- 22 -

16 3 0
                                    

"Er hat WAS?!"


Klaras Stimme sprengte fast die Telefonleitung. Auf der anderen Seite zuckte Lia zusammen, ihre Finger umklammerten das Handy in ihrer Hand. Klara blähte die Nasenflügel auf, atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe: "Habe ich das richtig verstanden, Lia?"

Vor ihren Augen konnte Lia deutlich das wutverzerrte Gesicht ihrer besten Freundin sehen. Wie sie erwartet hatte, würde die kleine Brünette an die Decke gehen. Und das höchstwahrscheinlich auch noch zurecht. Es war eine kluge Entscheidung gewesen, den Anruf an Klara zu verzögern. Sie hätte gestern noch ihre Tür eingerannt und sie vom Schlafen abgehalten.


"Lia?", fragte Klara energisch, "Ist das wirklich wahr? Er hat dich stehen gelassen?"


Als Klara den Sachverhalt aussprach, der das Mädchen so betrübte, musste Lia unwillkürlich einen dicken Kloß herunter schlucken. Obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte, antwortete sie mit leiser Stimme: "Ja... Ja, das hat er wohl. Er hat mich bestimmt einfach nur vergessen."


"EINFACH NUR VERGESSEN? Ich bitte dich Lia, du hast ja wohl mitbekommen, wie Paul dich gestern bei deiner Schicht angeschmachtet hat, oder? Hast du die Sprachnachricht schon wieder vergessen? Die konnte ja wohl keiner überhören, erst recht nicht du!", rief Klara empört in ihr Handy. Wenn sie jetzt in den Spiegel sehen würde, würden ihre braunen Haare eine zornige rote Glühbirne einrahmen.


"Ja, das habe ich mitbekommen, aber -" "Kein aber, Lia!", unterbrach sie Klara. "Du kannst mir sämtliche Ausreden für sein Scheiß-Verhalten nennen, aber das Vergessen eines Dates, das man gerade erst ausgemacht hat, ist nicht zu entschuldigen!" Klara schnaubte mit vollster Leidenschaft aus ihrer niedlichen Nase. Fast hätte Lia über das Verhalten ihrer Freundin kichern wollen, doch über ihrer sonst so blumigen Welt hing eine dicke fette schwarze Wolke. Sie atmete nun ebenfalls hörbar aus und gab zu: "Ja, wahrscheinlich hast du recht."


Lia löste ihren Schneidersitz und ließ sich nach hinten in ihre Kissen sinken. Das Bett war ihr ein sanfter Ort des Trosts geworden. Dort ließ sie jeder allein und wenn man es schaffte, einzuschlafen, waren die Gedanken auch erst mal ausgestellt. Sie würde ihr Bett heute nicht mehr verlassen. Immerhin war es Wochenende.

"Streich das 'wahrscheinlich'", brummte Klaras Stimme aus dem Handylautsprecher. "Und jetzt erzähl mir das Ganze nochmal von vorne."



Voller Vorfreude schmiss sich Lia ihre Winterjacke über. Sie wickelte sich ihren dicken Schal um den Hals, obwohl es in dem überfüllten Schulgebäude viel zu warm war. Das Winterfest hatte seinen Höhepunkt erreicht und von überall drang unkontrolliertes Gelalle an ihre Ohren. Ihr Herz schlug ebenso unkontrolliert - aufgeregt schien es hin und her zu hüpfen. Es ließ Lia keine Ruhe.

Das Mädchen packte seinen Rucksack, warf ihn sich über und suchte nach seiner besten Freundin. Klara erschien nun auch aus dem Klassenzimmer, in welchem sie gerade ihre Schicht beendet hatten. Jetzt würden sie die Schokoladenfabrik in andere Hände geben. Lias überschwängliches Grinsen übertrug sich auf Klaras Gesicht. Beide strahlten um die Wette, als Klara plötzlich auf Lia zutrat und sie fest in die Arme schloss. "Pass auf dich auf, Kleine", murmelte Klara an Lias Schal. "Ich bin größer als du. Bestimmt zwei Zentimeter", witzelte Lia zurück. In ihrer Magengegend breitete sich ein überwältigendes Gefühl der Zuneigung aus.

Kurz drückten die Mädchen sich noch fester aneinander, dann ließen sie voneinander ab. Die Freundinnen verabschiedeten sich. "Viel Glück", rief Klara der jüngeren Schülerin hinterher, die sich bereits durch die Menge kämpfte. Kurz konnte Klara noch die blonden Locken sehen, die sich über dem dicken Schal kräuselten, dann wurde Lia auch schon von der Menschenmenge verschluckt.


Lia brauchte bestimmt zehn Minuten, um vom obersten Stockwerk in das Erdgeschoss der Schule zu gelangen. Die Korridore platzten bald aus allen Nähten. Es war unmöglich, in einem gleichmäßigen Tempo durch die Gänge zu spazieren. Ständig wurde man an andere Menschen gedrückt, die schlimmstenfalls auch noch in eine andere Richtung wollten. Gerade als Lia das Gedrängel wirklich satt hatte, quetschte sie sich aus der Eingangstür der Schule. Eiskalte Winterluft umspielte sofort ihren Körper und kühlte ihn zunächst angenehm, später mit beißender Kälte ab.

Ihr Atem formte kleine Wölkchen in der kalten Nacht. Der Schulhof war überschwänglich mit Lichterketten dekoriert und hier und da liefen ein paar Gäste lachend an ihr vorbei, während sie sich vor das Gebäude begab, das Paul ihr als Treffpunkt genannt hatte. "Elf Uhr vor der Mensa", hatte er mit einem Zwinkern seines rechten Auges gesagt. Das war ein Versprechen gewesen, oder nicht? Es hätte eins sein sollen.


Lia wartete. Fünf Minuten. Fünfzehn. Nach zwanzig Minuten schaute sie mit steifen Fingern auf ihr Handy. Keine Nachricht. Das Mädchen entschied sich dazu, kurz in das Gebäude zu gehen, um sich aufzuwärmen. Was, wenn Paul genau dann kommen und sie verpassen würde? Er würde sie doch sicherlich suchen und kontaktieren, oder? Lia ging schließlich hinein und ließ sich auf der Damentoilette heißes Wasser über ihre blauen Finger laufen. Ihre Aufregung hatte einen Dämpfer erfahren.

Sie stellte sich erneut vor die Tür des großen Gebäudes. Ob er sie vielleicht übersehen hatte? Nein - Sie war die Einzige, die dauerhaft vor den Türen stand. Alle anderen Gäste strömten an ihr vorbei. Die einen hinein, die anderen zu den dekorierten Räumen am anderen Ende des Schulhofes hinaus. Ihre Laune wurde mit jeder Sekunde schwärzer. Vierzig Minuten. In Lias Gedanken breitete sich eine riesengroße Leere aus. Ihr war bitterkalt. Auch von innen. Fünfundvierzig Minuten. Im Inneren der Mensa stimmte die Lehrerband das nächste Lied an. Bevor Lia hören konnte, welcher Hit der 80-er jetzt gespielt werden würde, riss ihr Geduldsfaden. Sie machte auf dem Absatz kehrt und stapfte mit müden, aber energischen Schritten auf den Schulparkplatz zu. Dabei lief sie an dem Raucherhof vorbei. Kein Paul zu sehen. Wütend fischte sie das Handy aus ihrer Jackentasche. Keine Nachricht. Sie lief immer schneller, als sie die Telefonnummer ihres Vaters wählte. ER würde sie nicht in der Kälte stehen lassen.

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 30, 2018 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

BROKEN (TRUST)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt