Yara blickte zufrieden in den wolkenverhangenen Himmel und genoss die winzigen Stiche einzelner Regentropfen auf ihren von der Kälte geröteten Wangen. Für die erste Winterwoche war es bereits eisig kalt, so dass es sie wunderte, dass der Regen sich noch nicht in Schnee verwandelt hatte.
Das Klimpern vieler Münzen riss sie aus ihren Träumereien. Einer Obdachlosen war ihr Becher mit dem Geld des Tages auf den Boden gefallen, doch niemand eilte ihr zu Hilfe. Sie wollte sich gerade zur Hilfe hinknien, da hatte die Alte die Münzen bereits wieder eingesammelt und jedem im Umkreis einen bösen Blick zugeworfen. Schulterzuckend wandte sie sich ab und strich sich das Tuch auf ihrem Kopf zurecht, welches die auffälligen roten Haare verbarg. Zu dieser Zeit zählte es nicht als sinnvoll, sich mit den angeblichen Merkmalen einer Hexe zu zeigen.
Immer noch grübelnd trat sie in eine verlassene Gasse, um sich zu ihrem Unterschlupf für die Nacht zu begeben. Die Frau hätte bestimmt nicht gewollt, dass jemand ihre Überlebenssicherheit berührte. Nur wollte die völlige Ignoranz der Umstehenden ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. War das immer so in der Stadt? Sie war noch nicht lange hier, weshalb sie auf ein Hotelzimmer verzichtet hatte. Natürlich auch um ihr wenig Erspartes zu schützen. Vielleicht war sie morgen bereits gezwungen, abzureisen ohne sich eine Arbeit gesucht haben zu können, um ihre Vorräte aufzustocken.
Sehr zu Yaras Erschrecken stellte sie fest, dass sich bereits jemand anderes in ihren dünnen Decken in die überdachte Nische gekuschelt hatte. Alles wichtige trug sie am Leib unter den zusätzlichen Kleiderschichten, doch mit Decken beladen durch die Stadt zu laufen wäre noch um einiges auffälliger gewesen. Mit den vielen Pullovern und Jacken verdeckte sie immerhin ihren ausgemergelten Körper. Die wochenlange Reise mit wenig Nahrung machte sich bemerkbar.
Das Herz schlug ihr so schnell in der Brust wie ein Kolibri mit seinen Flügeln. Als sie näher kam, konnte sie das Gesicht eines kleinen Jungen erkennen. Die sauberen, runden Wangen zeugten von einem Leben fernab der Straße. Was also hatte ein Kind in ihrem Nachtlager zu suchen? Leise kniete sie sich neben die Gestalt und strich ihm das verklebte Haar aus der Stirn. Scheinbar war er vor nicht allzu langer Zeit gelaufen.Die blonden, schwitzigen Locken des Jungen erinnerten sie an das Leben, das sie hinter sich gelassen hatte. Erinnerungen drängten vor ihr inneres Auge, wollten sie ertränken. Energisch schob sie die Vergangenheit von sich, es reichte, wenn diese sie nachts in ihren Träumen heimsuchte. Unter ihrer Berührung begann der Junge leise vor sich hin zu murmeln. Sie schätzte ihn auf zwölf zarte Jahre, kein Alter, um die kalten Nächte zu dieser Jahreszeit durchzustehen. Während sie überlegte, wie sie mit der neuen Situation umgehen sollte, regte der Kleine sich. Als er sie vor sich hocken sah, stieß er einen gellenden Schrei aus, von dem sie hoffte, dass er keine Aufmerksamkeit erregte.
"Psst! Nicht so laut, ich tu dir doch nichts!", zischte Yara und ging ein bisschen auf Abstand. Der Junge blickte sie aus großen grauen Augen verschreckt an. In dem Dämmerlicht, das in dieser Gasse herrschte, wirkten sie fast weiß. Alles an diesem Kind war das genaue Gegenteil ihrer selbst.
"Wer bist du?", fragte er mit zitternder Stimme und kuschelte sich tiefer in ihre Decken. Sie rieb sich bei diesem Anblick die klammen Finger aneinander. Vorhin hatte sie den ersten Regen seit Monaten genossen, doch jetzt sehnte sie sich nur noch nach Wärme.
"Mach Platz, dann erklär ich es dir." Ihre Stimme klang falsch in ihren Ohren, aber den Jungen schienen ihre gesäuselten Worte zu beruhigen. Bereitwillig machte er ihr Platz und sie quetschte sich in die ohnehin bereits enge Nische. Ein gutes hatte dieser ungeplante Gast; die Decken waren mollig warm. " Jetzt erklärst du mir erst einmal, wer du bist. Du siehst nicht aus, als wärst du von hier." Der kleine Blondschopf ließ so viel Platz zwischen ihnen wie es mit einer geteilten Decke möglich war. Unter ihnen waren noch weitere, doch diese hielten die Kälte der Steine fern. Eine Blasen- oder Lungenentzündung um diese Jahreszeit kam einem Todesurteil gleich.
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Nashra - Kristall Chroniken I
FantasyYara lebt auf der Straße, in einer Zeit, in der jede Art von Magie verachtet wird. Sie ist auf der Flucht vor sich selbst und ihrer Vergangenheit, als sie auf Alaneo und seinen kleinen Bruder trifft, die so gar nicht in diese schmutzige Seite der Ge...