Der Wecker klingelte nun schon seit sechs Minuten. Doch sie dachte nicht mal daran, ihn auszumachen. Am besten blieb sie einfach liegen bis sie verhungerte. Dann würde ihr so einiges erspart bleiben. Doch als sie ihren Vater die Treppe hochstapfen hörte, sprang sie auf. Schnell hämmerte sie auf ihren Wecker und als er aus war, öffnete sie die Zimmertür.
Ihr Vater war bereits am oberen Ende der Treppe angelangt. Sein Blick strahlte keinesfalls gute Laune aus, seine Augen waren geweitet. Er hatte gekifft.
"Shen!", rief er mit lauter und wütender Stimme und kam auf sie zu. Sie bemerkte nun, wie sehr er eigentlich taumelte. Es war gerade mal 07:05 Uhr! Wie konnte man um diese Uhrzeit schon so viel trinken?!Shen merkte, wie mit jedem seiner Schritte etwas mehr Panik in ihr aufstieg. Am liebsten würde sie sich einfach in ihrem Zimmer einschließen und durch das Fenster abhauen. Von dem Fenster aus konnte sie auf das Garagendach springen und dann am Wasserrohr runter rutschen. Sie hatte das schon oft gemacht, als sie Abstand von ihrem Vater brauchte und bis jetzt hatte er nie etwas davon bemerkt. Und Shen wäre auch sehr glücklich wenn das auch so bliebe. Darum blieb sie einfach wie angewurzelt stehen und sah ihn mit einem ängstlichen Blick an. Dafür hasste sie sich! Sie wollte vor diesem Mann keine Angst, Tränen oder irgendeine andere Art von Schwäche zeigen. Diesen Gefallen gönnte sie ihm schon lange nicht mehr!
Als der Mann, den sie früher ihren Vater nannte, vor ihr zum Stehen kam, sah Shen mit einer Mischung aus Angst und Verunsicherung im Gesicht auf seine Brust. Sie wurde von einem grauen Tank-Top verdeckt. Unter den Achseln des Mannes konnte man den Schweiß förmlich riechen. Ekelhaft! Er trug eine blaue Boxershorts, sonst wurden seine Beine von dunkelbraunen Haaren bedeckt. Shen fand, dass er davon mehr hatte als auf seinem Kopf. Eine Halbglatze zierte den glänzenden Kopf ihres Vaters und ein Dreitagebart zierte sein markantes Kinn. Shen sah seinen fast schon spitzen Unterkiefer sich hin und her bewegen. Seine Zähne knirschten. Das tat er immer, wenn er sauer auf sie war. Und das war leider zu oft als ihr lieb war.
Langsam blickte sie in seine Augen. Dunkelbraun, fast schwarz waren sie. Dazu war die Pupille geweitet. Wie viel musste er denn getrunken haben?
"Du hast gefälligst aufzustehen wenn dein verschissener Wecker klingelt!", hörte sie plötzlich seine tiefe und kratzige Stimme. Ein Zucken durchfuhr ihren Körper. Verdammt! Shen hasste diese Stimme so abgrundtief!
Mit einem unsicheren Flüstern erwiderte sie nach ein paar Sekunden: "Es tut mir leid, Dad. Ich werde mich sofort fertig machen."
Ihr Vater nickte heftig und kurz dachte Shen, dass er einfach wieder runtergehen würde. Aber nein. Wäre auch zu schön gewesen. Mit seiner kräftigen Hand packte er Shen an den Haaren. Sie schrie auf. Ob vor Schreck, Schmerz oder Angst wusste sie selbst nicht so recht. Ihr Vater schleifte sie ins Badezimmer und schubste sie mit einem kräftigen Ruck hinein. Hinter sich hörte sie die Tür zuknallen."Ich hätte den Weg ins Bad nicht selbst gefunden, danke!", dachte sie wütend und rieb sich den Kopf. Er hatte einen wirklich festen Griff drauf.
Langsam schleppte Shen sich zum Spiegel, der fast eine gesamte Wand einnahm. Ihre dunkelbraunen Naturlocken standen wirr ab, die grün-blauen Augen starrten mit leerem Blick ihr Spiegelbild an. Ihre zartrosanen Lippen waren trocken und rissig und an ihrem langen, schmalen Kinn klebten ein paar Haare. Leise seufzte sie. Es würde lange dauern, halbwegs ansehnlich zu wirken.Tatsächlich hatte Shen insgesamt eine halbe Stunde gebraucht um sich fertig zu machen. Doch das Ergebnis ließ sich sehen! Ihre Locken hingen ordentlich bis zu ihren Hüften durch, die Augenringe wurden von Consealer abgedeckt, ein Lippgloss spendete ihren Lippen Feuchtigkeit und ließ sie größer und voller wirken. Dazu waren ihre Wangen leicht rosa und ihre Augen wurden von einem schlichten schwarzen Eyeliner umrandet. Shen fand sich eigentlich auch ohne Schminke schön, da ihre lange Nase perfekt auf das lange Gesicht abgestimmt war, ihr Hautton eine natürliche Farbe hatte und ihre Augen nicht so sehr herausstachen. Jedoch ließen die tiefen und dunklen Augenringe ihr Gesicht schlaff wirken und ihre brüchigen Lippen passten nicht in das Bild.
Das redete sie sich zumindest ein. Es war klar, dass Shen sich eigentlich nur aufhübschte, um nicht noch wegen ihrem Aussehen runtergemacht zu werden. Das war wirklich das letzte, was ihr noch fehlte.
Mit einem leichten Nicken ging sie aus dem Bad und verschwand in ihrem Schlafzimmer. Allein für ihr Outfit brauchte die Jugendliche nochmal 11 Minuten. Letztenendes trug sie ein weißes Tank-Top das ihre Figur betonte, darüber ein hellblaues Jeanshemd, eine schwarze Jeans und graue Nike-Schuhe. Auf Schmuck konnte Shen gut verzichten. Der wurde ihr in der Schule doch sowieso nur abgenommen.Relativ zufrieden mit ihrem Aussehen sah Shen auf ihr Handy. "Fuck!", rief sie. Es war schon 7:47 Uhr! In fünf Minuten würde ihr Schulbus kommen!
Schnell schnappte sie sich ihre Tasche, zog sich eine graue Baumwolljacke an, rannte runter und packte sich schnell ein ungeschmiertes Brötchen in die Tasche, bevor sie hätzend die Wohnung verließ. Hinaus in den Lärm der Straßen Belfasts.860 Wörter.
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Ihr verfluchtes Lächeln
Romantizm[...] Und dann sagte niemand mehr etwas. Sie saßen bloß schweigend an die Mauer gelehnt da, tranken abwechselnd aus der Bierflasche und beobachteten den Sonnenaufgang. Und während sie das taten, stieg in Shen ein lange verschwundenes und so sehr her...