Tiere vs. Stress

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"Ich...", fing Shen an. Doch sie beendete den Satz wieder, seufzte und setzte sich neben Leila auf das Bett. Warum wendete sie sich nicht an einen Lehrer?

Gerade als sie erneut zur Erklärung ansetzen wollte, stand Leila auf und verließ wortlos das Zimmer. Verdutzt sah Shen ihr nach. Was sollte das denn jetzt?

Ungefähr eine Minute blickte sie einfach nur die Tür an und überlegte, ob sie Leila vielleicht hätte folgen sollen. Aber dann wäre sie ja nicht einfach ohne ein Wort gegangen!
Nach einer weiteren Minute kam die Blondine mit zwei Tafeln Schokolade zwischen den Armen und einem schwarzen Fellball auf den Armen zurück. War das ihre Katze?

Leila setzte sich wieder neben Shen, legte die Schokolade auf den Pizzakarton und setzte das schwarze Babykätzchen auf ihren Schoß. "Tiere helfen gegen Stress. Sie heißt Emy", meinte sie mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht. Wie schaffte dieses Mädchen es, so verdammt nett zu sein?!

Lächelnd streichelte sie den Rücken von Emy, die sich auf ihrem Schoß einrollte und öffnete mit einer Hand den Pizzakarton. Die Pizza war schon kalt, aber das war Shen egal. Nachdem sie einmal kurz abgebissen hatte, fing sie an zu reden: "Das klingt jetzt blöd, aber...ich habe Angst. Wenn ich mich an einen Lehrer wende und der dann Kollektivstrafen verteilt, dann werden sie sich nur an mir rächen. Ich hab ja schon Schwierigkeiten, mit den jetzigen Stacheleien klarzukommen, da würde ich eine Racheaktion nicht verkraften."

Shen hatte selbst gemerkt, wie ihre Stimme beim Reden immer leiser wurde. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, ihr wurde plötzlich kalt und sie bekam eine Gänsehaut, doch sie zwang sich, stark zu bleiben. Zumindest für den Augenblick.

Leila hatte Shen in Ruhe erzählen lassen und schwieg ein paar Sekunden, bis sie fragte: "Warum meldest du dich nicht bei deinen Eltern?"
Shen musste leise schnauben. "Meine Eltern sind getrennt, ich wohne bei meinem Vater. Aber der arbeitet fast den ganzen Tag, also will ich ihn nicht noch mehr stressen, als er sowieso schon ist."

Das war eine Lüge. Ihre Mutter ist, als Shen noch ein Kind war, abgehauen. Sie überwies ihr zwar jeden Monat dreißig Pfund auf ihr Konto, doch wollte sie sonst nichts mehr mit ihrem Exmann zu tun haben. Ihrem gewalttätigen Exmann. Aber das wollte sie Leila nicht sagen. Sie konnte es einfach nicht. Sie wollte sich nicht ins Gedächtnis rufen, dass sie nie eine richtige Familie hatte. Zu groß war der Schmerz.

Erneut sagte Leila nichts. Sie zog lediglich mit dem Zeigefinger Kreise über dem Fell der auf Shens Schoß schlafenden Katze. Nach einer gefühlten Ewigkeit ertönte dann wieder ihre Stimme. "Du bist wirklich stark, weißt du das? Du schaffst es, mit dem Herzen zu lachen, obwohl um dich herum so viel Kummer ist."

So poetisch, dachte Shen. Und so falsch. Sie war nicht stark. Sie war ein ausgestoßenes Rehkitz in einem dunklen Wald. Sie wartete förmlich darauf, von einem Wolf gerissen zu werden. Und mit dem Herzen lächeln? Sie lächelte, weil sie es musste. So einfach war das.
Unauffällig zog Shen den Ärmel des geliehenen Pullovers über ihr Handgelenk. Leila sollte die Kratzer an ihrem Unterarm nicht sehen. Niemand sollte sie sehen.

Nach einer erneuten Minute des Schweigens, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, legte Leila Shen eine Hand auf die Schulter, zog sie zu sich und umarmte sie vorsichtig. Schon fast zärtlich, so als wollte sie Shens Reaktion abwarten.
Für einen Moment regte sich die Brünette nicht, aber dann legte sie ihren Kopf auf Leilas Schulter und erwiderte die Umarmung mit einem Arm. Und in diesem Moment fühlte es sich an, als hätte Shen ein fehlendes Teil in ihrem Herzen wiedergefunden. Einen Teil, den sie vor Jahren verloren hatte als ihre Mutter gegangen war. Dieses Teil, es war ein...Gefühl. Das Gefühl von Sicherheit und Schutz.

Das Gefühl von Geborgenheit.



(So poetisch...und so wenige Wörter: 644 Wörter)

Ihr verfluchtes Lächeln Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt