Kapitel 11

1.1K 82 9
                                    

            

Das Gelände der Universität war in meinen Augen gigantisch. Viel zu groß für ein kleines Mädchen, wie ich es war. Ich fühlte mich unwohl, da hatte ich gerade erst vier Schritte auf das Gelände gesetzt. Prompt fühlte ich mich fehl am Platz und wusste nicht, was ich hier eigentlich zu suchen hatte. Wenn ich daran dachte, dass ich anscheinend vor dem Unfall noch Jura studieren hatte wollen, konnte ich dem keinen Glauben schenken. Hier hätte ich mich niemals wohl gefühlt.

Ich stand völlig ratlos vor den großen Gebäuden, in denen Lesungen gehalten wurden. Studenten betraten die Häuser oder kamen heraus. Die meisten waren alleine unterwegs, schienen ihren eigenen Weg zu gehen, statt sich um ihre Klassenkameraden zu kümmern. Waren sie denn Klassenkameraden? Nannte man das anders? Ich wusste es nicht.

Vollends verloren, setzte ich mich auf eine Steintreppe, die sich ein Stück von den Gebäuden befand, und versuchte Ruhe in mein Inneres zu bekommen. Die letzten Tage hatten mich sehr mitgenommen. Seither schlief ich nicht mehr gut, ging nur noch ungerne raus.

Mehrere Studenten setzten sich ebenfalls auf die Treppe. Es waren nicht mehr als jeweils zwei Leute, die sich über irgendwelche Fächer unterhielten, von denen ich keine Ahnung hatte. Sie hatten alle ein Leben, bemerkte ich. Jeder von ihnen hatte ein Ziel, wollte etwas erreichen, während ich nur in den Tag lebte und diesen ohne ein Ergebnis beendete.

Ich verstand die Angst selbst nicht. Tag für Tag hatte ich auf jemanden gewartet, der mich ansprach, weil er mich kannte, und nun zog ich den Schwanz ein, wollte diesem Jungen nichts von dem Unfall erzählen, den ich nur aus Zeitungsartikeln und von den Erzählungen meiner Eltern kannte.

Elias blieb verdutzt vor der Treppe stehen und sah mich an. Er hatte eine Umhängetasche dabei, die ziemlich schwer aussah. In seiner Hand hielt er sein Handy, dessen Display noch leuchtete. Seine schwarzen Haare waren zerzaust, als hätte er sie am Morgen nicht gekämmt, aber ich wusste, dass der Wind lediglich zugenommen hatte und für die Sturmfrisur verantwortlich war.

„Das überrascht mich", sagte er, als er sich eine Stufe unter mir setzte. Er tippte auf seinem Handy herum, ehe er es in seine Hosentasche schob. „Was machst du hier?"

„Markus, ähm, mein Pfleger sagte, ich soll ruhig mal herkommen. Vielleicht treffe ich dann Leute, die mich kennen und... mir helfen können", erzählte ich.

„Wobei helfen? Wie schlimm ist das mit deinen Erinnerungen?"

„Mir fehlen ein paar Jahre. Ich weiß nicht einmal, auf welche Schule ich zuletzt gegangen bin. Meine Eltern haben sie mir zwar gezeigt aber..." Ich schüttelte seufzend den Kopf, zog die Beine an meinen Körper. Elias beobachtete mich, wie ich die Arme um meine Knie legte und bedrückt ins Nichts starrte.

„Ich könnte sie dir zeigen und dich rum führen", schlug er vor.

„Dann warst du also ein Klassenkamerad von mir?", wollte ich von meiner Neugierde geleitet erfahren.

„Fast. Ich war in der Parallelklasse." Er lehnte sich zurück, um mich besser ansehen zu können. „Ich habe Marcel und Sarah letzte Woche erwähnt. Wir waren mit ihnen befreundet."

„Bist du nicht mehr mit ihnen befreundet?"

„Nicht wirklich. Man sieht sich hier auf den Fluren aber wir hängen nicht mehr ab. Sie sind seit einem Jahr zusammen und haben einen neuen Freundeskreis. Nach dem Abschluss hat man sich auseinander gelebt", erzählte er gelassen. „Ich hab ihre Nummern. Soll ich sie herbestellen?"

„Nein", gab ich betont langsam von mir. „Nein, ihr habt doch alle mit mir abgeschlossen. Was bringt das schon, wenn man jetzt alte Wunden aufreißt? Es reicht doch, dass ich es bei dir getan habe." Ich presste meine Lippen aufeinander und sah verzweifelt auf die Stufen unter mir. All die Fragen, die ich seit unserem ersten Wiedersehen im Kopf hatte, wollte ich aussprechen. Alles in mir schrie nach mehr Informationen. Ich wollte mehr von ihm hören. Gleichzeitig war ich mir absolut unsicher, ob ich wirklich wissen wollte, wer er war, was er für mich war.

Elias schmunzelte. „Was hast du Donnerstag vor? Ich muss morgen zu zwei Vorlesungen aber Donnerstag hätte ich Zeit."

„Ich gehe zu den Katzen und dann in den Park. Das ist meine Routine."

„Musst du unbedingt in den Park oder können wir zur Schule fahren?", fragte er weiter. In seinen Augen blitzte Freude auf. Er wirkte wegen des Ausfluges aufgeregt.

„Nein, also, ich... Ich muss nicht in den Park. Dort bin ich nur, weil..." Ich brach ab und senkte erneut meinen Blick.

„Weil?"

„Weil der Brunnen vertraut ist und ich das Gefühl habe, dort meine Freunde zu treffen. Du musst doch auch von dem Platz wissen, wenn du mich kennst", murmelte ich verlegen. Es klang echt peinlich, wenn man es laut aussprach.

„Ich weiß, das ist dein Lieblingsplatz. Du bist schon so oft in den Brunnen gefallen und auf dem Rand gelaufen", grinste Elias. „Es gibt also Dinge, die sich nach zwei Jahren nicht verändert haben", fügte er ein wenig verträumt hinzu, sah hinauf zum grauen Himmel.

„Alles hat sich verändert", widersprach ich wütend und traurig zugleich.

„Hey, halte dir den Donnerstag frei. Ich werde dich bei dir abholen." Er stand auf und sah zu mir herab. „Ich muss jetzt rein. Ich bin schon zu spät. Bis Donnerstag, Caro."

„Bis Donnerstag, Elias", entgegnete ich perplex. Dass ich eine Verabredung hatte, realisierte ich erst weitaus später.

Verlust #catalyst500Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt