raucherhof zuschritt, wurden ihre Gedanken immer schwärzer. Fast wäre sie stehen geblieben und weggerannt, so sehr zweifelte sie an sich. Dann ermahnte sie sich jedoch selbst. Lia, du fährst mit einem Freund Bahn. Das ist nicht deine Hängung. Ihr versteht euch prima. Du magst ihn. Du schaffst das!


Lia richtete sich auf, hob ihren Kopf und atmete tief durch. Ja, sie würde das schaffen. Sie bog um die Ecke des Geländes und sah Paul. Er blickte von seinem Handy auf, lächelte und winkte ihr zögerlich zu. Lias Herz wurde sofort warm und ihre Füße wurden ganz von selbst schneller. Da hörte sie von hinten eine Stimme rufen: "LIA!"

Verwirrt blieb sie stehen und blickte über die Schulter. Da kam doch tatsächlich die schüchterne Yasmin angerannt, ein zierliches, unscheinbares Mädchen aus ihrer Klasse. "Hey", sagte sie leise. Ihre schmale Brust hob und senkte sich rasch. "Kann ich mit dir Bahn fahren?"


Was hätte Lia sagen sollen? Am liebsten hätte sie ein lautes "NEIN" geschrien. Warum gerade jetzt?! Sie war keine dreißig Meter von Paul entfernt, da bat sie diese einsame Seele um Gesellschaft. Lia konnte nicht ablehnen. Yasmin sah sie mit so hoffnungsvollen Augen an, ihr Blick klammerte sich förmlich an die Blondine. Und auch Paul sah zu ihnen herüber, seine Augenbrauen leicht zusammengezogen. Lia konnte doch nicht vor seinen Augen so eine simple Bitte abschlagen, oder? Oder wollte er das?


Letztendlich folgte Lia ihren guten Manieren. Auf ihr Herz war nämlich sowieso kein Verlass mehr. Sie sah sich selbst von außen, wie sie langsam nickte, sich ein Lächeln auf die Lippen zwang, und "natürlich" flüsterte. Lia sah in Zeitlupe, wie sie mit dem Mädchen an ihrer Seite auf Paul zuging und ihn anlächelte. "Yasmin, Paul. Paul, Yasmin", gestikulierte sie mit zittrigen Händen. Ihre Augen schimmerten traurig, als sie Paul ansah. Er schien ihren Unmut zu verstehen und sie trösten zu wollen, denn als er ein lässiges "Hi" antwortete, schaute er nur Lia an. Mit so durchdringenden Augen, dass sie gar nicht anders konnte, als in seinem Blick zu versinken. Er sah nur sie. 

BROKEN (TRUST)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt