Ich bin für dich da

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Leila antwortete nicht. Starrte Shen lediglich stumm an. Man konnte sehen, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und jeglicher Rest Farbe langsam aus ihrem Gesicht verschwand. Bei diesem Anblick drehte sich Shen der Magen um. Das Mädchen, das alles war was sie nicht war, stand gerade kurz vor einem Tränenausbruch. Leila, die selbstsichere, mutige und starke Freundin. Eben die Art von Freundin, die man sich wünschte. Eine Person, die den Mund aufbekam und das sagte was sie dachte, sich für andere Personen einsetzte.

Also all das, was Shen nicht war. Normalerweise. Doch nun sagte Leila nichts, starrte schon fast durch Shen hindurch. Es schien, als wäre sie von einem Augenblick zum nächsten in ihrer eigenen Welt versunken.

Shen hatte keine Ahnung, wie lange die beiden so ausharrten, bis Leila plötzlich mit brüchiger und leiser Stimme antwortete: "Mein Dad..." weiter kam sie nicht, denn im nächsten Moment hatte sie angefangen, ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Shen schluckte. Was war mit ihrem Dad passiert?

Der Brünetten fiel das erste Treffen mit Leilas Vater wieder ein.

Sie saßen in Leilas Zimmer und machten gemeinsam Hausaufgaben. Keiner außer den Mädchen war Zuhause. Gerade als Shen gehen wollte, kam sie Jordan Skye die Treppe hinauf und lief ihr entgegen. Er trug einen Anzug, hielt einen dunkelbraunen Aktenkoffer am Griff in der linken Hand und seine hellbraunen Haare waren zurückgegelt. Er hatte Shen freundlich angelächelt, seine Grübchen stachen sehr aus seinem markanten Gesicht heraus. Die graublauen Augen hatten sie kurz gemustert, ehe er ihr tief in die Augen geschaut hatte und ihr die Hand hinstreckte. Mit einer tiefen, melodischen Stimme hatte er sich vorgestellt und als Shen ihren Namen gesagt hatte, nickte er lächelnd und machte sich auf den Weg in seine Wohnung. Shen hatte ihn noch ein paar mal gesehen. Er war ein wirklich netter Mann.

Bei dieser Erinnerung spannte Shen sich noch mehr an. Was war ihm bloß zugestoßen?

Sanft legte Shen eine Hand auf Leilas Schulter. Die Blondine hatte den Blickkontakt abgebrochen, ihre Augen waren auf die Matratze gerichtet, auf die im Sekundentakt neue Tränen tropften. Shen hatte keine Ahnung, was sie tun oder sagen sollte. Also beschloss sie, einfach zu warten bis Leila die Kraft hatte weiterzureden.

Und das erwies sich als ziemlich klug. Denn bald hatte Leila sich wieder ein bisschen beruhigt und fing leise, mit heiserer Stimme wieder an zu reden.
"Er...Wird wahrscheinlich...Ich..."

Erneut hörte sie auf zu erzählen.

"Hey, Leils. Du kannst mir alles erzählen, das weißt du, oder?", fragte Shen vorsichtig. Sie bekam nun wirklich Angst. Leila nickte bedrückt.

"Er liegt im kü-ünstlichen Koma...", beendete sie ihren Satz schließlich. Das letzte Wort war kaum mehr als ein Wispern. Shen hörte für einen Moment auf zu atmen. Hatte sie sich gerade verhört, oder lag
Mr. Skye wirklich im Koma?

Leila hatte aufgesehen und starrte nun wieder Shen an, als sie erneut eine Tränenwelle überkam. Eine heftigere. Sie fing an zu zittern und zu husten und Emy sprang vom Bett. Der Katze wurde es auf dem Bett wohl zu blöd und sie legte sich auf den Boden.

Shen schenkte ihr allerdings kaum Beachtung. Denn als sie Leila so sah, einer Panikattacke nah und komplett zerstört, konnte sie einfach nicht anders, als Leila vorsichtig am Handgelenk zu nehmen, ihren Oberkörper zu sich zu ziehen und sie in eine innige Umarmung einzuschließen.
Leila bewegte sich nicht. Sie legte lediglich den Kopf auf Shens Schulter und weinte weiter, während Shen ihr beruhigend durchs Haar strich.

Und da war es wieder. Dieses Gefühl. Das Kribbeln, das durch Shens Körper fuhr und sie verrückt machte. Am stärksten war es in ihrer Bauchgegend und in der Hand, mit der Shen über das Haar ihrer Freundin strich. Aber dieses Mal war es irgendwie anders. Nicht so unangenehm und bedrückend wie in der letzten Stunde, nein. Es fühlte sich...Gut an. Irgendwie so, als hätte Shen etwas gefunden, das sie seit ihrer Kindheit gesucht hatte. Etwas wichtiges, verloren geglaubtes. Sie konnte nur noch nicht deuten, was es war.

Ein paar Minuten blieben sie so sitzen und Leila beruhigte sich langsam. Shen fiel auf, dass Leila gar nicht gesagt hatte, warum ihr Dad im Krankenhaus lag. Aber das war okay. Sie würde es ihr erzählen, wenn sie soweit war. Ganz sicher.

Plötzlich regte Leila sich und setzte sich so hin, dass die beiden Blickkontakt hatten. Sie lächelte Shen traurig an, doch man konnte ihr die Erleichterung von der Stirn ablesen.
"Danke.", sagte sie, ihre Stimme klang nun ziemlich kratzig und brüchig. Die Blondine schniefte einmal kurz und wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullovers über das verteilte Gesicht, ehe sie fortfuhr.

"Danke, dass du da bist. Eine bessere Freundin als dich gibt es nicht." Erneut setzte sie ihr süßes, ehrliches und verfluchtes Lächeln auf.

Und obwohl Shen eigentlich hätte glücklich sein sollen, durchfuhr ein Stich ihre Brust. Irgendetwas hatte sie vom einen auf den anderen Moment bedrückt. Das was Leila gesagt hatte, traf Shen innerlich und sie wusste nicht wieso. Eine unangenehme Gänsehaut breitere sich auf ihrem Körper aus und obwohl Shen sich aus einem unerklärlichen Grund am liebsten schreiend die Haare rausgerissen hätte vor plötzlicher Trauer, rang sie sich ein Lächeln ab. Leila tief in die Augen sehend meinte sie:

"Ich bin für dich da."



(874 Wörter.)

Ihr verfluchtes Lächeln Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt