Shen war eine der ersten, die nach dem Klingeln das Schulgebäude verließen. Nach der Sache mit ihrer Tasche wollte sie einfach nur so schnell wie möglich in ihr Zimmer. Und all ihren Frust rauslassen. An ihrem Kissen. Wie immer eben.
Sie stieg in den Bus, setzte sich ganz nach hinten und starrte aus dem Fenster. Als sie versuchte, sich nach hinten zu lehnen, musste sie aufzischen. Verdammt, das musste ein großer blauer Fleck sein!
Nach zehn Minuten kam der Bus an ihrer Haltestelle an. Bevor einer ihrer Klassenkameraden im Bus ihr noch irgendetwas zurufen konnte, verschwand sie bereits in der Menschenmenge.
Shen würde nun noch in einem kleinen Café etwas essen, da ihr Vater wahrscheinlich sowieso nichts gekocht hatte und dann konnte sie sich endlich auf ihr Bett fallen lassen. Und weinen, ihr Kissen anschreien und durch das gesamte Zimmer werfen würde sie auch. Erneut bildeten sich Tränen in Shens Augen, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben.
Als sie nach etwa zwei Minuten bei ihrem Lieblingscafé ankam und sich umsah, fiel ihr fast die Tasche aus der Hand. An einem der Tische saß Leila...Mit Cassie!
Shen betete, dass die beiden sie nicht bemerkt hatten und wollte gerade wieder gehen, als Cassie plötzlich rief: "Hey Shen! Komm doch zu uns!"Shen schluckte. Zum einen hatte sie Angst. Angst, bloßgestellt zu werden. Zum anderen konnte sie Cassandra den Hals umdrehen, dafür dass sie so tat, als wären die beiden immer noch Freundinnen!
Ein paar Sekunden stand Shen einfach nur regungslos dar, bevor sie ein unechtes Lächeln aufsetzte, sich wieder umdrehte und langsam auf die beiden zuging. Total verspannt, natürlich."Shen, das ist eine Freundin von mir namens Leila. Leila, das ist Shen.", erklärte Cassie gespielt freundlich, als Shen bei den beiden war, und bevor sie auch nur irgendetwas erwidern konnte, fing Leila an zu reden: "Wir kennen uns schon. Ich hab sie heute morgen ausversehen angerempelt." Erneut hatte sie dieses entschuldigende Lächeln auf dem Gesicht. Verflucht, sie war wirklich hübsch!
"Bist du dir sicher, dass sie nicht dich angerempelt hat? Das würde ihr ähnlich sehen.", meinte Cassie plötzlich und ihre grünen Augen sahen Shen unverhohlen an. Shen verspannte sich jede Sekunde mehr. Sie wusste, was dieser braunhaarige Teufel vorhatte. Sie wollte jede angeblich schlechte Eigenschaft von ihr aufzählen.
Leila schüttelte zu ihrer Bemerkung allerdings nur den Kopf und deutete auf den leeren Stuhl neben sich. Shen war zwar mehr als nur unwohl, doch sie setzte sich hin. Sofort begann Cassie darüber zu reden, wie toll ihre Schule doch sei und dass es so süße Jungs gäbe. Da Shen dieser Kram überhaupt nicht interessierte, starrte sie einfach nur vor sich hin und überlegte, wie sie am besten von hier verschwinden konnte. Doch plötzlich hörte sie Cassandra fragen: "Shen, was hältst du eigentlich von Sam? Ich meine, er ist muskulös, seine blonden Haare sind so weich und dieses Lächeln! Zum verlieben, findest du nicht?"
Dieses kleine, verlogene Miststück! Sie wollte brüllen, dass sie lesbisch sei, Cassandra für ihre Bemerkungen eine reinhauen und sich dann endlich mal was zu essen kaufen, aber die Angst, Leila zu verschrecken war zu groß. Shen hatte nämlich vor ein paar Minuten mitbekommen, wie Cassie sagte, dass sie so froh sei Leila an der Schule willkommen zu heißen. Darum sagte sie nur leise: "Er ist ganz hübsch.."
Das war nicht gelogen. Sam's Haare waren goldblond und er hatte leuchtende grüne Augen. Dazu kam noch, dass er groß und gut gebaut war. Aber sein Charakter war dreckig und sein Verstand glich dem einer Fliege.
Er war ein tatkräftiger Mobber und Shen war sich sicher, dass er ihre Tasche am Morgen ausgeleert hatte."Du findest ihn hübsch?", ertönte Cassandras Stimme wieder. "Seltsam, ich wusste nicht dass du Gefühle für Männer haben kannst."
Ein verwirrter Blick von Leila. Ein hämisches Grinsen von Cassandra. Schamesröte in Shens Gesicht.Unter dem Tisch ballte sie ihre Hände zu Fäusten, bereit, Cassie beim nächsten Wort die Nase zu brechen. Aber es war Leila, die die Stille brach: "Shen, du bist lesbisch?" In ihrem Tonfall lag nichts belustigtes, kein arrogantes Grinsen umspielte ihre Lippen, da war einfach nichts. Kein Lächeln, keine Emotionen.
Shen war verunsichert. Klar, es war gut, dass sie nicht lachte. Aber sie konnte überhaupt nicht erkennen, was Leila nun über sie denken könne.
Gerade als Shen den Mund aufmachen wollte, um ihr das alles etwas genauer zu schildern, ergriff Cassie wieder das Wort: "Ja, ist sie. Sagt sie zumindest. Ich und meine Freundinnen denken allerdings, es ist nur eine Phase. Shen ist sowieso etwas seltsam, da würde es mich nich..." Weiter kam sie nicht. Denn Leila fiel ihr ins Wort: "Homosexualität ist keine Phase."
Das war das einzige was sie dazu sagte. Sonst nichts. Ihr Gesichtsausdruck war immer noch undeutbar, doch ihre Stimme klang etwas gereizt. Und erneut war da diese Stille. Niemand sagte etwas. Niemand traute sich, etwas zu sagen. Bis Cassandra plötzlich aufstand. Ihr Gesicht war rosa angelaufen. "Ich muss los. Ich treffe mich jetzt mit Sam. Wir sehen uns nächste Woche, Leila!"
Mit diesen Worten verließ sie das Café.Leila seufzte. "Jetzt darf ich das Essen bezahlen.", sagte sie eher zu sich selbst als zu Shen. Shen wollte etwas sagen, aber sie konnte nicht. Es war, als hätte sie ihre Sprache verloren.
Doch sie musste auch gar nichts sagen, da Leila wieder damit anfing: "Das was Cassandra gesagt hat...lass dich davon nicht beeinflussen. Vergiss nicht, dass du lieben kannst wen du willst. Das darf dir niemand verbieten." Und da war es wieder. Das Lächeln. Aber sie lächelte nicht nur mit dem Gesicht. Nein, ihre Augen lächelten mit. Sie sagte die Wahrheit.
"Du...wieso bist du mit ihr befreundet?", fragte Shen. Und bereute es sofort wieder. Sie hätte ihr für diese Worte danken sollen! Am liebsten hätte Shen den Kopf auf den Tisch geschlagen, aber der Gedanke verflog wieder, als Leila sagte: "Unsere Eltern kennen sich. Oder besser gesagt unsere Mütter. Streng genommen ist meine Familie nur wegen ihr in Irland. Aber ganz ehrlich? Ich hasse sie. Wir hängen nur miteinander ab, weil meine Mutter mich sonst killen würde."
Shen musste lächeln. Also redete sie gar nicht freiwillig mit Cassie! Augenblick verflog die Anspannung. Leila war ihr gerade ein ganzes Stück sympathischer geworden!
Die beiden redeten noch eine Stunde miteinander und als Entschuldigung für den Eiskaffee auf Shens Oberteil kaufte Leila ihr bevor sie ging noch einen Cappuccino to go. Letztenendes war es 15:00 Uhr, als Shen Zuhause ankam. So glücklich wie sie ein ganzes Jahr nicht mehr war.Sie hatte eine neue Freundin gefunden.
1088 Wörter.
DU LIEST GERADE
Ihr verfluchtes Lächeln
Romance[...] Und dann sagte niemand mehr etwas. Sie saßen bloß schweigend an die Mauer gelehnt da, tranken abwechselnd aus der Bierflasche und beobachteten den Sonnenaufgang. Und während sie das taten, stieg in Shen ein lange verschwundenes und so sehr her...