Alaneo war trotz blanker Füße schneller über das steinige Flussbett zurück zum Lager gelaufen, als Yara blinzeln konnte. Sie brauchte einige Sekunden, um den Hintergrund des Schreis zu verstehen. Lunos! In Windeseile schlüpfte sie zurück in ihre Schuhe und lief mit Alaneos in der einen und den Stöcke in der anderen Hand hinter ihm her.
Atemlos kam sie zum Stehen. Alan fuhr sich völlig verzweifelt durch die Haare, von seinem Bruder keine Spur. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Zaghaft legte sie eine Hand auf seinen Arm, die kleinen Streitigkeiten waren null und nichtig. Der Selbsthass in seinen Augen brach ihr ein Stück weit das Herz. Dann gab es für ihn kein Halten mehr uns er zog sie an sich, während ihr Blick prüfend über die kleine Lichtung glitt. Keine offensichtlichen Spuren einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Hätte sie nicht den Schrei klar und deutlich gehört, hätte sie glauben können, Lunos wäre nur kurz in den Wald gegangen.
"Ich hatte die Verantwortung für ihn", murmelte Alan in Yaras Haar ihr Griff wurde fester.
"Wir wissen nich gar nicht, was geschehen ist. Vielleicht ist er noch gar nicht so weit weg." Sie musste es nicht aussprechen, ihnen beiden war klar, dass Lunos entführt worden war.
"Die Drachen! Sie werden uns helfen." Euphorie leuchtete in seinen Augen. Er ging zurück in den Wald hinein und stieß einen lauten Pfiff aus. Nur wenig später ertönte ein träges Rascheln, woraufhin Yara das erste Mal den anderen Drachen in voller Pracht sehen konnte. Raaiks Schuppen glänzten in einem tiefen Kupferton, ähnlich wie ihr eigenes Haar. Einen schönen Kontrast dazu bildeten seine großen grünen Augen und die bläulich flackernden Flammen, die über seine Haut züngelten. Ein Feuerdrache durch und durch.
Die beiden Partner sprachen miteinander, doch Yara konnte kein Wort verstehen. Sprach sie mit Nashra etwa auch unbewusst eine eigene Sprache? Vorsichtig tastete sie nach dem Band zu ihrem Drachen. Er reagierte sofort und war aufgrund ihrer eigenen Gefühlswelt ganz aufgewühlt. Rasch berichtete sie ihm, was geschehen war. Unterdessen beendete Alan seine Unterhaltung mit seinem Drachen.
"Raaik und ich werden das Gebiet von oben absuchen. Es wäre toll, wenn ihr am Boden Lunos' Spur aufnehmt." Noch während Yara nickte, schwang er sich auf den Rücken seines Gefährten und gemeinsam stiegen sie in den Himmel empor. Auch wenn sie um die Flugfähigkeiten der Drachen wusste, wäre sie nie auf die Idee gekommen, auf ihm zu reiten.
Nashra war weiter entfernt, weshalb es länger dauerte, bis er die Einsamkeit um Yara vertrieb. Seufzend strich sie ihm als Begrüßung über den Kopf. Sie liebte das Gefühl der Schuppen und Schatten unter ihren Fingern. Die Sorge um Lunos war schwer zu ertragen. Viel Zeit ließen sie sich nicht, in einträchtigem Schweigen liefen sie sich los.
Erst später fiel ihr auf, dass sie mit Alan keine Zeit und keinen fes en Treffpunkt ausgemacht hatte. Und dass es verdammt gefährlich war, am helllichten Tag auf einem Drachen über den Himmel zu reisen. Nashra beruhigte sie jedoch. Feuerdrachen fiel es leichter, sich tagsüber anzupassen als Schattendrachen.
Als die Dämmerung über sie hereinbrach und Yaras Magen vor Hunger laut knurrte, traten sie den Weg zurück ins Lager an. Anfangs hatten sie die Spur von Lunos leicht verfolgen können, doch schon bald verlor sie sich und war einfach nicht wieder zu finden. Hoffentlich war es Alan besser ergangen. Am Flussufer trafen sie auf die andere Suchmannschaft. Sie hatten scheinbar genauso wenig Erfolg zu verzeichnen, denn Alan hatte bereits ein paar Fische aus dem Fluss gefangen. In seinen Augen erlosch auch der letzte Hoffnungsschimmer.
"Das war's dann wohl." Er warf den letzten Fisch ins Lager und kam aus den flachen Fluten gewatet. Raaik entfachte das Feuer, sie hatten das Lager hierher verlegt.
"Uns ist niemand gefolgt, das hätten wir gemerkt. Er kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen!"
"Wir suchen morgen in aller Frühe weiter nach ihm. So erschöpft wie wir alle sind, nutzt das niemandem etwas." Außerdem knurrte ihr Magen laut. Alaneo machte sich daran, die Fische auszunehmen und anschließend auf einigen Stöcken über dem Feuer zu braten. Yara hatte davon keine Ahnung und war dementsprechend keine große Hilfe. Als sie endlich den gebackenen Fisch probieren konnte, bedankte sie sich überschwänglich. Seite an Seite starrten sie während der Mahlzeit in die Glut. Die Drachen hatten sich um die wenigen Innereien gekümmert und anschließend zwischen die Bäume zurückgezogen.
Über das Rauschen des Flusses und das gleichmäßige Atmen ihres Reisegefährten kam sie langsam zur Ruhe. Sein Körper an ihrem fühlte sich wundervoll an, und sie war froh, dass es zwischen ihnen auch ohne funktionierte. Scheinbar sogar besser, als wenn einer von ihnen etwas falsches sagte. Mit den Sternen in ihren Augen, schlief Yara schnell ein.
Bereits im Morgengrauen warf es Yara aus dem Schlaf. Mit einem Mal war sie hellwach und hatte keinen Schimmer, wieso. Unter der Decke lag sie wirr verschlungen mit Alan, sein Atem strich weiterhin gleichmäßig über ihre Haut. Im Geiste öffnete sie die Verbindung zu Nashra, woraufhin sie ihr plötzliches Erwachen verstand. Nashra war in Alarmbereitschaft, versuchte dies jedoch so gut es gibt vor ihr abzuschirmen. Sanft bat sie um Einlass in seinen Geist und war einmal mehr erstaunt, wie leicht und natürlich das inzwischen war.
Nashra zeigte ihr, dass er dabei war eine Spur zu verfolgen. Raaik hatte ihn gebeten, einer Rauchsäule in einigen Meilen Entfernung auf den Grund zu gehen. Er hatte eingewilligt und beobachtete nun in tiefste Schatten gehüllt, Bryan und seinen Drachen. Schockiert zog Yara sich zurück. Ihr Drachengefährt versicherte ihr zwar, dass weit und breit keine Spur von Lunos zu entdecken war, doch das beruhigte sie nicht im geringsten. Sie haderte mit sich, ob sie Alan wecken sollte oder nicht. Es war schön, ihn so dicht und friedlich bei sich zu wissen.
Mit Nashra traf sie die Vereinbarung, so schnell wie möglich zu ihm zu stoßen. Vorsichtig stupste sie Alan an. Dann platzierte sie zaghaft einen Kuss auf seinen Lippen, ein Friedensangebot, welches er auf der Stelle annahm. Aus dem versprochenen 'so schnell wie möglich' wurde nichts, denn sie ließen sich Zeit, jeden Zentimeter des Gesichts des anderen zu erkunden. Yara tastete über seinen leichten Bartschatten, während er mit den kleinen Locken in ihrem Nacken spielte.
Flüsternd teilte sie ihm Nashras Entdeckung mit und zerstörte damit diesen kostbaren Moment. Natürlich war er sofort auf den Beinen und sie vermisste augenblicklich seine Wärme und Nähe.
"Warum hast du mir das nicht schon eher gesagt? Wir müssen sofort aufbrechen!" Seufzend machte sie sich daran, alle Sachen zusammenzuräumen. Nebenbei aßen sie die übrig gebliebenen Fische. Sie waren teils schon gefroren und definitiv kein leckeres Frühstück, aber es war besser als nichts. Soweit Nashra ihr gezeigt hatte, lag ein langer Weg vor ihnen.
Sie waren noch nicht weit gekommen, als ein Rascheln die winterliche Stille unterbrach. Jeder hatte seinen Gedanken nachgehangen. Insgeheim hatte Yara gehofft, Alaneo würde sie auf Raaik schnell an ihr Ziel bringen, doch der Drache hatte sich während ihren Zärtlichkeiten aus dem Staub gemacht. Blitzschnell hatte Alan seinen Bogen gezogen und das Gepäck ohne ein Geräusch auf den Boden gelegt.
'Warte hier', formten seine Lippen stumm. Den folgenden Geräuschen nach handelte es sich bei ihrer Beute um ein großes Tier. Das Rascheln wurde lauter und hektischer, dann erklang ein heiseres Röhren. Alaneo trat mit blutverschmierten Händen zwischen den Ästen hervor. Einen Moment setzte ihr Herz aus, in der Sorge, er sei verletzt. Seinem breiten Lächeln nach zu urteilen, kam das nicht in Frage.
"Schau dir das an! Ein Rehbock, unser Essen ist für die nächsten Tage gerettet." Einen Wimpernschlag überwog die Freude, bis ihnen wieder in den Sinn kam, dass sie nicht vollständig waren und nun vor dem Problem standen, wie sie ein so großes Tier auf ihrer Suche transportieren sollten. Normalerweise wären sie ohne Umschweife zur Hütte zurückgekehrt, aber so war die Zukunft ungewiss.
Yara erlitt beinahe einen Herzstillstand als plötzlich Raaik neben ihr auftauchte. Er und Alan führten eine innere Konversation, bis der Feuerdrache sich mit dem Kadaver des Rehbocks in die Lüfte erhob. Fragend blickte sie ihm nach.
"Er bringt ihn zur Hütte, jetzt würde es uns nur behindern. Früher oder später müssen wir sowieso dorthin zurückkehren, ich hab die Chronik zurückgelassen." Er griff nach ihrer Hand, nachdem er sich das Blut mit dem Wasser aus einer Feldflasche von den Händen gewaschen hatte. Ihr Herz setzte ein weiteres Mal aus, jedoch vor Freude.
Nashra hielt sie über die Verbindung auf dem Laufenden. Bryan hatte die Ruhe weg, war sich seines Beobachters nicht bewusst. Ihr Drachengefährte zweifelte an Bryans Schuld. Lunos war mit Sicherheit nicht bei ihm, doch Alaneo bestand darauf, den Bergführer trotzdem zu befragen.
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Nashra - Kristall Chroniken I
FantasiaYara lebt auf der Straße, in einer Zeit, in der jede Art von Magie verachtet wird. Sie ist auf der Flucht vor sich selbst und ihrer Vergangenheit, als sie auf Alaneo und seinen kleinen Bruder trifft, die so gar nicht in diese schmutzige Seite der Ge...