Familie

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Ich könnte noch ewig so liegen bleiben. Immer wieder abwechselnd zwischen Linus und dem Himmel hin und her schauen und mich einen Keks freuen, dass er diesen schönen Ort mit mir teilen will.
Als ich ihn angucke und er meinen Blick erwidert, fällt mir auf, dass wir uns nicht ohne Grund getroffen haben. Seine lächelnden Lippen täuschen mich nicht über seine dunklen Augenringe hinweg.
Ich streichle mit meiner Hand über seine Wange. Mein ganzer Körper kribbelt dabei, als würde Ameisen in meinen Adern wandern. Linus schließt die Augen. Diesen Moment möchte ich ungern zerstören, aber ich muss einfach wissen, was er hat. Anders kann ich ihm ja schlecht helfen.

"Was ist eigentlich los?", hauche ich leise, aus Angst, meine Worte könnten ihn verletzen.
Linus öffnet seine Augen wieder. Dieses Mal versucht er nicht mehr, seine Gefühle zurück zu halten. Er lässt sie heraus, Schmerz macht sich in seinen Augen breit.

"Ach, Felix. Es ist nicht so einfach." Er schüttelt seinen Kopf, eine kleine Träne läuft einsam über seine Wange, hinab zu seiner Lippe, wo er sie schnell mit seiner Hand wegwischt.
"Du weißt das alles gar nicht. Und ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll."

"Versuche es, ich bin geduldig und höre dir zu.", versichere ich ihm und nehme seine Hand zwischen meine. Mit meinem Daumen streiche ich über seine weiche Haut.

"Also", fängt er an, macht dann aber eine Pause. Man sieht ihm an, dass es in seinem Kopf rattert. "Ich hab einfach Probleme, okay?" Er schlägt die Augenlider zu.
"Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht magst." Irgendwie finde ich es schade, dass er sich mir nicht anvertrauen mag, aber das kann ja noch kommen. Nicht die Hoffnung aufgeben! Er braucht einfach etwas Zeit. Das ist doch in Ordnung.

"Bleib einfach bei mir, ja? Ich mag jetzt nicht allein sein." Er öffnet seine Augen wieder und scheint seine Gefühle wieder unter Kontrolle zu haben. Manchmal wundere ich mich, wie verschlossen ein Mensch sein kann. Aber ich freue mich trotzdem, dass ich bei diesem intimen Moment dabei sein darf. Auch wenn ich keinen blassen Schimmer habe, was Linus gerade durch macht.

Ablenkung wäre jetzt bestimmt gut. Ich freue mich auch immer, wenn ich nicht zu lange in meinen traurigen Gedanken gefangen bin.
Händeringend suche ich in meinem Kopf nach einem Thema, welches ihn aus seiner negativen Stimmung heraus holen könnte.

"Du hast mir noch nie von deiner Mutter erzählt.", stelle ich fest. "Habt ihr noch guten Kontakt? Erzähl mir doch mal was über sie, wenn du magst." Ich gucke ihn an. Irgendetwas in seinen Augen verändert sich. Ich wusste, dass das eine gute Idee ist, ha!

"Sie lebt nicht mehr.", flüstert Linus. Okay, das ging nach Hinten los. Tolle Idee, Felix, sei stolz auf dich.
"Genau so wie mein Vater. Sie hatten einen Autounfall, das ist schon fünf Jahre her. Ich hatte sie lieb und auch jetzt liebe ich sie noch. Als Kind dachte ich immer, ich hätte die besten Eltern der Welt. Je älter ich werde, desto mehr fällt mir auf, wie viel sie falsch gemacht haben. Wie viel in unserer Familie schief gelaufen ist. Die Eltern sind Gott in den Augen eines Kindes. Doch jetzt bin ich kein Kind mehr, Felix." Linus löst seine Hand aus meinem Griff und reibt sich die Augen, als wäre er müde.
Ich verspüre den Drang, mich bei ihm zu entschuldigen. Ich hätte mit diesem Thema nicht anfangen sollen. Aber mein Mund öffnet sich nicht, ich bin noch zu schockiert von seiner Antwort. Vor fünf Jahren? Linus ist jetzt 20, also muss er seine Eltern mit 15 schon verloren haben. Allein die Vorstellung finde ich schrecklich.

"Weißt du", fängt Linus an. Ich mag es, dass er diese Wörter so oft benutzt. Ich weiß auch nicht warum, es ist einfach niedlich.
"Du siehst deine Eltern zu oft als etwas negatives. Das solltest du nicht. Sie sind auch nur Menschen. Sie machen sich Sorgen. Und sie wollen nur das Beste für dich. Sei dankbar, dass du sie hast. Denn ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn sie nicht mehr da sind." Er guckt mich wieder mit seinem Lehrerblick an. Erstaunlich erwachsen wirkt er so auf mich. Doch ich weiß, dass er ganz tief im Inneren ziemlich traurig sein muss. "Es ist nicht schön, wenn du ohne sie da stehst. Egal, wie blöd du sie davor gefunden hast."

Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Statt dessen nicke ich bloß. Linus scheint das zu reichen. Er nimmt mich in den Arm.
Ich wünsche mir, ich könnte etwas von seinem Schmerz in mich aufnehmen. Unbeholfen schließe ich meine Arme um seinen Körper.

Wir liegen mindestens fünf Minuten so, schweigen.
"Irgendwie wusste ich schon in dem Augenblick, in dem ich dich das erste Mal gesehen habe, dass du etwas ganz besonderes bist.", flüstere ich in sein Ohr.
Linus löst sich aus der Umarmung, nimmt meinen Kopf in seine Hand und strahlt mich an.
"Danke, Felix.", wispert er so leise, dass ich es kaum verstehe.

Ein paar Sekunden schaue ich ihm in seine Schokoladen-Augen, bevor er sie schließt und sich mir langsam nähert. Wird es das, was ich denke?
Mein Herz klopft bis zum Hals, meine Hände fangen wieder an, Wasserfälle zu schwitzen. Die Ameisen in mir scheinen eine Party zu schmeißen.
Und da endlich, weich und warm, legen sich seine Lippen auf meine und wir küssen uns. Erst nur ganz zaghaft, als müssten wir uns langsam vortasten. Dann immer leidenschaftlicher. Ich wünsche mir, dass dieser Moment niemals enden wird, obwohl ich genau weiß, wie sinnlos dieser Wunsch doch ist.

Ganz langsam entfernen wir uns wieder von einander. Ich öffne meine Augen. Ein breites Grinsen macht sich auf Linus' Gesicht breit und ich spüre, wie auch ich lächle. Er legt sich auf den Rücken, ich kuschle mich eng an ihn, ziehe seinen Duft ein. Linus legt seinen Arm um meinen Rücken. Keiner von uns sagt etwas, wir genießen diesen Augenblick. Kurz frage ich mich, ob ich wohl nur träume, aber nein, dieser Moment kann kein Traum sein.

GelbWo Geschichten leben. Entdecke jetzt