29. Von einem Gespräch unter Freunden

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Marco

"Ich hatte heute noch ein Gespräch mit Joachim."
"Ich weiß. Ist dir etwas schlimmes passiert?"
"Nein, bei mir ist alles gut." Das stimmte zwar nicht ganz, aber wenn man meine Psyche ausließ war es auch nicht gelogen. "Wir haben über Mario gesprochen, er denkt, also sie denken, dass er..." Ich musste mehrmals schlucken. "Dass er..." Wieso fiel es mir so schwer dieses blöde Wort auszusprechen? Die ersten Tränen stiegen mir in die Augen. Was war denn los mit mir?
"... eine Essstörung hat.", beendete Schü meinen Satz. Ich nickte verwirrt. "Hat man mit dir auch gesprochen?"
"Nein, aber es ist auch mein Verdacht." Schü drehte seinen Teller mit der noch ganzen Pizza, seinen Hunger hatte er wohl ganz vergessen.
"Aber das ist doch Schwachsinn, das kann doch gar nicht richtig sein. Eine... eine... diese Krankheit haben Mädchen mit falschen Vorbildern und ansonsten nur vollkommen Verrückte, die sich scheinbar in ihren anderen Krankheiten total langweilen und in der Klinik gerne mal die Station wechseln wollen."
" Das stimmt nicht Marco.", André lächelte zwar, aber seine Stimme war streng."Zum einen kann jeder eine Essstörung kriegen, egal welches Geschlecht und Alter, und zum anderen sind diese Leute ganz bestimmt nicht verrückt. Sie sind wie du und ich,  nur dass sie einfach ein sehr großes Problem mit Essen haben. Dies muss noch nicht mal daher kommen, dass sie unzufrieden mit ihrer Figur oder ähnliches sind. Oft ist das Hungern eine Möglichkeit sich von anderen Problemen oder schrecklichen Erinnerungen abzulenken. Es kann aber auch ein Misch aus beiden sein."
"Aber warum sollte Mario abnehmen wollen, er war doch schon immer dünn."
"Oft haben Personen mit einer Essstörung ein verzerrtes Bild von sich."
"Aber die Werte müssten doch für sich sprechen. Sein Gewicht müsste doch schon längst aus dem normalen Bereich heraus sein, da kann er sich doch nichts vorlügen."
"Ich weiß." André seufzte. "Ich kann dir nicht genau sagen, was in Marios Kopf vor sich geht, warum und ob er sich wirklich als zu dick ansieht. Ich glaube auch, dass Marios Problem nicht allein sein Aussehen ist. Wahrscheinlich ist es ein Misch aus Abnehmen und den Ablenken von Problemen."
Ich schwieg ein Moment. Ablenken von Problemen? Aber was für Probleme? Warum kam Mario nicht mit seinen Problemen zu mir? Ich war doch immer für ihn da, und eigentlich wusste er das auch.
" Hast du eine Vermutung, um was für ein Problem es sich handelt?"
Schü schüttelte den Kopf.
"Ich verstehe es einfach nicht. Warum ist mir nichts aufgefallen? Was für ein schlechter Freund bin ich, dass ich nicht sofort erkannt habe, wie es ihm geht?", meine Stimme begann immer mehr zu zittern und schließlich drückten sich die ersten Schluchzer in die Freiheit. Scheiße, wie so konnte ich es nicht einmal ohne großen Gefühlsausbruch schaffen? Erst bei Joachim und jetzt hier, das war echt unangenehm."'Schuldige.", nuschelte ich leise und wischte mir vergeblich die Tränen von den Wangen. André war aufgesprungen und zu mir rüber geeilt. Er schloss mich in seine Arme und streichelte mir beruhigend über den Rücken. "Ist ja gut, Marco. Du kannst überhaupt nichts dafür."
"Aber es hätte mir doch auffallen müssen.",schluchzte ich.
"Weißt du, manchmal ist man blind, wenn es um die Person geht, die man liebt."
Jetzt war ich noch mehr verwirrt und irgendwie auch ein wenig panisch. Ich befreite mich hastig aus seiner Umarmung um ihn die Augen zu sehen. Woher wusste er, dass ich Mario liebte? Hatten die Zwillinge geplaudert? Aber selbst die wussten nicht, dass ich auf Mario stand. Woher also..? Oder, wie ich es innerlich hoffte, war dieser Satz nur so dahin gesagt?
André lächelte schief. "Keine Sorge, ich habe überhaupt kein Problem damit."
Somit beantwortete er zwar eine noch wichtige ungestellte Frage, aber beruhigen konnte er mich nicht. Wie sollte ich antworten? Konnte ich es vielleicht bestreiten? Aber wenn er wirklich von Leon und Nick wusste, dass ich nicht hetero war, dann konnte ich aufjedemfall nicht verleugnem, dass ich auch auf Männer stand.
"Woher weißt du es?", fragte ich schließlich etwas blöd.
André lachte. "Du unterschätzt meine Fähigkeiten als bester Freund."
"Bin ich so auffällig?"
"Für jemanden, der dich gut kennt: ja."
Ich merkte wie mir die Röte ins Gesicht stieg, als mir ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf ging. Wenn man mich gut kannte? Aber das hieß doch mit anderen Worten... "Weiß Mario es auch?"
"Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, ich sagte doch schon, dass Liebe blind macht."
Jetzt war ich total verwirrt. Ich hatte doch verstanden, dass ich vielleicht ein wenig zu verblendet war, aber inwiefern hatte das etwas mit Mario zutun? Ich schniefte etwas hilflos vor mich hin und versuchte wieder meine Gedanken zu ordnen. Schü stand lächelnd auf, wuschelte mir durchs Haar und nahm dann die erste von den zwei inzwischen kalten Pizzen um sie der Mikrowelle zu überlassen. "Ich bin dafür, dass wir jetzt erstmal essen und du in der Zeit dich innerlich auch wieder ein wenig sortieren kannst, denn ich denke dir liegt noch so viel mehr auf dem Herzen, was du mir gerne erzählen möchtest."
Wow, ich nickte erstaunt, mit einer Sache hatte Schü heute eindeutig richtig gelegen, seine Fähigkeiten als bester Freund hatte ich total unterschätzt.

Nachdem wir aufgegessen hatten, waren wir ins Wohnzimmer gewechselt. Ich ließ mich immer noch irgendwo in Gedanken auf dem Sofa fallen und ließ Schü den Rest machen. Er holte Gläser und Trinken, mehrere Packungen Taschentücher und warf mir eine Decke über.
"Okay, und jetzt erzähl."
Ich schluckte mehrmals, während des Essens hatte ich mir in etwa überlegt, wie ich anfangen wollte, aber das machte die Sache kein bisschen einfacher. "Du hast Recht.", begann ich stockend. "Ich stehe auf Mario und das schon ein bisschen länger. Und diese Gefühle machen mich schon seit längerem verrückt und dann fing das plötzlich an, dass alles so komisch wurde." Ich machte eine Pause, spielte mit den Saum meines Oberteiles und suchte nach passenden Wörtern."Es ging so schnell, ich habe überhaupt nicht begriffen, was mit Mario passiert ist. Erst war er total abweisend und dann ließ er zwar wieder zu, dass ich und auch du eine Rolle in seinen Leben spielten, aber er kontrolliert genau wie viel diese Rolle mitspielen darf. Ich weiß nicht, wie ich mit ihm umgehen soll, was richtig und was falsch ist und ich habe eine riesen Angst davor, dass er sich soweit in diese Scheiße, was auch immer es für eine Scheiße ist, hinein reitet, dass er es nicht mehr hinaus schafft. Auderdem merke ich, dass je schlechter es Mario geht, desto schlechter geht es auch mir. Ich habe oft keine Motivation und Lust mehr. An manchen Tagen will ich noch nicht mal aufstehen und wünsche mir nur, dass dieser elendige Tag einfach vorbei ist. Ich komm nicht mehr mit meinen eigenen Gedanken zurecht, mir fällt es schwer an etwas schönes zu denken und wenn ich es schaffe diese Gedanken mal auszuschalten, dann bin ich nichts."
"Wie meinst du das?"
"Ich bin einfach leer. Ich fühle nichts und denke irgendwie auch nichts. Eigentlich funktioniere ich nur noch. Schuhe aus, Jacke an die Garderobe, in die Küche etwas trinken und ins Bett, fertig. Es fällt mir unglaublich schwer diese Leere zu verlassen und irgendwie will ich es auch nicht, denn sobald ich da raus bin sind sofort meine Gedanken wieder da. Ich weiß echt nicht, was schlimmer ist."
André sah mich besorgt an."Das ist nicht mehr normal, Marco."
"Ich weiß."
"Das klingt schon nach Depressionen. Ich würde dir gerne helfen, aber da beginnen auch langsam meine Grenzen. Du solltest dir professionelle Hilfe holen."
"Du meinst, ich soll zum Psychologen?"
"Richtig. Ich weiß, dass klingt nach Verrückten und nach der Klappse, aber so ist es nicht. Es ist einfach eine Hilfe, die du brauchst. Und du solltest jetzt hingehen, bevor es zu spät ist, bevor es bei dir anfängt wie bei Mario. Bitte."
Ein Psychologe? Der Stolz in mir begann sofort laut zu protestieren, aber auch die Vernunft schaltete sich ein. Schü hatte recht, ich sollte mir Hilfe holen bevor ich mich nicht mehr ganz unter Kontrolle hatte. Trotzdem kostete es mir schon große Überwindung allein an einen Besuch zu denken. Psychologen... Wer ging da hin den ich kannte? Niemand. Und wie würde man reagieren, wenn man heraus fand, dass ich dort hingang? Was würden meine Freunde und Familie sagen? Hätte ich noch den gewünschten Respekt in meinem Verein? Und vorallem, wie würde die Presse reagieren, sobald sie es wusste? Vor meinen Augen sah ich schon die Schlagzeilen, eine schlimmer als die andere. Eindeutig, das wäre mein Untergang.
"Ich überlege es mir, Schü."
"Wirklich?", hakte er nach. Ich nickte brav. Auch wenn ich gerade eher zu einem Nein tendierte, wollte ich schon allein für André mich ein weiteres Mal mit diesem Thema beschäftigen. Das war ich ihm wohl schuldig.
Wir sprachen noch lange zusammen, wechselten irgendwann in leichtere Themen und erst um halb eins, als uns die Müdigkeit fast überrannte beschlossen wir, dass es für heute reichte.
"Willst du lieber hier schlafen?", fragte ich André auf dem Weg in den Flur. Er schüttelte den Kopf. "Ne, lass ma', ich bevorzuge mein Bett."
"Na dann." Ich lächelte erschöpft. "Viel Spaß morgen beim Training, du weißt ja, ich komm nicht."
"Ich weiß. Genieße morgen den Tag, ich kann später gerne noch kommen."
"Wäre cool."
Er umarmte mich zum Abschied und wollte gerade aus der Tür heraus, als er noch einmal umdrehte. "Marco?"
"Ja?"
"Bitte hol dir Hilfe, ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll, wenn beide meiner besten Freunde fertig mit ihren Leben sind und weder mit Gedanken noch mit ihren Gefühlen klar kommen."
Ich merkte wie die Worte mich bis ins Innerste berührten und ich dem Weinen wieder nah war. Noch kein einziges Mal hatte ich bisher darüber nachgedacht, wie das ganze für André sein musste. Dieses Mal gab ich ihn die Antwort ohne groß nachzudenken." Ich hole mir Hilfe, versprochen."

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