Der Sonnenaufgang

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Die Gruppe rannte noch eine Weile durch die Stadt um nicht erwischt zu werden, doch nach ein paar Minuten ging Leila die Puste aus und sie kamen in einer kleinen Gasse zum Stehen. An eine Hauswand gelehnt verschnauften sie alle erstmal eine Weile, Shens Oberkörper fühlte sich an, als würde er brennen. Wahrscheinlich musste sie wie ein Affe ausgesehen haben, wie sie so unelegant über die Straßen rannte. Aber das hatte Shen nicht interessiert. Sie würde sich nicht durch die Meinung anderer den Tag vermiesen lassen. Nur ein einziges Mal wollte sie einen Tag lang fröhlich sein. Unbeschwert. Frei.

Plötzlich meldete Luke sich zu Wort: "Leute...Die Sonne...geht bald...Bald auf."

Er klang, als würde er gleich kollabieren. Dabei sah er eigentlich ziemlich sportlich aus. Shen musste schmunzeln.

"Warte....Was?!", mit einem Mal war Leila wieder fit und sah zum Himmel hinauf. Es wurde tatsächlich etwas heller. Shen hatte keine Ahnung, warum Leila darüber so entsetzt klang. Aber bevor sie fragen konnte, hatte ihre Freundin sie bereits am Handgelenk gepackt und lief mit schnellen Schritten los. Shen stolperte eher nach, als hinterher zu laufen. Aber Leila ließ nicht los. Und nach weiteren zehn Minuten kamen sie erneut vor einem Gebäude zum Stehen. Shen kannte dieses Hochhaus. Eine Architekturfirma hatte darin ihren Stammsitz. Aus ein paar Fenstern schien Licht durch, aber die oberen Stockwerke waren immer noch komplett dunkel.

"Los, kommt mit.", meinte Luke breit grinsend und ging auf die Feuertreppe zu. Shen zog eine Augenbraue hoch. Er hatte doch nicht wirklich vor, da hoch zu gehen?
"Ernsthaft?", fragte sie, aber ihre Frage wurde umgehend beantwortet, als sie sah wie Leila und Luke die ersten Stufen betraten.
Fuck, die meinten es ernst.

"Shen, komm jetzt!", rief Leila ungeduldig. Shen seufzte leise und mit langsamen Schritten und ziemlich mulmigem Gefühl ging sie auf die Treppe hoch. Sie hatte keine Höhenangst, sie liebte es sogar, alles überblicken zu können. Aber der Weg nach oben war für sie schon immer purer Horror gewesen. Den Kopf hob sie in Richtung der langsam aufkommenden Sonne, ihre Hände schwitzten und umklammerten fest das Treppengeländer. Sie hatte  keine Ahnung, warum sie so überreagierte. Es war eben einfach so.

Und doch zog Shen es durch. Fest entschlossen, das Dach zu betreten, wurde ihr Tempo mit jedem Schritt höher und schon bald hielt sie sich nur noch mit einer Hand fest. Das war doch ein Kinderspiel!
"Duckt euch!", rief Luke plötzlich von oben und nickte zu einem Fenster hin, hinter dem eine Frau stand. Ihr Blick war gesenkt. Wahrscheinlich war sie gerade dabei, sich einen Kaffee zu machen. Shen atmete tief durch, bevor sie langsam in die Knie ging. Sie wurden noch nicht gesehen. Gut.

Aber dann sah Shen nach unten. "Heilige Scheiße!", entfuhr es ihr, sodass sie sich darauf den Mund zuhielt. Es war zwar jetzt schon eine Bombenaussicht, aber würden sie jetzt erwischt werden, wäre alles vorbei gewesen. Denn das Fenster hinter dem die Frau stand, war geöffnet!
Alle Drei starrten sich hilflos an, als die Frau sich nach dem Schrei umsah. Niemand sagte etwas. Kein Flüstern, nicht mal ein Atemzug war zu hören. Auf Shens Körper bildeten sich Schweißperlen. Ihr wurde heiß und ihr Herz raste wie verrückt. "Gleich ist es vorbei, wir sind so gut wie tot.", dachte Shen und schloss die Augen. Aber sie wurden nicht erwischt. Denn kurz bevor die Frau das Fenster ganz öffnen konnte, um rauszusehen, hörte man eine männliche Stimme rufen: "Miss Scallik! Ich habe gleich ein Meeting, bringen sie mir bitte meine Akten in mein Büro."

"Ja Sir.", klang es zurück. Dann hörte man Schritte, die sich entfernten. Beide Personen hatten den Pausenraum verlassen. Und während Leila und Luke anfingen, vor Erleichterung zu lachen, wurde Shen noch schwerer ums Herz. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis und ihre Muskeln arbeiteten ohne jeglichen Grund auf Hochtouren. Shen war einer Panikattacke nah. Sie hatte an einem Morgen noch nie so viel Verbotenes getan und diese Konfrontation brachte ihre ganzen Ängste und Hemmungen hervor. Sie wollte weiter hoch, aber irgendwie auch nicht. Sie wollte Belfast von oben sehen, hatte aber Angst vor den Konsequenzen.
Sie wollte glücklich sein, wollte aber nicht von Gefühlen überrannt werden.

Die Brünette schloss die Augen und atmete tief durch. Sie machte sich einfach unnötig Sorgen. Niemand würde sie erwischen. Sie sollte entspannen.

Also atmete sie. Ein und aus. 

"Shen? Alles in Ordnung?", fragte Leila plötzlich. Shen schreckte auf. Für einen Moment wusste sie nicht, wie sie reagieren sollte, doch schließlich atmete sie einmal tief durch und zwang sich zu einem Lächeln. "Mir geht's gut. Lasst uns weiter."
Luke nickte, stand auf und stieg weiter nach oben, Leila und Shen hinter ihm. 

Es dauerte ungefähr zwanzig Minuten, bis sie das Dach erreicht hatten. Und das waren anscheinend für alle einundzwanzig Minuten zu viel, denn anstatt die Aussicht zu genießen, legten sich die Freunde erstmal hin und verschnauften. Ziemlich lange. Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte Shen es schließlich, aufzustehen. Ihre Beine schmerzten und ihre Lunge war staubtrocken. Doch all diese Klagen lösten sich quasi in Luft auf, als die Brünette über den Dachrand sah.

"Wahnsinn.", war das Einzige, was sie dazu sagen konnte. Von hier oben konnte man fast ganz Belfast überblicken! Staunend blickte sie sich um. Das Licht der aufgehenden Sonne tauchte die Stadt in einen wunderschönen Goldton und zwischen den Gebäuden tanzten die Schatten. Ein wahrhaft traumhafter Anblick.

"Also...", sagte Luke plötzlich, "Scotch, Bier oder Whisky?"

Leila grinste leicht, ihre Wangen waren noch leicht rot vom Treppen steigen. "Shen, hast du schon mal getrunken?"
Shen verneinte, Luke machte ein mitfühlendes "Awww." Und Leila boxte ihm dafür auf die Schulter, was Shen schmunzeln ließ. Die Geschwisterliebe der Beiden war unterhaltsamer als Fernsehen!

Schließlich nahm Leila die Bierflasche und reichte sie Shen. "Fang am besten mit was milderem an. Wir wollen ja nicht, dass du später irgendwem von hier oben auf den Kopf kotzt."

Durch Leilas Ausdrucksweise fing Luke an zu lachen, die Mädchen stimmten mit ein und irgendwann saßen sie mit Tränen in den Augen an die kleine Mauer gelehnt, die sich am Dachrand auftat. Sie war vielleicht gerade mal einen halben Meter hoch, also perfekt zum Anlehnen. Als sie sich wieder beruhigt hatte, holte Leila schließlich einen Flaschenöffner aus der Tasche mit den Spraydosen und reichte ihn Shen. "Und jetzt trink. Lass deine Unschuld frei."

Shen grinste und nach kurzem Zögern flog auch schon der Deckel von der Bierflasche. Luke und Leila starrten gebannt auf Shen, so als wäre es eine Premiere, das erste mal Alkohol zu trinken. Okay, Shen war auch auf eine gewisse Weise aufgeregt, aber bevor sie weiter darüber nachdachte, berührte der Flaschenkopf bereits ihre Lippen. Der erste Schluck wurde in Büchern, Serien und Filmen immer als leicht brennend beschrieben. Und so war es auch. Shen stiegen Tränen in die Augen, aber sie trank weiter. Es schmeckte verdammt gut. Die Schärfe verschwand langsam und Shen spürte nun die Feinwürzigkeit auf ihrer Zunge, ehe sie ihre Kehle runterlief. Und erst als fast die halbe Flasche leer war, setzte Shen sie von ihrem Mund ab.

Und begann, wie ein Kettenraucher zu husten.

Leila klatschte, Luke johlte leise. "Du bist hart im Nehmen!", meinte er und Shen deutete, den Hustenreiz unterdrückend, eine Verbeugung an. Und dann sagte niemand mehr etwas. Sie saßen bloß schweigend an die Mauer gelehnt da, tranken abwechselnd aus der Bierflasche und beobachteten den Sonnenaufgang. Und während sie das taten, stieg in Shen ein lange verschwundenes und so sehr herbeigesehntes Gefühl auf;

Das Gefühl von Freiheit.

Ihr verfluchtes Lächeln Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt