Architektur

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Der Unterricht geht nur langsam voran. Ich verstehe den verschiedenen Architekturepochen immer noch nicht richtig und werde es wahrscheinlich auch nie. Interessiert mich eh nicht. Die tolle Dia-Show, die uns der Lehrer zeigt, gucke ich mir auch nur halbherzig an - so wie fast alle Schüler hier. Irgendwie ist das gemein, wenn man bedenkt, wie aufgeweckt und gespannt unserer Lehrer selbst von diesen ganzen Gebäuden ist.
Ich freue mich schon darauf, wieder eine Skizze eines Gebäude entwerfen zu müssen, welche die neu besprochenen Besonderheiten aufgreift. Das kann ich nicht. Ich will das auch nicht wirklich. Und das merkt man auch. Ich bekomme nur schlechte Noten. Aber das juckt mich nicht, weil ich dieses Fach nächstes Jahr abgeben werde. Ich freue mich jetzt schon riesig auf diesen Moment.

Eigentlich zeichne und male ich sehr gerne. Nicht richtig gut - eher so mittelmäßig oder vielleicht ein bisschen unterm Durchschnitt. Aber es bringt mir Spaß und das ist das Einzige, was wirklich zählt, oder nicht?

Gott, ist mir langweilig! Ich sehe mich um. Alle meine Mitschüler sehen deprimiert, gelangweilt und genervt aus. Ich meine sogar, dass einer von den Jungs in der letzten Reihe mit seinem Kopf auf dem Tisch schläft. Oder er tut nur so. Gut, dass der Lehrer sein Dia-Show-Gerät-Dingsbums ein paar Tische vor ihm aufgebaut hat. So bekommt er wenigstens nichts von dem Mittagsschläfchen seiner Schüler mit.

Vorsichtig nehme ich Linus' Armband aus meiner Hosentasche. Unterm Tisch streiche ich sachte einzeln über jeden Stein. Ob er wohl schon bemerkt hat, dass er es verloren hat?
Ich ziehe das Band über meine rechte Hand auf meinen Arm. Enger hatte ich es mir vorgestellt, aber es schmiegt sich fast perfekt an meine Haut an. Fast kommt es mir so vor, als könnte ich Linus durch das Band spüren. Als wäre er mir nah, obwohl er jetzt irgendwo arbeitet. Oder schläft er noch?

Er ist so geheimnisvoll. Ich weiß nicht sehr viel über sein Leben. Ich weiß nicht, wo er wohnt. In der gleichen Stadt wie ich, das erscheint mir logisch. Aber selbst da bin ich mir nicht sicher. Er hat ja ein Auto, also könnte er auch von weiter weg immer her fahren.
Ich weiß auch nicht, ob er arbeitet oder vielleicht sogar studiert. Er hat mir nie über seine Eltern oder generell über seine Familie erzählt. Er hält das alles im Geheimen und wenn ich ihn frage, ist er ein Künstler der wagen und verschwommenen Antworten. Richtig schlau wird man aus ihm nicht, aber genau das fasziniert mich an ihm. Als müsste ich ihn erst langsam entdecken. Wie ein Puzzle - immer wieder ein Puzzleteil hinzufügen, bis es das große Ganze, also seine Persönlichkeit, ergibt. Nur ist die Frage, ob ich das schaffe und ob er es überhaupt zu lässt.

Als die Stunde vorbei ist, laufe ich instinktiv wieder zu unserer Bank im Innenhof. Doch noch bevor ich durch die Tür trete, bleibe ich wie angewurzelt stehe. Dort sitzt Lea, lächelt mit ihren schmalen Lippen und ich sehe sogar von hier, wie ihre grauen Augen um die Wette funkeln. Und das nicht ohne Grund. Stefan sitzt neben ihr, auf meinem Platz.
Da fällt mir auch sofort wieder ein, dass ich sie noch fragen wollte, ob wir mehr Zeug ohne ihn unternehmen können. Aber wenn er dabei ist, kann ich das wohl schlecht.
Ich habe gar keine Lust auf ihn, also gehe ich gleich weiter zum nächsten Raum, in welchem wir gleich Englisch haben werde. Ich stelle meine Sachen ab und überlege, wie ich meine Pause jetzt alleine überleben soll.

Ich entscheide, dass ich mich kurz auf dem Klo verstecken gehe. Da kann ich auch noch auf mein Handy schauen und Linus eine Nachricht schicken. Nicht, dass er sich sonst noch was anderes für den Tag vor nimmt!
Schnell laufe ich also zu den Jungstoiletten, nehme dabei einen Umweg in Kauf, damit ich nicht von Lea und Stefan gesehen werden kann und schließe mich in einer von den wenigen Kabinen ein. Mein Handy liegt schon fast wie von selbst in meinen Händen und ich muss mit entsetzen feststellen, dass ich mehrere Nachrichten bekommen habe. 14 um genau zu sein. So viele bekomme ich sonst nie. Die Leute wissen, dass ich soziale Interaktion über mein Handy nicht so mag. Ich schreibe sogar noch regelmäßig Briefe an eine Freundin, die vor wenigen Jahren leider wegziehen musste.
Egal, du musst diese Nachrichten lesen, Felix! Öffnen! Los!

Okay, ein paar verpasste Anrufe. Ich geh sowieso nie ran, egal wer anruft. Das wäre also genau so gewesen, wenn ich am Handy gesessen hätte. Dass die Anrufe alle von Linus stammen, beunruhigt mich zunächst nicht. Er hat sowas öfters. Er nennt das "schlechte Phase". Er weiß, dass ich das nicht mag und auch niemals ran gehen werde, aber das ist für ihn in Ordnung.
"Ich mag es einfach deine Stimme im Anrufbeantworter zu hören.", hat er mir damals gesagt und dabei verschmitzt gelächelt. Das hat mich gefreut. Ich spreche ab und zu neue Sätze in mein Handy, so hat er ein bisschen Abwechslung.
Was das mit seinen schlechten Phasen auf sich hat, wollte Linus mir nicht erklären. Ich schätze, dass es mit seiner Psyche zu tun hat. Ich glaube nämlich, dass es einen Grund gibt, warum er nie über seine Familie redet. Aber das ist nur reine Spekulation. Fragen will ich ihn nicht. Ich habe Angst, dass ich ihn dadurch verletzen könnte. Und ich glaube, er freut sich, wenn ich das einfach so hin nehme. Schließlich ist er ja ein normaler Mensch, wie wir anderen doch auch. Nur mit schlechten Phasen.

Als ich dann aber seine Nachricht lese, bekomme ich doch etwas Angst:

Felix, ich muss dich sehen. Jetzt sofort. Es ist wichtig!

Am liebsten würde ich aus der Schule flitzen. Aber das geht doch nicht. Schulpflicht und so...
Ich versuche mich zu beruhigen und schreibe ihm, dass er mich nach dem Unterricht vorm Lehrerparkplatz abholen kann. Da sind meistens keine Schüler, die ich kenne - daher nicht schlimm, wenn wir uns auf der offenen Straße umarmen oder so. Denke ich. Oder viel mehr hoffe ich.
Ich muss für ihn da sein, also nehme ich lieber das Risiko in Kauf, von irgendjemanden gesehen zu werden, als unser Treffen auf heute Abend zu verschieben.

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