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Bevor Lia reagieren konnte, spürte sie grapschende Hände an ihrem Hintern. Mit einem hohen Quieken drehte sie sich ruckartig nach ihrem Angreifer um, wobei sie fast von der Trittleiter fiel. In Lias Blickfeld rückte nun Klara, die triumphierend die schmalen Finger in die Luft hielt. Mit einem teuflischen Grinsen grapschte Klara erneut in die Luft, sodass Lia die weiße Farbe wahrnahm, die an ihren Fingern klebte.


"Nein!", schrie die Blondine auf, "Das hast du nicht gemacht!" Mit einem Seufzen betrachtete Lia die Handabdrücke auf ihrem Allerwertesten (Gut, dass sie uralte Leggings und ein Malerhemd angezogen hatte!). Klara hingegen legte nur ihr frechstes Schmunzeln auf und zuckte lässig mit den Schultern. "Was hätte ich machen sollen? Im Farbeimer hat sich dein Hintern nur so drin gespiegelt, so sehr hast du das gute Stück präsentiert." Als sie sah, dass ihre Freundin rot anlief, lachte Klara schelmisch. "Ich hab' halt konzentriert gemalt...Da achtet man nicht so auf seine Körperhaltung", verteidigte sich Lia. Als ihr einfiel, wobei ihre Freundin sie gerade unterbrochen hatte, schnellte ihr Kopf wieder zu der Wand. Die rot-weißen Grundzüge eines Zuckerstangenbaums waren zu erkennen. Lia trat näher an ihr Projekt heran - Zum Glück hatte sie durch Klaras Attacke nicht übergemalt.

"Nächstes Mal warnst du mich gefälligst vor!", meckerte Lia, während sie selbst ihren Finger in den roten Farbeimer tunkte. Spielerisch kreischte Klara, als ihr bewusst wurde, was ihre beste Freundin vorhatte: Rache. Einige ihrer Mitschüler drehten sich bereits mit interessierten Blicken zu ihnen um. Nicht einmal die laute Musik, die das Sprechen in ihrem Raum kaum möglich machte, konnte ihren kleinen Kampf überdecken.



Gerade als Klara aus dem Raum fliehen wollte, tauchte Jenny hinter ihr auf. In der Schule hatten Lia und Jenny nicht viel mehr als vorher miteinander gesprochen. Das war eigentlich schade, denn auf Leos Geburtstag hatten die Mädchen sich eigentlich gut verstanden, so dachte Lia. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass Jenny sie etwas kritisch musterte...Aber das bildete sie sich bestimmt nur ein. Sie mochte Jenny und in diesem Moment hoffte Lia, das Mädchen als Verbündete zu gewinnen. Mit großen Augen deutete sie erst auf ihren vor Farbe tropfenden Finger und schließlich auf die kleine Brünette, die zu fliehen versuchte. Jenny begriff schnell. Geschickt packte sie Klara bei den Armen und hielt sie fest.


Lachend warf das Mädchen seinen Kopf hin und her. Doch Klaras Bewegungen konnten die roten Streifen, die nun ihr Gesicht zierten, nicht verhindern. "Okay", atmete Klara aus, "Jetzt sind wir quitt! Es wird Zeit, den Schmodder loszuwerden." Lia zwinkerte Jenny zu, während sie an ihr vorbei aus der Tür lief. Jenny erwiderte ihren Dank mit einem sanften Lächeln und einem Nicken ihres Kopfes.


Kurz nachdem die Mädchen ihre Hände gesäubert hatten, kam Frau Arnold um die Ecke. Anscheinend hatte die Lehrerin nach langem Fehlen mal wieder in den Projektraum ihrer Klasse geschaut, denn jetzt hetzte sie von der Tür aus auf die Freundinnen zu. "Gut, dass ich euch hier treffe! Würdet ihr bitte runter zu den Kunsträumen gehen und neue lila Farbe besorgen? Und vielleicht nochmal Grün für morgen nachbestellen? Alle anderen sind gerade so in ihre Gemälde vertieft... Danke!", orderte sie nur, dann war sie auch schon wieder verschwunden.

Gleichzeitig stöhnten Klara und Lia auf. Mit Sicherheit hatten auf einmal alle Schüler auf furchtbar beschäftigt getan, als ihre Klassenlehrerin den Raum betreten hatte. Und jetzt durften sie die Bestellung aufgeben. Klara entschied sich jedoch dafür, ihren scheinbar langweiligen Auftrag ein wenig zu modifizieren: "Hey, hat Paul dich nicht eingeladen, mal seinen Raum zu besuchen?" "J-ja, hat er", antwortete Lia zögerlich. "Na dann haben wir ja schon mal einen Zwischenstopp festgelegt, wo dein liebeskrankes Herz auftanken kann", neckte Klara ihre Freundin. Sie zwinkerte der Blonden zu und stieß sie leicht an der Schulter an. Halbherzig schubste Lia ihre Freundin zurück. Ihre pinken Wangen wölbten sich über ihrem aufgeregten Lächeln.


Immer heftiger hämmerte Lia das Herz gegen ihre Brust, je näher sie dem Raum kamen, den Paul ihr beschrieben hatte. Breaking Bad. Lia fragte sich, was er gerade tun würde. Mit vorsichtigen Bleistiftstrichen die Wand verzieren? Konzentriert Farben anmischen und mit geübtem Auge schattieren? Lia hoffte sehr, dass er etwas gemalt hatte, was sie betrachten konnte. Bisher hatte er ihr nur ein Foto von einer Kritzelei geschickt - Lia war hin und weg gewesen von seinem Talent. Was konnte er eigentlich nicht? Bei all seinen Hobbies und Eigenschaften (Vegetarier, Gitarrist, Musical-Fan, Künstler, Scherzkeks...) wusste Lia wirklich keinen Haken zu finden.

Vorsichtig lugten die Mädchen in den Raum hinein. Die Schüler, die unter lautem Gedröhne der Musikbox die Wände bearbeiteten, bemerkten die jüngeren Schülerinnen nicht. Schnell ließ Lia ihren Blick über die Klasse schweifen. Erst als sie zwei Mal alle Gestalten in dem gedämpften Licht gescannt hatte, stellte sie enttäuscht fest, dass Paul nicht anwesend war. Als hätte Klara ihre Gedanken gelesen, legte diese ihr die Hand auf die Schulter und versprach, dass sie es wann anders nochmal versuchen würden.


Mit leicht gedämpfter Laune trottete Lia neben ihrer Freundin die Treppen hinunter. Klara schwieg ausnahmsweise, sodass Lia Zeit hatte, ihre Gedanken zu sortieren. Die Bahnfahrt gestern Abend war schön gewesen, hätte aber auch besser verlaufen können. Als sie an ihrer Haltestelle ausgestiegen waren, waren Paul, Yasmin und Lia wortkarg nebeneinander hergelaufen. Sie waren alle müde und erschöpft gewesen und die Energie, die Lia zwischen sich und Paul gespürt hatte, war wie weggewischt. An einer Kreuzung hatten sich schließlich die Wege der drei Jugendlichen getrennt, sodass Lia allein den Marsch durch die abendliche Kälte vollzogen hatte. Bis heute hatte Paul ihr nicht geschrieben...


Im Kunstzimmer, das zu einer Art Ausgabestelle für Farbe und Pinsel umfunktioniert worden war, überlieferten die Mädchen den Auftrag ihrer Lehrerin. Gut gelaunt suchten die Lehrer die Tuben und Eimer zusammen und stellten sie schließlich auf die improvisierte Theke. "Bitte hier drauf euren Klassenlehrer und die Klasse schreiben", erklärte eine Lehrkraft übertrieben fröhlich während sie auf einen Zettel zeigte. Anschließend wandte sie sich übereifrig an die nächsten Schüler.


Mit den Farben im Arm schlenderten Lia und Klara zurück in Richtung ihres Projektraumes. Nur langsam erklommen sie die Treppen, die sie zu ihrer Schokoladenfabrik bringen würden. Ständig kamen ihnen Schüler entgegen - Die Schule war zu einem aufgescheuchten Bienennest geworden. Gerade als die Mädchen darüber spekulierten, ob Frau Arnold vielleicht mit einem Overhead-Projektor kuscheln war und deshalb ihre Klasse vernachlässigte, hörten sie eine Stimme rufen. "LIIIIIAAAA!", wurde der Name langgezogen.



Verwirrt stoppten die Mädchen mitten auf der Treppe und drehten sich herum. Einige Meter entfernt stand Paul mit zwei Kumpels im Korridor. Er grinste und winkte Lia zu, während seine Gruppe langsam auf die Treppe zulief. "Cool bleiben, gib' ihm etwas Attitude", raunte ihr Klara zu, die sich bereits zum Gehen abwandte. "Denk' an deinen Po", kicherte Klara zusätzlich. Lia atmete tief durch und wartete eine weitere Handlung Pauls ab. Auf die ließ sich nicht lange warten: "Später wieder Bahn fahren? Gleiche Zeit, gleicher Ort." Aufmerksam betrachtete der junge Mann das Mädchen, dass lässig über ihm auf der Treppe stand. "Klar", bemühte Lia sich um einen entspannten Tonfall. Einer Eingebung folgend lächelte sie Paul kurz an und warf dann mit Leichtigkeit ihr dickes Haar herum. Auf einmal war sie seltsam darauf bedacht, ihren Rücken gerade zu halten und ihre Schritte so grazil wie möglich zu gestalten. Ihren Po, der Klaras Handabdrücke präsentierte, streckte sie absichtlich hervor.


Meine Güte Lia, was ist nur mit dir los?, fragte Lia sich selbst, während sie ohne einen Blick zurück ihrer Freundin folgte. Ihr Gesicht explodierte bald vor Freude. Doch das würde Paul nicht sehen. Der war viel zu sehr gebannt von dem Anblick, den das Mädchen ihm gerade bot.


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Wenn ihr Lia, Paul oder Klara mit nur einem einzigen Wort beschreiben solltet, welches wäre es? :)

BROKEN (TRUST)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt