»Die meisten Verräter denken, dass sie verraten wurden. Diese Verwirrung hat sich tief in ihrem Bewusstsein eingenistet. Dunkel wie die Nacht werden die Gedanken und rot wie das Blut die Taten, die auf sie folgen. Sie sehen einen Freund und denken, dass er sie bereits verraten hat. Sie denken, dass er nur noch so tut, als ob. Sie spüren diese vielsagenden und gleichzeitig nichtssagenden Blicke in ihrem Rücken. Sie denken, dass der Verräter nur auf den richtigen Moment wartet. Sie denken, dass sie früher oder später sowieso Recht mit dem Verräterfreund haben werden. Sie wissen, dass dieser Verräter sich erst zu erkennen gibt, wenn er selbst verraten wurde. Sie distanzieren sich, versuchen, keinen Verrat zu begehen und gleichzeitig nicht verraten zu werden. Sie werden leiser, zurückhaltender, magerer, ziehen sich immer mehr zurück, bis sie nur noch Haut und Knochen sind. Sie denken sich, womit habe ich es verdient, einen Verräter als Freund zu haben? Bis sie verstehen, dass sie lieber allein sind, um kein Risiko einzugehen. Wer ist also der Verräter? Der Einsame oder der Freund?«
~ Erzählung des Geschichtenerzählers Fremdschatten an Terra über das Sein eines Verräters
***
Terra öffnete die Augen und sah sich um. Immer noch dieselbe Landschaft. Der Fluss mit den fünf Steinen, die die vereinigten Clans symbolisierten, die Ebene und weit hinten die Höhle, die zum SternenClan, zum Tod führte. Hat Fluss das absichtlich getan? Wenn ich zu ungeduldig werde oder voller Verzweiflung bin, werde ich so oder so die Höhle betreten und sterben. Frustriert stieß sie mit der Pfote ins Wasser und beobachtete, wie die Tropfen in glitzernden Bögen durch die Luft flogen.
Wie es Hechtkralle wohl geht? Und der Schwarzen Blüte? Und Traumschweif und Seelenpfote? Leben die beiden Schwestern überhaupt noch? Allmählich erinnerte sie sich an den Kampf an der Grenze zum Zweibeinerort. Aschenhaar war auch dort gewesen. Er hatte nun auch einen Wolf, genauso wie die Schwarze Blüte. Ob Spitzfell, Hechtkralle, Blendfeuer und Weiser Falke Schattenstern schon Bescheid gesagt hatten? Bestimmt! Sie kniff die Augen erneut zusammen. Den Weg ins Leben muss ich alleine finden. Wie denn?
Die hellgrau-schwarze Kätzin dachte an Funkenstern. Bitte lass ihn mich noch nicht verraten haben. Bitte, SternenClan. Sonst wird die Schwarze Blüte mich entweder sofort töten oder mich zum Sterben einfach irgendwo liegen lassen. Ich habe die Mutter meiner Anführerin ermordet. Der Gedanke kreiste in ihrem Bewusstsein herum, verformte sich und bildete einen unendlichen Strudel, der sie mit sich in die Tiefe zog. Und sie sah wieder die Szene vor Augen als wäre es erst letzte Nacht gewesen...
»Bitte, bitte, tu mir nichts. Ich...« Ein weiterer Schlag riss die gelbbraune Kätzin erneut zu Boden, wo sie reglos liegen blieb. Eine rote Pfütze bildete sich um ihren Kopf und tränkte ihr helles Fell mit Blut.
Funkenstern leckte sich mit der Zunge über das Maul, bevor er anfing, das Blut von seiner Pfote zu waschen. »Sie ist noch nicht tot. Möchtest du ihr den Rest geben?«
Terra betrachtete den Kater an ihrer Seite aus zusammengekniffenen Augen. Sie liebte ihn immer noch und das wusste er. Zwar hatte sie ihn mit Flügelwind, der attraktiven Jägerin in einem Nest erwischt und Schluss gemacht, doch er ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie waren das beliebteste Pärchen bei den Clanlosen gewesen, beliebter noch als Fleck und Rita, das Hassliebe- Paar. Sie hatten immer die beste Frischbeute bekommen, ja, Black und White hatten Funkenstern sogar wie ihren eigenen Sohn gesehen. Und jetzt?
Die verrückten Kämpfe der Clan-Katzen hatten wieder begonnen und diese gelbbraune Kätzin hatte es wie so viele vor ihr in den Wald der Clanlosen zwischen WasserClan- Territorium und Zweibeinerort verschlagen. Die Regeln waren klar: Wer in den Wald eindrang, schloss sich an oder wurde getötet. Ersteres war allerdings nur zulässig, wenn die Katze nicht den Regeln der Clans entsprach. Die gelbbraune Kätzin war aber weder mehrfarbig noch hatte sie grüne Augen. Das hieß eins: Tod.
»Was ist jetzt?« Funkenstern starrte sie herausfordernd an. Kein anderer wagte es, in so einem Ton mit ihr zu sprechen, aber er war anders. Er wollte ihr seine Stärke beweisen, wollte sie necken und dazu bringen, wieder Gefährten zu ein. Terra sah von der blutenden Kätzin zu dem Kater mit dem goldenen Pelz an ihrer Seite. Soll ich? Soll ich nicht?Sie sollte ihm beweisen, dass mit ihr nicht zu spaßen war, indem sie die Kätzin tötete, aber wenn sie das tat, würde das aussehen, als gehorche sie nur seinen Befehlen.
»Wir lassen sie hier«, entschied Terra. »So kann sie mehr leiden.«
Funkenstern legte überrascht den Kopf schief, sagte aber nichts weiter. Stattdessen drehte er sich um und verschwand im Dickicht. Als sie sich sicher war, dass er nicht mehr zurückkehren würde, trat sie an die gelbbraune Kätzin heran, peinlich darauf bedacht, auf keinen Fall in die Blutpfütze zu treten. Sie öffnete ihre gelben Augen so plötzlich, dass Terra erschrocken zurücksprang. »Töte mich«, flüsterte die Kätzin mit kaum hörbarer Stimme. »Töte mich, damit diese Qualen enden.«
Die Clanlose trat unruhig von einer Pfote auf die andere. Wenn ich es jetzt tue, ist es nicht Funkensterns Befehl, sondern ihre Bitte und meine eigene Entscheidung, ihr diese Bitte zu gewähren. Leise ging sie ein paar Schritte auf die Kätzin zu und legte ihr eine Pfote an die Kehle. Sie sah nicht hin, als sie die Krallen ausfuhr. Sie hörte nur den letzten Atemzug der Kätzin, bevor sie in den endlosen Schlaf fiel. Immer noch ohne hinzugucken, wandte Terra sich ab und verschwand im nächstbesten Busch, um sich das Blut von den Pfoten zu waschen.
Als die Clanlose fast fertig war, hörte sie plötzlich Schritte. Sie sah auf. Ein dürrer, dunkelgrauer Kater mit kurzem Schweif und traurigen, blauen Augen war zu der Toten getreten. Er ließ sich neben ihrem Körper nieder und flüsterte etwas. Terra spitzte die Ohren, um etwas zu hören, obwohl sie wusste, dass diese Worte nicht für sie bestimmt waren.
»Lichtblüte, meine Liebe. Nun bist auch du von uns gegangen. Die Gesetze des Windes verlangen zu große Opfer. Warum hast du nicht nach mir gerufen, als du in größter Not warst? Warum bist du überhaupt weggelaufen, als sie Kämpfe begannen und bist nicht bei mir geblieben, damit ich dich beschütze. Und jetzt, nach all dieser Zeit der Suche finde ich dich tot in diesem Wald. Aber denk an unsere Jungen. Denk an Aschenpfote und Schwarzpfote. Sie tragen meinen Pelz, aber deinen Charakter. Ich werde sie nie vergessen so wie ich dich nie vergessen werde. Wenn das Schicksal es will, werde ich sie vor meinem Tod noch ein Mal sehen. Als Freunde, nicht als Verräter. Seite an Seite und nicht gegenüber. Lebe wohl, Lichtblüte, meine leuchtende Blume.«
Terra wusste nicht, ob es ihr Mitleid für den Kater oder einfach nur eine Rebellion gegen Funkenstern war, aber sie war aufgestanden und aus dem Busch getreten, um dem dunkelgrauen Kater beim Aufstehen zu helfen. Sie hätte ihn töten müssen wie die gelbbraune Kätzin, Lichtblüte, aber sie konnte nicht. Sie hatte ihn zum Lager der Clanlosen geführt und ihn dort vor allen beschützt, die ihn tot sehen wollten. Sie hatte ihm eine Vergangenheit ausgedacht, dass er ein Geschichtenerzähler war und sie ihn geschwächt im Wald gefunden hatte. Sie hatte allen gesagt, dass sein Name Fremdschatten war.
Und Fremdschatten hatte sie machen lassen, hatte ihre Freundschaft und Hilfe angenommen und sich dem Leben der Clanlosen angepasst. Dabei wusste sie immer noch nicht, wie sein richtiger Name war. Aber sie wusste: Lichtblüte war die Mutter der Schwarzen Blüte und sie hatte sie ermordet. Nur Funkenstern kannte die Wahrheit, denn er hatte sie aus einem Baum heraus beobachtet. Und Fremdschatten? Fremdschatten war in einer anderen Vergangenheit der Vater von Schattenstern gewesen.
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Warrior Cats - Dunkle Sterne
FanfictionACHTUNG! Ihr müsst erst »Warrior Cats - Finstere Wolken« gelesen haben, bevor ihr das hier lest. Nach Schattensterns Flucht vor den Clans und den Gesetzen des Windes macht sich die Gruppe aus zweiundzwanzig Katzen auf den Weg zu den Überlebenden des...