Demütigungen

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Shen hatte es noch rechtzeitig zu ihrer Bushaltestelle geschafft - zwar war sie immer noch beklebt mit Eiskaffee und der Ersatzbus musste langer fahren, da dieser noch ein paar andere Straßen entlang fuhr, aber das war immer noch besser als nochmal zehn Minuten auf den nächsten Bus warten zu müssen.

Während der Busfahrt gab es zwei Dinge, die Shen nicht aus dem Kopf gehen wollten. Wie sollte sie den gewaltigen Fleck erklären, der auf ihrer Jacke und dem T-Shirt klebte? Wahrscheinlich würde ihr niemand abkaufen, dass das bereits so war. Sie seufzte. Ihre Klassenkameraden hatten also noch einen Grund um sie zu beleidigen. Shen sah es schon vor ihrem geistigen Auge: "Shen, die verwirrte Schleimerin die zu arm für Waschmittel ist!"

Bei diesem Gedanken ballte sie ihre Hände zu Fäusten und musste erst ein paar mal tief durchatmen, um nicht einfach loszuhäulen. Egal wie oft sie schon beleidigt wurde, egal wie oft sie bereits den gleichen Mist gehört hatte, sich daran gewöhnen konnte sie einfach nicht!

Ihre Gedanken drehten sich jedoch nicht nur um die Schule. Der andere Gedanke war Leila. Dieses Mädchen beunruhigte sie. Es war nicht so, dass es komisch war dass sie sie noch nie gesehen hatte. Belfast war ja auch nicht gerade klein. Aber was sie eher stutzig machte war, dass Leila so nett zu ihr war. Es gab natürlich mehrere Schulen in der Hauptstadt Nordirlands und nicht in jeder kannte man Shen, aber Leila sah ihr vom Alter her ähnlich, was schon mal mehrere Schulen in der Nähe ausschloss. Wahrscheinlich war sie neu. Ihr Hautton verstärkte diesen Verdacht nur. Niemand, der schon länger in Irland lebte, war so braun. Die Sonne schien nicht sonderlich oft und wirklich warm wurde es auch nicht. Im Sommer hatten sie Glück mit 25 Grad, aber mehr war da nicht.

Irgendwie brachte dieser Gedanke sie zum Lächeln. Es gab auch noch Jugendliche in ihrem Alter, die sie nicht als "Freak" bezeichneten. Allerdings wusste Shen auch, dass, sobald Leila auf ihre Schule kommen würde, genau das mit ihr passieren würde was mit allen anderen auch passierte wenn man sie sah: sie würde zur Mobberin werden.

Shen verstand nach wie vor nicht, warum sie von fast jedem in ihrem Jahrgang gemobbt wurde. Bis vor einem Jahr lief in ihrem Leben zumindest schulisch alles gut! Sie hatte gute Freunde, mit denen sie sich zum shoppen, übernachten oder einfach zum reden treffen konnte. Sie war normal, gehörte dazu. Aber das alles änderte sich schlagartig wegen so einem absurden Grund.

Vor einem Jahr, im Frühsommer, hatte sie ihrer besten Freundin Cassandra ein Geheimnis anvertraut. Sie hätte ihr alles anvertrauen können. Dachte sie.

Shen war so sehr in Gedanken versunken, dass sie fast nicht merkte wie der Bus vor ihrer Schule hielt. Kurz bevor der Fahrer die Türen wieder schließen wollte, schaffte Shen es, noch hindurch zu schlüpfen. "Das hätte mir ja gerade noch gefehlt.", murmelte sie leise und blickte auf ihre Armbanduhr. Verdammt! Sie war 12 Minuten zu spät!

Sofort setzte sich die Brünette in Bewegung, stieß das Schultor auf und ging zielstrebig auf die Treppe zu, die in den ersten Stock führte.
Als sie oben ankam, bog Shen einmal nach rechts ab, an ein paar Spinden vorbei, sah beim Vorbeilaufen ein Plakat für eine Spendenaktion und blieb am Ende des Ganges vor Zimmer 27 stehen. Ihr Klassenzimmer für die ersten drei Stunden. Shen atmete einmal tief ein und wieder aus und drückte dann die Türklinke runter. Langsam und vorsichtig, so als fürchtete sie, irgendjemand stehe hinter der Tür, öffnete sie und betrat den Klassenraum. Der Raum war groß, insgesamt fünf Tischreihen standen da, ein großes Fenster, das die ganze rechte Wandseite einnahm, an der hinteren Wand hingen Plakate und eine Vitrine mit zwei kleinen Pokalen und ein paar eingerahmten Urkunden darin.

Entschuldigend sah Shen zu ihrer Geschichtslehrerin Mrs. Kolton. Sie hatte bereits graue Haare, ihr Gesicht war faltig und eingefallen und sie hatte immer einen Grumpy-Cat-Blick, aber sie war wirklich nett.
"Es tut mir leid für meine Verspätung." Fing Shen an. "Ich hab meinen Bus nicht bekommen und musste später fahren." Shen spürte, wie ihre Wangen warm wurden - sie wurde rot. Na super.
Mrs. Kolton nickte leicht lächelnd und nickte zu Shens Platz. Dann meinte sie: "Ist schon in Ordnung, meine Liebe. Setz dich einfach hin."

Während Shen also auf ihren Einzelplatz ganz hinten am Fenster zuging, hörte sie bereits jetzt ihre Klassenkameraden über sie tuscheln. Ihre ehemalige Freundin Cassandra "flüsterte" so laut, als Shen an ihr vorbei ging, dass man es einfach hören musste: "Hey, Emma. Hast du den Fleck auf ihrem Oberteil gesehen? Ist die zu arm um ihr Zeug zu waschen oder was?"

Shen spürte einen Stich in ihrer Brust. Immer wenn Cassie solche Dinge sagte, reagierte sie besonders hart darauf. Immerhin waren die beiden früher beste Freundinnen und letztenendes war Cassie auch der Grund für ihre jetzige Lage. Hätte sie damals niemals rumerzählt, dass Shen auf Frauen stand, würde sie nun immer noch mit ihren Freundinnen lachen und den größten Unsinn machen.

Shen merkte, wie ihre Augen feucht wurden. Nein, sie wollte nicht weinen! Nicht vor der gesamten Klasse! Schnell rieb sie die nicht geweinten Tränen weg und holte ihr Geschichtsbuch aus ihrer Tasche. Jetzt hieß es, drei Stunden lang Mrs. Kolton zuhören...

Nachdem sie drei Stunden lang dem Gerede ihrer Geschichtslehrerin zuhören musste, hatte Shen endlich Freistunde. Als es klingelte, hatte sie bereits alles eingepackt und stürmte zur Tür raus. Shens Taktik in den Freistunden war, auf die Mädchentoilette zu gehen und sich im Klo einzusperren, damit sie ihre Ruhe hatte. Doch heute funktionierte das anscheinend nicht. Ihre Klassenkameraden waren schneller als sie im Erdgeschoss und eine kleine Gruppe aus Mädchen und Jungen die Shen fertig machten positionierte sich vor der Tür. Sie schluckte. Verdammt! Auf dem Absatz machte sie kehrt und wollte zum anderen Ende der Schule gehen, wo auch noch eine Mädchentoilette war, aber daraus würde wohl nichts mehr werden.

Shen bemerkte nicht, wie ein Junge aus der Gruppe sich grinsend von den anderen abwandte und auf sie zuging.
Er stellte ihr ein Bein und stieß sie gleichzeitig nach vorne. Mit einem erschrocken Aufschrei stolperte sie und fiel zu Boden. Hinter sich hörte Shen auf einmal schallendes Gelächter und aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie ihre Tasche vom Boden aufgehoben wurde.

Sofort wollte Shen wieder aufstehen, um nicht so schwach zu wirken, aber sie wurde nur wieder zu Boden getreten. Das Lachen wurde lauter, ließ ihre Ohren klingeln. Tränen bildeten sich in Shens Augen, ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Erneut wollte sie aufstehen, als sie plötzlich das Gewicht mehrerer Schulbücher auf sich spürte und mit einem Stöhnen wieder hinfiel. Die hatten ihre Tasche ausgeleert! Man müsste meinen, Shen war schon etwas abgehärtet was diese Stacheleien anging, jedoch spürte sie eine einzelne Träne über ihre Wange rinnen. Verdammt nochmal! Konnte sie nicht einmal stark sein?!

"Hey, Freak! Zu arm für eine Wäsche oder was?", hörte sie Mike, einen etwas schmächtigen Jungen, sagen. Sein Tonfall klang gehässig und arrogant. Das war er ja auch. Mit ihm hatte sie sich nie gut verstanden.

"Hängst du immer noch an diesem Glauben fest, aufs eigene Geschlecht zu stehen?", fragte Cassie lachend. Als Shen keine Antwort gab, redete sie weiter: "Du bist echt erbärmlich! Ein Freak, der es nie zu etwas bringen wird!"

Und da war er wieder, der Schmerz in ihrer Brust. Erneut kullerte eine Träne ihr Gesicht hinab. Nach ein paar Sekunden des Schweigens sagte Shen kleinlaut: "Verzieh dich."

Ein Tritt in den Bauch. Stöhnend rollte Shen zur Seite und umklammerte ihren Bauch. Nun konnten ihre Mobber und auch die Gruppe um sie herum die Tränen auf ihrem Gesicht sehen.

"Der Freak weint!", lachte Sam, ein blonder Junge aus dem Rugby-Team.
Erneut ertönte ein Lachen, als plötzlich ihr Physiklehrer Mr. Smith durch den Gang rief: "Hey, was macht ihr denn da?!"

Schnell drehten sich die meisten aus der Gruppe um und hauten ab, nur Cassandra blieb noch kurz da, beugte sich zu Shen hinunter und flüsterte: "Vergiss nächstes mal beim Rausgehen deinen Regenbogen nicht!" Dann stand sie auf und verschwand im Gang.

Auch die anderen Schüler um sie herum gingen langsam. Die meisten waren nicht aus ihrer Klasse und hatten sie lediglich angestarrt. Shen wusste warum. Sie hatten Angst. Angst ausgeschlossen zu werden. Sie nahm es ihnen nicht mal übel. Nicht alle an der Schule waren homophob, aber sie hatten Angst, dass wenn sie eingreifen würden, sie selbst gemobbt werden würden.

"Ist alles in Ordnung, Ms. Jaydes?", hörte sie ihren Lehrer plötzlich fragen. Sie sah auf. Er hielt ihr die Hand hin, damit sie aufstehen konnte. Doch sie achtete nicht darauf. Nickte lediglich und hob ihre Bücher vom Schulboden auf. Dann stand sie mit Schmerzen im Rücken auf. Derjenige, der die Tasche ausgeleert hatte, hatte anscheinend ziemlich viel Schwung. Ein leises Zischen entfuhr ihr, als sie sich in Bewegung setzte, ihre Tränen aus dem Gesicht wischte und den verdutzten Physiklehrer alleine auf dem Gang stehen ließ.




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Ihr verfluchtes Lächeln Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt