Treppen

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"Und ihr habt euch einfach so wieder vertragen?" Lea setzt sich zu mir auf die Bank im Innenhof. Sie lächelt zwar, aber ihre Augen verraten mir, dass sie es für keine gute Idee hält, wenn ich mich wieder mit Linus treffe.
Ich gucke sie mit einem schuldbewussten Blick an. "Ich konnte nicht anders. Ich habe ihn nun mal vermisst." Ein Seufzer fährt mir über die Lippen.

"Ich kenne dich ja. Du hast ein zu weiches Herz.", entgegnet sie mir und schüttelt ihren Kopf. "Aber lass ihm kein zu leichtes Spiel." Ermahnend hebt sie ihren Zeigefinger.
Ich schmunzle. Irgendwie ist es ja süß von ihr, dass sie so auf mich aufpassen will.

"Wir treffen uns gleich nach der Schule, vielleicht kann ich ihn doch noch zum reden bringen." Ich zucke mit den Schultern.
Lea klopft mir auf die Schulter. "Lass bloß nicht locker, das ist er dir schuldig."
Dann springt sie auf, schultert ihren Rucksack und geht Richtung Tür. Ich mache es ihr nach und laufe hinterher.
Bald sind Ferien,  also beginnen wieder diese besonderen Tage, an welchen fast jeden Tag eine Klausur geschrieben wird. Da darf man nicht zu spät in der Klasse sein, wenn man keinen blöden Platz abbekommen will.

Es fällt mir schwer, mit meinen Gedanken bei den Biologieaufgaben zu bleiben. Immer wieder kommt mir Linus in den Kopf. Wie wir zusammen an seinem Lieblingsplatz gelegen haben und er mir von seinen Eltern erzählt hat. Er war so verletzlich in diesem Moment. Und jetzt das. Was kann nur passiert sein, dass er sich gar nicht mehr gemeldet hat?
So gut ich kann, versuche ich alle Aufgaben zu lösen, bevor ich die Klausur früher als nötig abgebe. Ich bin einfach zu aufgeregt, um noch länger zu warten. Vielleicht steht er ja schon mit seinem Auto auf dem Parkplatz?

Eilig laufe ich die Treppen herunter, rase durch die Tür und sprinte auf den Parkplatz.
Und tatsächlich steht er dort schon. Seine verwuschelten Haare springen mir sofort ins Auge und ich muss schmunzeln. Ich laufe in seine Arme, ziehe seinen Duft ein.

"Hey, mein Kleiner!", flüstert er mit seiner wundervollen Stimme in mein Ohr, gibt mir einen Kuss auf die Stirn und lässt mich wieder los.
"Ich hab dich vermisst!", kommt es aus mir heraus.
Er wuschelt durch meine Haare, bevor er mir die Autotür aufhält.
"Wo geht es heute hin?", frage ich gespannt, während ich es mir auf dem Sitz gemütlich mache. Linus' Auto hat eine Sitzheizung, da will man gar nicht mehr aufstehen, wenn man einmal gesessen hat.
"Lass dich überraschen." Linus schmunzelt.

Auf der Fahrt versuche ich ihm zu erklären, was in der Klausur heute alles gefragt wurde. Er hört interessiert zu, was mich wundert, denn wer findet so etwas schon spannend?
Wir fahren heraus aus unserer Kleinstadt, vorbei an kleinen Dörfern. Ich habe schon keine Ahnung mehr, wo wir sind, doch Linus fährt unbeirrt weiter. Er muss wohl genau wissen, wo er lang fahren muss. Ich hätte das nicht geschafft, ganz ohne Navi. Aber vielleicht fährt er hier ja auch öfters lang, wer weiß.

Langsam bleiben wir vor einem großen Mehrfamilienhaus zum stehen. Es ist alt, sieht eher verfallen aus, als würde dort niemand mehr leben. Ich gucke Linus verwundert an.
"Ich möchte, dass du siehst, wie wichtig du mir bist. Und dass ich dir vertraue. Auch, wenn du davon manchmal zu wenig mitbekommst." Er lächelt mich eher traurig als glücklich an.
"Hier wohne ich, Felix. Es ist mir peinlich, ich versuche es immer geheim zu halten. Aber etwas besseres kann ich mir im Moment nicht leisten."

Ich nehme seine Hand in meine. Mir wird ganz warm, ich bin total glücklich, dass er sich mir langsam öffnet.
"Das ist süß von dir, Linus." Ich versuche ihn bestärkend anzusehen. "Ich bin froh, dass du es mir zeigst. Und ich bin sicher, dass es bei dir richtig gemütlich ist. Die Fassade sagt doch nichts über das Innere!"
Linus lacht. Es ist ein richtiges, ernstgemeintes, fröhliches Lachen. Mein Herz schlägt schneller. Es ist schön, ihn so glücklich zu sehen.

"Lass uns herein gehen, dann kannst du es beurteilen." Er drückt meine Hand.
Wir steigen aus, ich nehme seine Hand wieder in meine und wir laufen auf die kleine Eingangstür zu.
Mehrere Klingelschilder hängen rechts neben ihr, doch nur wenige davon tragen auch einen Namen. Hier muss es sehr einsam sein, vor allem Nachts.

Qietschend geht die Tür auf, Linus lässt mir den Vortritt.
"Ich wohne ganz oben. Leider gibt es keinen Aufzug." Sein Lachen erklingt hinter mir.
"Dann machen wir eben ein bisschen Sport!", ich lache mit ihm. Innerlich graust es mir aber, denn ich weiß ganz genau, dass ich zu unsportlich bin, um nachher nicht schnaufend oben anzukommen.

GelbWo Geschichten leben. Entdecke jetzt