Immer wieder ging ihr die Antwort durch den Kopf, die Paul ihr gesendet hatte. Sie kreiste wie ein Netz aus Buchstaben um Lias Gehirn und Herz und ließ sie an nichts anderes mehr denken. Immer, wenn sie mit den Gedanken abschweifte und dann wieder zu diesem einen Satz zurücksprang, überschlug sich Lias Herz so sehr, dass ihr schlecht wurde.
Paul: "Gerne, ich warte dann um 18 Uhr auf dem Raucherhof auf dich."
Gerne. Mochte er sie vielleicht doch? Warum 'doch', Lia?, fragte sich das Mädchen selbst. Würde er sie nicht mögen, würde er nicht so viel mit ihr schreiben, oder? Vielleicht war er einfach nur schüchtern und hatte sich deshalb in ihrer Anwesenheit nichts anmerken lassen. Ja, vielleicht war es ihm einfach nur angenehm, vor seinen Kumpels so interessiert zu ihr zu schauen, wie Lia es bei ihm tat. Deshalb hatte er sie immer ignoriert.
18 Uhr. Das waren noch ganze sechs Stunden. Sechs Stunden, in denen Lia gefoltert wurde. Sie wollte endlich persönlich mit ihm reden. So oft hatte sie verträumt auf ihr Handy gestarrt, während seine Stimme ihr die lustigsten Alltagsgeschichten erzählte. Sie wollte sehen, wie sein Mund sich bewegte, um die Laute zu artikulieren. Sie wollte seine Gestik und Mimik sehen, wenn er mit ihr sprach.
Der nächste Punkt verwunderte Lia ein wenig: Sie wollte wissen, wie er roch. Ihr Bio-Lehrer hatte mal erwähnt, dass das Sprichwort "Jemanden nicht riechen können" tatsächlich biologisch belegbar sei. Seitdem brannte ihr die Frage - wortwörtlich - in der Nase, wie Paul riechen würde. Vielleicht nach dem Rauch seiner Zigaretten? Das wäre logisch.
Auf dem Raucherhof. Warten...auf dich. Mich. Seine Wortwahl drückte ein gewisse Erhabenheit aus. Es klang nach dem Warten nur auf eine bestimmte Person. Nur auf sie? Wenn Lia daran dachte, wie Paul dort stehen würde, die Schultern leicht nach vorne gebeugt, das Gewicht nur auf einem Bein tragend, die Hände in den Hosentaschen, mit Blick auf das Schultor...Ihr wurde wieder schlecht vor Aufregung. Ob seine Augen genauso aussahen, wie auf den Fotos? So mehrfarbig? Nicht richtig blau, nicht nicht grün, nicht richtig grau? Ob sein Bart kratzte? Lia wurde rot. So schnell wollte sie das nicht herausfinden.
Mit einem tiefen Ein- und Ausatmen zwang sich die Jugendliche dazu, Ruhe zu bewahren. Als wäre sie in einem anderen Raum gewesen, sah sie erst jetzt wieder, wo sie sich befand. Sie stand in der Mitte eines Klassenraums. Alle Tische und Stühle waren heraus geräumt und auf dem Dachboden (der wirklich schaurigste, aber auch spannendste Ort der Schule) verstaut worden. Wenn sie aus der geöffneten Tür schaute, sah man überall Schüler herumirren, jeder mit einem Blatt Papier, Tischen oder Stühlen in den Händen. Wenn man auf den Korridor heraustrat, konnte man von überall laute Stimmen und Musik dröhnen hören. Die Klassen schienen miteinander zur konkurrieren, wessen Box wohl am Lautesten sein konnte - Und wer somit zuerst von den Lehrern gebeten wurde, die Musik leiser zu drehen.
Um Lia herum war auch viel los. Ihre Klassenkameraden bemühten sich, die Wände mit Backpapier zu bekleben und somit das Malen zu ermöglichen. Zum Glück waren einige Jungen so groß, dass sie die wandlangen Streifen des Papiers an den vorgesehenen Brettern befestigen konnten. Schon seit Lia an der Schule war, waren ihr die Bretter an den Wänden aufgefallen. Sie waren vielleicht einen halben Meter unterhalb der Zimmerdecken horizontal angebracht. Lia dachte immer, dass sie wie eine Garderobe aussahen. Nur ohne Kleiderhaken.
Heute war also der Tag, an dem die Bretter benutzt wurden, um das Backpapier anzukleben. Außerdem befanden sich an den Holzleisten ein paar wenige, nachträglich angeschraubte Haken. An diesen knoteten die Schüler Kordel fest, welches sie wie ein Schachbrett über den ganzen Raum spannten. Lia stand genau unter einem der Seil-Quadrate, die nun über ihren Köpfen schwebten. Denn jetzt wurde die "Decke" angebracht. Da sie einen Himmel über der Schokoladenfabrik darstellen wollten, wurde blauer und weißer Stoff in langen Bahnen über das Gerüst aus gespannten Seilen ausgelegt. Das mussten Schüler machen, die auf Stühlen standen. Mühselig rückten sie die Bahnen zurecht und befestigten sie mit Stecknadeln aneinander. Diese Aufgabe, die einem irgendwann Nackenschmerzen bescherte, übernahm Klara. Und Lia war die Möchtegern-Beschäftigte, die sicherheitshalber Klaras Stuhl festhielt und ihr die Stecknadeln nach oben reichte.
Klara hatte lange nichts mehr gesagt. Als Lia ihr von ihrer "Verabredung" mit Paul erzählt hatte, hatte sie nur kurz die Augenbraugen zusammengezogen und schließlich "Na geht doch" gemurmelt. Trotzdem sah sie nicht sonderlich begeistert aus. Lia befürchtete, ihre beste Freundin einfach schon zu oft mit dem Thema genervt zu haben, sodass ihre Begeisterung dafür abgekühlt war. Anstatt sie also auf ihre milde Antwort anzusprechen, schwieg Lia und lauschte der Musik, während sie immer wieder eine Stecknadel aus ihrer Hand nahm und vorsichtig in die Klaras legte.
Gerade lief "Sweet Child O' Mine" von Guns N' Roses. Lia fand die Band in Ordnung und war somit mehr als glücklich, nicht in einem der Räume zu arbeiten, die nur Assi-Rap spielten. Dann hätte sie vermutlich die Stecknadeln in ihrer Hand nutzen müssen, um die Menschen abzuwerfen, die alle dreißig Sekunden einen neuen, schrecklichen Song anspielten.
Die Stimme ihrer Lehrerin riss sie aus ihren hinterhältigen Gedanken. "Also wir haben es jetzt halb eins. Ich würde sagen, wir machen noch schnell die Decke fertig und machen dann eine Mittagspause. Wir sehen uns so um halb zwei wieder hier. Vollständig", betonte sie mit einem mahnenden Blick in Richtung der Jungs. Ein kurzes, zustimmendes Gemurmel ging durch den Raum. Einige Schüler stürmten direkt in den Korridor, einige wenige blieben zurück. Unter anderem Lia und Klara, die noch ihre Himmelsbahn fertig legen mussten.
"Was Frau Arnold mit 'wir' meinte, ist mir nicht so ganz klar", knirschte Klara. Tatsächlich war ihre Klassenlehrerin den Vormittag über mehr unterwegs als bei ihnen gewesen. Lia nickte Klara nur zustimmend zu und fragte sich, ob Frau Arnold mit ihnen malen würde. Das war zumindest der Teil, auf den Lia sich freute.
"Holen wir uns gleich eine Pizza?", fragte Lia ihre Freundin. Ihr Magen grummelte schon bei dem Gedanken an den zerlaufenen Käse. "Logisch", antwortete Klara, während sie mit einer Stecknadel zwischen den Zähnen an einer Stoffbahn herum fummelte. Ihre dunklen Haare fielen ihr in die Augen und Lia musste ein wenig schmunzeln über den konzentrierten Anblick ihrer "besseren Hälfte".
Schließlich verstaute Klara die letzte Stecknadel zwischen dem Stoff, strich sich die Haare hinter die Ohren und sprang von ihrem Stuhl. "Boah, jetzt tut mir aber der Nacken weh", klagte sie, "Und ich brauch' jetzt dringend was zu essen."
Grinsend tätschelte Lia ihr die Schulter, als die beiden Mädchen zu ihren Rucksäcken gingen und ihre Portemonnaies holten. Gutgelaunt eilten sie die Treppen zwischen den Stockwerken herunter, während sie aufgeregt über das bevorstehende Winterfest diskutierten. Von überall dröhnte Musik und ständig lief ein gestresster Lehrer oder eine Gruppe quasselnder Schüler an ihnen vorbei. Die Schule schien schon jetzt verwandelt.
Als sie gerade um die nächste Kurve bogen, wäre Lia fast über ihre eigenen Füße gestolpert. Vor ihr, mit einem Collegeblock und einem Stift in der Hand, stand niemand geringeres als Paul Wolff.
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BROKEN (TRUST)
JugendliteraturJa, es ist schon seltsam, wie sich Lia und Paul kennen lernen. Es erscheint wie Ironie des Schicksals, dass sich ihre Wege so oft berührt, aber nie gekreuzt hatten. Und als sich ihre Welten endlich vermischen, wird ihre Beziehung zueinander noch ku...