- 11 -

31 10 3
                                    

Die Schule war in Aufruhr. Man spürte ein dauerhaftes Summen auf dem Gelände, als handele es sich um ein Bienennest. Jeden Tag schien diese Aufregung zu wachsen, bis es fast unerträglich wurde, immer nur das gleiche Wort in den Gesprächen aufzuschnappen: "Winterfest". 


Alle zwei Jahre veranstaltete Lias Schule das Winterfest. Anfang Dezember wurden alle ehemaligen Schüler und Schülerinnen - egal, welchen Alters - eingeladen, in die besonders geschmückte Schule zu kommen und sich mit ihren ehemaligen Lehrern und Lehrerinnen zu betrinken. Meistens endete das Fest in 40-jährigen Alkoholleichen, die von ihren Partnern, Kindern, Lehrern - wem auch immer - wieder nach Hause gebracht werden mussten. 


Natürlich waren die Schüler weniger an dem Alkoholkonsum oder an dem Treffen ihrer Lehrer interessiert. Die mussten sie ja ohnehin jeden Tag sehen, wie sie mit ihren Taschen und Koffern mal mehr, mal weniger zielstrebig über den Campus schlenderten. Nein, was die Aufregung der Schüler verursachte, war der "besondere Schmuck", den sich die Schule für die Veranstaltung anlegte. 


Die Klassen der Jahrgangsstufen 9, 11, 12 und 13 (Es war eine G8-Schule, sodass es die 10. Klasse nicht gab) bekamen jeweils einen Raum zugeteilt, den sie nach einem beliebigen Thema "schmücken" durften. Und dieser Schmuck fiel großartig aus. Stinknormale Klassenräume verwandelten sich in eine Stadt aus dem Wilden Westen, eine Burlesque-Bar, eine KfZ-Werkstatt, ein Gaming-Raum. Das Winterfest war ein Fest, das sämtliche Künstlerherzen höher schlagen ließ. 


Zuerst würden die Wände mit riesigen Papierstreifen, die wie Backpapier aussahen, abgeklebt werden. An eingebohrten Haken an der Decke würden Seile gespannt und Stoff aufgehängt werden, sodass ein normaler Klassenraum wirklich nicht mehr zu erkennen war. Und anschließend würden die Malerkittel angezogen, die Farbe ausgepackt und die Wände bestrichen werden. Alles im Sinne desjenigen Motivs, welches sich die Klasse vorher ausgesucht hat. 


Und genau in dieser Diskussion saßen gerade Lia und Klara. Ihre Klassenlehrerin Frau Arnold bemühte sich, die Klasse wieder ruhig zu stimmen, nachdem ein Junge "The Walking Dead" vorgeschlagen hatte. Einige zustimmende Rufe waren ausgebrochen, andere zurückhaltende Aussagen wie "Ich hab Angst vor Zombies!" waren geäußert worden. Klara erhob ihre Stimme und erklärte: "Klar ist das Thema cool, aber ich weiß nicht, ob wir damit viele Besucher anlocken." 


Der weitere Pluspunkt des Festes war nämlich, dass die Einnahmen, die sie durch das Getränke-Verkaufen in den Räumen bekamen, in ihre Klassenkasse flossen. Schon jetzt malten die Jugendlichen sich einen lustigen Ausflug mit Pizza- oder Eis-Essen aus. Doch um Geld einzunehmen, mussten auch Leute kommen und sich dazu eingeladen fühlen, ein wenig in ihrem Raum zu verweilen. Und das wollte vielleicht nicht jeder, wenn ihnen Negans Baseballschläger Lucille gegen die Nase baumelte oder ein Zombie sie beim Biertrinken anstarrte. 


Einige stimmten Klara zu, woraufhin sie vorschlug: "Die Richtung Film oder Serie ist bestimmt cool. Das kennen viele und man bekommt gute Bildvorlagen." Lia räusperte sich und fügte an: "Ich denke, mystisch oder actionreich ist okay, aber ich weiß nicht, wie 'Grusel' ankommt." Absichtlich strich sie mit ihren Fingern die Anführungszeichen in die Luft. Nicht, dass ihr die Jungs gleich einen Vortrag halten wollten, was man als "Grusel" zu verstehen hätte. 


Frau Arnold bat die Klasse, die wieder in eine Diskussion über Serien ausbrach, erneut um Ruhe. Die 15- und 16-Jährigen gehorchten ihr ausnahmsweise. Kurz war es ganz still, als sich Frau Arnold ihre Worte zurecht legte. "Ich denke, dass Klara mit dem Thema Film oder Serie einen guten Vorschlag gemacht hat. Dann müssen wir uns nicht neue Motive einfallen lassen und wir können mit dem Overhead-Projektor die Bilder an die Wände projizieren und direkt abmalen." Ach ja, Frau Arnold und ihr geliebter Overhead-Projektor. Sie war eine nette und ruhige Lehrerin, die dazu neigte, im Geschichtsunterricht mit etwas zu monotoner Stimme zu sprechen. Und ihr Lieblingsmedium, neben sorgfältigen Tafelbildern, war der Projektor. Wenn ein schüchterner Schüler an ihre Tür klopfen und nach dem Projektor fragen sollte, wies sie ihn stets ab. Es war ein Wunder, wenn sie ihn für eine Stunde nicht benötigte. 


Nach einer kurzen Pause fügte die Lehrerin hinzu: "Ich finde auch, dass das Thema nicht zu dunkel werden sollte. Wer möchte schon in einem dunklen Raum sitzen?" 


Hier wurde sich die Klasse wieder uneinig. Mit Gemurmel gaben die Jungen zum Besten, dass der vorige Jahrgang schon einen "Slenderman"-Raum gemalt hatte. Der war ganz schwarz gewesen, mit Bäumen und einer Hütte. Überall hingen gruselige Zettel und schließlich war der  weißgesichtige große Mann auch in eine Ecke gemalt worden. Länge hätte sich Lia dort wirklich nicht aufhalten wollen. 


Mimi, ein Mädchen mit langen roten Haaren, meldete sich und schlug "Charlie und die Schokoladenfabrik" vor. Tatsächlich blieb die Klasse eine kurze Zeit lang ruhig. Diejenigen, die den Film gesehen hatten, dachten vielleicht an die merkwürdigen Wesen - die Oompa Loompas - die in der Fabrik herumtanzten. Lia kommentierte: "Da gibt es auf jeden Fall tolle Landschaftsmotive. Und die Tafel könnte man als riesige Schokoladentafel im Wonka-Design verkleiden." Dieser Vorschlag erhielt als Antwort ein zustimmendes Raunen. 


Ein anderes Mädchen schlug "Mission Impossible" vor. So richtig fiel den Jugendlichen jedoch nicht ein, was sie an Motiven verwenden konnten. Stattdessen kam noch ein Vorschlag zur Schokoladdenfabrik von der schüchternen, jedoch kunstbegeisterten Laura. "Wir könnten auf die Tische diese goldenen Tickets aus den Schokoladenpackungen auslegen. Und an eine Wand Zuckerstangen und -bäume malen." Auch die Idee wurde positiv aufgenommen. 


Frau Arnold, die die Vorschläge sorgfältig mitgeschrieben hatte, fragte in die Klasse, wer den Film noch nicht gesehen habe. Es meldete sich ein gutes Drittel. "Hat den Film jemand zuhause? Dann machen wir nächste Doppelstunde einen Filmtag und diskutieren erneut über die Motive. Dann kann ich die Farben bestellen, die wir hauptsächlich brauchen werden." 


Mimi, die das Thema überhaupt eingeführt hatte, hielt ihre Hand in die Luft. Sie würde den Film am Donnerstag mitbringen. Frau Arnold sagte den Jugendlichen noch, dass sie schon einmal nach möglichen Motiven googlen sollten. Sie wollte noch etwas anfügen, wurde jedoch von der Schulglocke unterbrochen. Da sie sich nicht mit der Zeit anlegen wollte, zuckte sie nur mit den Schultern und verabschiedete sich lächelnd von ihrer Klasse. Diese hatte schon lange ihre Sachen in die Rucksäcke gestopft und war pünktlich zum Gong aufgesprungen. 


"Winter is coming!", rief ein Junge nur, woraufhin die Klasse lachend den Raum verließ. 

BROKEN (TRUST)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt