2. Kapitel

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"Alan!" Gehetzt sprang der Blondschopf auf und versetzte Yara einen schmerzhaften Stoß mit dem Ellbogen, während er sich aus den Decken schälte. Ein in schwarz gehüllter Mann trat um die Ecke in ihr Sichtfeld. So weit wie möglich zog Yara sich in den Spalt zurück. Sie hasste Fremde. Glücklicherweise schenkte ihr niemand Beachtung. Der Mann zog Lunos in seine Arme und schien ihn gar nicht mehr loslassen zu wollen. Ein Stich fuhr ihr bei dieser vermeintlichen Familienzusammenführung ins Herz. Ihre Eltern würden sie nie im Leben so herzlich wieder in ihrer Mitte begrüßen. Was auch verständlich war, nachdem Yara sie so hintergangen hatte.

"Warum bist du abgehauen? Du weißt doch, dass ich mich um dich sorge, Kleiner." Der Mann stand auf und wuschelte dem Jungen durch die Haare. Um Lunos' Vater zu sein, sah er zu jung aus. Als schwache Lichter eine Gesichtshälfte beleuchteten konnte Yara erkennen, dass er nicht viel älter als sie selbst sein konnte. Für einen Mann war es nicht verwunderlich, alleine unterwegs zu sein, mit einem kleinen Kind an der Seite wurde es allerdings interessant.

"Du hast mich schon wieder bei Levin abgeschoben wegen deiner Geheimniskrämerei. Ich hab dich gesucht." Schmollend verschränkte er die Arme vor der Brust und entfernte die Hand des Älteren aus seinem Haar. Neugierig setzte Yara sich ein kleines Stückchen auf, um das Geschehnis ein bisschen besser überblicken zu können. Augenblicklich schnellte der Blick des jungen Mannes zu ihr.

"Wer ist da?" Seine vorhin angenehme sanfte Stimme hatte sich ins genaue Gegenteil geschlagen. Yara traute sich nicht zu antworten. Der Mann - Alan, wie Lunos ihn genannt hatte - wandte sich an diesen. "Wer ist das?" Stille. Innerlich betete sie, dass der Kleine sie nicht verraten würde.

"Sie hat mir meine Decken weggenommen." Tief ausatmend sank sie in sich zusammen. Jetzt stand sie vor einem durchaus ernstzunehmenden Mann wie eine Verbrecherin da, wo sie sich doch nur vor dem Tod hatte retten wollen. Mit ihren Sachen, wohlgemerkt.

"Woher hast du denn die Decken?" Immerhin ging der Mann mit Logik an die Sache ran, so dass ihr keine Strafe angehängt werden konnte. Ein wenig verwundert war Yara schon über den Sinneswandel des Kindes und auch wenn sie es sich noch nicht eingestehen mochte, es kränkte sie. Kinder waren bekanntlich immer ehrlich. Inwieweit das für einen ungefähr dreizehnjährigen Junge galt, stand nicht zur Debatte.

"Ich hab die Decken gefunden und sie hat sich dann einfach mit ihren stinkenden Klamotten neben mich gelegt." Mit jedem Wort wurde er sicherer, sah sich in seinem eigenen Lügengespinst gestärkt. Sein Familienmitglied glaubte ihm nicht. Yara rätselte immer noch, ob er vielleicht doch Vater, Onkel oder Bruder sein konnte. Die aufsteigende Empörung unterdrückte sie mühsam. Er war nur ein dummes Kind. Seine Meinung sollte sie nicht interessierten. Tat es trotz allem doch.

"Ich glaube nicht, dass das deine Decken sind, Lunos. Und bestimmt kann sie nichts für ihren Körpergeruch. Das kommt davon, wenn man auf der Straße ohne Dach über dem Kopf lebt." Hitze flammte in Yaras Wangen auf. Obwohl der junge Mann nicht in einem abwertenden Ton sprach, fühlte sie sich gedemütigt. Ja, ihre letzte Dusche lag einige Zeit zurück. Glücklicherweise war der Spalt zwischen den Häusern zu schmal für die breiten Schultern des Fremden. Hier war sie sicher, falls er ihr doch etwas antun wollte. Die Beiden sollten einfach abziehen.

"Ich habe die Decken aber gefunden! Außerdem möchte ich duschen. Lass uns schnell zu Levin nach Hause. Bleibst du dieses Mal bei mir?" Sie spürte den durchdringenden Blick Alans, wobei er sie eigentlich nicht in den Schatten sehen konnte.

"Na gut. Während du duschen gehst, muss ich aber noch eine Kleinigkeit erledigen. Ich verspreche dir, danach bleibe ich für mindestens eine Woche bei dir." Nicht ganz zufrieden, aber besänftigt griff Lunos nach der Hand des Älteren. Zusammen verschwanden sie um die nächste Ecke. Erleichtert atmete Yara aus. Ruhe. Alleinsein. Das war der Weg, für den sie sich entschieden hatte. Erst dachte sie noch daran, ihre Sachen zu packen und weiterzuziehen. Alans Worte hatten wie ein Versprechen geklungen. Doch dann hatte der Schlaf sie wieder in ihren Fängen und ließ sie seit langer Zeit endlich einmal traumlos ruhen.

Nashra - Kristall Chroniken IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt