Schuld

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Zur Mittagszeit hatte Shen sich entschlossen, zu gehen. Die Flaschen hatte sie auf dem Dach gelassen. Am liebsten hätte sie beim Runtersteigen dieses ganze Desaster hinter sich gelassen. Aber das Gespräch mit Leila hatte sich wie ein Schatten über sie gelegt. Fehlte nur noch, dass sich eine Gewitterwolke über ihrem Kopf auftat.

Und wie aufs Stichwort fing es an, zu regnen. Super. Shen beeilte sich, nach unten zu kommen. Irgendwohin unter ein Dach. Auch wenn sie insgeheim hoffte, der Regen würde ihre schlechten Laune, ihre Gedanken, ihre Gefühle wegspülen. Sie fühlte sich so elend. An ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie möglicherweise ihre beste Freundin verloren. Ob Leila sie bei Luke anschwärzen würde? Dann wären gleich beide Freunde weg. Und sie wäre wieder allein.

Nein. Sie wäre wieder einsam.

Mit zügigen Schritten lief Shen in die Innenstadt. Sie war bereits klatschnass als sie endlich ein Dach fand, unter das sie sich stellen konnte. Wenigstens konnte man so meinen, ihre Schminke wäre durch den Regen verlaufen. Und nicht durch die Tatsache, dass Shen sich einandhalb Stunden lang die Augen ausgeheult hatte.

Frustriert lehnte sie sich an die Fassade des Reisebüros hinter sich und dachte nach. Das schützende Dach, das sie in den letzten Wochen über sich gebaut hatte, war eingebrochen und all die negativen Gedanken stürzten auf sie herab. Erdrückten sie, schnürten ihr die Luft ab.

Als plötzlich etwas in ihrer Hosentasche zu vibrieren begann, schreckte Shen auf. Ein leiser Schrei entfuhr ihr, wofür sie ein paar komische Blicke von den vorbeigehenden Menschen erntete. Toll.
Mit zittrigen Fingern holte sie ihr Handy aus der Tasche. Um festzustellen, dass Andy sie anrief. Er wollte bestimmt eine Rechtfertigung für den gestohlenen Alkohol...War ja klar. Nach kurzem Zögern nahm Shen ab, hielt ihr Handy ans Ohr und ein leises, brüchiges "Hey." entglitt ihr.

"Hey? Ernsthaft? Shen, du hast Alkohol geklaut! Und das einzige was du dazu sagst ist Hey?!", Andy klang alles andere als gelassen. Wahrscheinlich hatte sie ihn in echte Schwierigkeiten gebracht. Augenblicklich machten sich wieder die Schuldgefühle in ihr breit und obwohl sie sich für den Diebstahl entschuldigen wollte, war das erste was sie dazu sagte: "Hast du die Polizei informiert?"

Ein Ausatmen war zu hören, wahrscheinlich ein Seufzen. Dann verneinte er ihre Frage. Glück gehabt!
"Aber wenn du willst, dass das so bleibt, komm sofort her und bezahl die Flaschen!", herrschte er sie an und Shen nickte schuldbewusst, ehe ihr klar wurde, dass er sie ja gar nicht sehen konnte. Also wisperte sie ein leises "Okay." in ihr Handy und legte auf.

Zum Glück waren es zum Pub nur sechs Minuten, so war sie relativ früh da. Mit rasendem Herz drückte sie die Klinke runter und trat ein. Andy stand am Tresen und diskutierte mit einem breit gebauten Mann mit Halbglatze. Der Chef, Mister Odes.
Dieser Typ machte ihr Angst. Wirklich. Langsam näherte Shen sich den beiden, Mister Odes hatte sie schon bemerkt.

"Jaydes! Was sollte das?!", war das erste, was er sagte und Shen zuckte kaum merklich zusammen.
"Ich...", ihre Stimme kratzte ab. Andy und der Chef sahen sie erwartungsvoll an.

Shen setzte also erneut an: "Ich...hab Geburtstag und meine Freunde und ich wollten zur Feier was...Verbotenes tun." Kurz und schmerzlos.
Naja, nicht ganz.

Bevor Mister Odes seinen Wutanfall an ihr ablassen konnte, ergriff Andy zum Glück das Wort: "Das ist keine Entschuldigung. Du und deine Freunde müssen die Flaschen zurückzahlen. Und ihr habt Hausverbot." Er klang ruhig. Nicht so, wie am Telefon. Vielleicht merkte er, dass Shen gerade nicht in der Lage war, weiteres Geschrei aufzunehmen. Insgeheim war sie im dafür mehr als dankbar.

Ohne ein weiteres Wort also kramte Shen ihren Geldbeutel aus ihrer Umhängetasche. "Wie viel schulde ich euch?" Langsam fand sie wieder zu ihrer Stimme zurück. Zum Glück.
Mister Oden hatte nur darauf gewartet, ihren Tag noch schlechter werden lassen zu können. Mit einem selbstgefälligen Lächeln sagte er: "Hundertvierzig Pfund."

Shen klappte die Kinnlade herunter. Was?! Das konnte er nicht ernst meinen! Es waren doch nur drei Flaschen! Entsetzt über diesen Preis sah sie abwechselnd zu Andy und zurück, hoffend, dass sie sie nur veräppeln wollten. Aber beide sahen so ernst aus...Verdammt. 
"Guck nicht so.", fuhr ihr ach so netter Ex-Chef Shen an, "Was erwartest du, wenn du eine ganze Flasche Qualitätswhiskey, Scotch und Bier klaust?"

Hätte sie etwa nur die halbe klauen sollen, oder was? So gerne die Brünette ihm eine schnippische Antwort gegeben, aber in ihrer Lage wollte sie sich nicht noch mehr zur Zielscheibe machen.
Nach einminütiger Geldsuche, gab Shen es letztendlich auf. "Kann ich Ihre Kontonummer haben und es ihnen dann aufs Konto schicken?"

Mister Odel nickte grimmig, ehe er sich umdrehte, einen Zettel holte und darauf seine Kontonummer krizelte. Was für ne Sauklaue. Genervt drückte er ihr den zerknitterten Post-It in die Hand. "Ich will das Geld bis übermorgen haben! Und jetzt raus!", brüllte er durch den Pub, was Shen auf dem Absatz kehrt machen ließ. Hastig drückte sie die Klinge runter, trat aus und atmete tief durch. Und schon fand sie sich wieder im Regen. Allein. Einsam.

Aber irgendwie war sie jetzt...anders. Wie im Trance ging sie zur nächsten Bushaltestelle und ehe sie sich versah, stand Shen vor ihrer Wohnung, ohne auch nur einen ihrer Schritte registriert zu haben. Wahrscheinlich ein Gefühlsabwehrmodus. Shen hatte sich im letzten Jahr viele seltsame Ticks angewöhnt.

Mit zittrigen Fingern schloss sie die Wohnungstür auf, trat ein und ohne auch nur ihre Schuhe auszuziehen, verschwand Shen in ihrem Zimmer. Ihr Dad war vor dem Fernseher eingeschlafen. Gut.

Frustriert schmiss sie ihre Schuhe, Tasche und ihr Handy in die nächstbeste Ecke, ehe sie sich auf das Bett setzte, ihre Knie an ihre Brust anwinkelte und den Kopf darin vergrub. Jetzt war der Moment gekommen, der das Dach komplett einstürzen ließ. Und mit einem Mal krachten alle negativen Emotionen und Gedanken der letzten Wochen auf sie ein. Sie heulte. So laut, und so lange, wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Die Tränen trübten ihre Sicht, alles war verschwommen.
Und obwohl ihre Haare und Kleidung nach stundenlangem Heulen größtenteils wieder trocken waren, ihr Gesicht wurde weiterhin von salzigen Tränen geziert. Ihr Mund war trocken, ihre Kehle ebenso. Ja, das war ein wahrer Nervenzusammenbruch. Und dann, ganz plötzlich, schoss ihr dieser eine, entscheidende Gedanke durch den Kopf: 

Wer sagt, dass ich Schuld bin?



(1051 Wörter.)

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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 30, 2018 ⏰

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