8. Kapitel

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Yara fand Bryan hinter der Hütte. Er schlief an einen baufälligen Schuppen gelehnt, erwachte jedoch bei dem Klang ihrer näherkommenden Schritte. Sie setzte sich neben ihn auf den gefrorenen Boden und breitete eine Decke über ihren Beinen aus. So saßen sie da, in einträchtigen Schweigen.

"Wohin bist du letzte Nacht gegangen?" Sein Blick brannte sich durch ihre Kleidung, als könne er das Mal durch den dicken Mantel erkennen. Denn das dort nach dem Leuchten etwas zurückgeblieben war spürte sie. Allerdings war sie nicht bereit, es preiszugeben, erst recht nicht Bryan.

"Ich hatte das Gefühl zu ersticken", entgegnete Yara die halbe Wahrheit. "Es ist ungewohnt, nach so langer Heimatlosigkeit ein Dach über dem Kopf zu haben." Vielleicht waren ihre Worte mit dieser weiteren Halbwahrheit zu einer eigenen ganzen geworden. Ihr Gehirn fand seltsame Wege, ihr Gewissen zu erleichtern. Bryan schluckte es augenscheinlich.

"Das geht mir genauso. Wenn ich keine Arbeit habe, streife ich oft tagelang durch die Wälder. Manchmal glaube ich, ich will vor etwas davonrennen, das größer ist als wir alle." Er las ihr die Verwirrung vom Gesicht ab, weswegen er schnell fortfuhr: "Meine Urgroßmutter war eine Seherin. Hin und wieder sehe ich Bilder, von denen ich nicht weiß, ob sie Träumen entspringen oder die Zukunft zeigen." Sie nickte bloß.

Nach einiger Zeit kam Lunos mit zwei dampfenden Schüsseln um die Hütte. Erstaunlicherweise lächelte er.

"Wir brechen in einer Stunde auf. Yara, du sollst vorher nochmal reinkommen." Fassungslos blickte sie ihn an und brachte ein Nicken zustande. Möglicherweise hatte sie Kräuterhexe ihn einer Gehirnwäsche unterzogen. Lunos war nie nett zu ihr. Beschwingten Schrittes ging er zurück. Schulterzuckend wandte sie sich ihrer Suppe zu. Das Gespräch mit Bryan war in den Hintergrund gerückt, wobei er immer noch eine Reaktion zu erwarten schien. Die sie ihm nicht geben konnte. Irgendwie war ihr der Gesprächsverlauf wie aus dem Gedächtnis radiert. Mit gerunzelter Stirn versuchte sie sich zu erinnern.

"Alles in Ordnung?" Bryans Stimme holte sie aus dem Nebel ihrer Gedanken. "Hast du dir letzte Nacht den Kopf an einem tief hängenden Ast gestoßen?"

"Letzte Nacht?", echote Yara und es klang unglaublich schwach. Es war als hätte Lunos' Verschwinden jeden klaren Gedanken mit sich genommen. Ihr Sitznachbar musterte sie zusehend besorgter.

"Als du draußen warst." Inzwischen hatte sie ihre Suppe aufgegessen, weswegen es ihr nichts ausmachte, dass Bryan sie auf die Füße zog. "Das ist doch nicht normal", murmelte er mehr zu sich selbst.

"Ich komm gleich wieder", sagte sie leicht irritiert. Mit einem Blick auf seine ebenfalls leere Schale fügte sie hinzu: "Soll ich deine mitnehmen?" Leicht lächelnd reichte er sie ihr. Yaras Knie zitterten, als sie in die Hütte trat. Sie war weiterhin ängstlich vor Alaneos Reaktion. Was wäre, wenn er sie nicht mehr mitnehmen wollte? Trotz ihres guten Orientierungssinns würde sie nicht zurück in die Stadt finden. Die Kräuterhexe trat ihr als erstes in den Weg.

"Da bist du ja. Komm mit, ich hab etwas für dich." Sie folgte der gebückten Gestalt, die trotz allem so viel Autorität ausstrahlte. Die Kräuterhexe führte sie in einen durch Perlenvorhänge abgetrennten Bereich im hintersten Teil der Hütte. Das war also eine richtige Hexenküche. Allerlei gruselige Dinge standen in Gläsern dicht an dicht in den Regalen und neben einem schmalen Steintisch brodelte ein Kessel vor sich hin. Die Schalen in Yaras Hand wurden gegen eine Tasse mit undefinierbarem Inhalt eingetauscht.

"So von Hexe zu Hexe, deine Schutzschilde sind ziemlich schwach. Dieser Tee wird sie stärken und alle Unreinheiten ausbrennen." Sie zuckte zusammen. Yara hatte sich nie selbst als Hexe gesehen, allenfalls als Mensch mit Affinität zur Magie. Die alte Frau schien ihre Unsicherheit nicht zu bemerken. Und da Alaneo ihr scheinbar vertraute, kippte Yara den bitteren Inhalt der Tasse in einem Zug hinunter. Nichts tat sich, was scheinbar völlig normal war.

Gemeinsam gingen sie wieder in das Wohnzimmer, wo Alaneo bereits wartete. Er musterte sie verhalten mit einem Hauch von Neugier.

"Wie fühlst du dich?" Sie horchte in sich hinein. Es war, als würde sich langsam ein Schleier heben, aber trotzdem noch alles verbergen.

"Ganz gut. Aber ich habe das Gefühl, etwas fehlt", gab sie das erste Mal seit langem die volle Wahrheit ihrer Gefühlswelt preis. Und es fühlte sich gut an. Alaneo lachte sie nicht aus. Er schien sie sogar zu verstehen. Vorsichtig griff er nach ihrer Hand. Kleine Stromstöße setzten über.

"Vielleicht finden wir es ja." Hoffnung machte sich in ihr breit. Diese überschäumenden Gefühle verwirrten und beruhigten sie zugleich. Dabei hatte sie ihn doch extra gemieden, um solch einer Situation vorzubeugen. Peinlich berührt lösten sie ihre verschränkten Finger. Lunos stand hustend hinter ihnen.

"Können wir los?" Alaneo nickte.

"Wir werden das Haus in etwa drei Tagen erreichen, bei unserem aktuellen Tempo", erklärte er ihr noch und folgte dann seinem Bruder in das kleine Zimmer. Ein Hauch von Vorfreude breitete sich in ihr aus.

Die Kräuterhexe ließ sich kurz vor ihrer Abreise nicht mehr blicken, was niemanden zu kümmern schien. Ab sofort übernahm Bryan die Führung und Alaneo widmete sich ganz ihr. Lunos marschierte glücklich mit dem Pferd an der Hand neben Bryan voraus und lauschte gespannt seinen Geschichten. Dieser hatte sie nach dem Frühstück nicht ein einziges Mal angesehen.

Zu Beginn fühlte Yara sich unwohl bei Alaneos Aufmerksamkeit und Bryans völliger Ignoranz. Aber je weiter der Tag voranschritt, desto entspannter wurde sie. Auch wenn ihr innerer Sog von Meter zu Meter stärker zu werden schien, war es auch leichter, ihn zu ertragen. Größtenteils schob sie ihn auf ihre Müdigkeit, fragte sich aber schnell, ob es wirklich zu war. Die anderen bekamen von ihrem inneren Kampf nichts mit. Dabei wirkten sie alle selbst über Nacht verändert. Fragen brannten in Yara, auf die niemand eine Antwort haben würde.

Die Nacht brach früh an. Früher als gewöhnlich. Trotzdem liefen sie weiter. Hauptsächlich um sich warm zu halten, denn am direkten Fuß der Berge war es deutlich kühler. Die Kälte fraß sich durch die Schlitze der Wollmäntel und biss unangenehm auf der Haut. Auf der anderen Seite konnten sie auch nicht anhalten und Schutz vor der Kälte suchen, denn sie waren wie in ihrem Lauftrott gefangen.

Selbst Alaneo, der sonst immer um das Wohlergehen aller besorgt war, lief weiter. Schon bald knickten Yara die Beine vor Erschöpfung weg. Dann konnte er nicht mehr die Tatsache der unverhohlenen Erschöpfung leugnen.

"Wir müssen uns ausruhen." Seine Stimme klang vor Erschöpfung ganz rau, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Die letzten Meilen war es schleichend bergauf gegangen. Als hätte sie genau verstanden, knickte die Stute in dem Moment die Vorderbeine ein und machte es sich auf dem Boden bequem. Mehr als einmal war Yara der Gedanke gekommen, sich von ihr tragen zu lassen. Im nächsten tat ihr das Pferd mit der doppelten Last wieder leid.

Diese Stelle war mehr als ungünstig. Zwar konnten sie auf der offenen Fläche Gefährdungen erkennen, dafür pfiff ihnen auch der Wind um die Ohren. Ein paar hundert Meter entfernt ragte eine Felskante in die Höhe, die ihnen Rückendeckung verschaffen könnte. Aber keiner hatte mehr die Kraft für den Marsch. Obwohl es bitterkalt war, machte Alaneo kein Feuer. Ihm war es zu riskant. Fragte sich nur, wie er gedachte, die Nacht zu überleben.

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