Als endlich die Klingel ertönt, packe ich in Höchstgeschwindigkeit meine Tasche. Stopfen wäre vielleicht ein passenderer Begriff. Schon sprinte ich aus dem Raum, die Treppe herunter, raus auf den Schulhof, den kleinen Gang zum Lehrerparkplatz entlang.
Ich muss so schnell es nur geht zu ihm, ihn in den Arm nehmen und seinen Rücken streicheln. Ihm in seine braunen Augen gucken und ihm sagen, dass alles wieder gut wird.Kurz muss ich mich orientieren - stehen bleiben, durchatmen - bevor ich ihn auf der anderen Straßenseite - an seinem Auto lehnend - stehen sehe. Er trägt wieder seine Lederjacke, dazu ein gelbes T-shirt und eine schwarze enge Hose. Welche Converse er diesmal angezogen hat, kann ich von hier aus nicht sehen, ein Busch versperrt mir die Sicht. Seine Augen sind von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt.
Ich winke ihm zu, er schmunzelt. Bestimmt ist mein Kopf total rot geworden vom Laufen.Ich überquere die Straße, als kein Auto kommt und scheitere beim Versuch, nicht schon wieder viel zu schnell zu gehen. Ohne etwas zu sagen, nehme ich Linus in den Arm. Er riecht nach Pfefferminz. Er liebt Pfefferminz-Schokolade, bestimmt hat er was davon genascht. Eine gute Idee, ich esse auch immer leckere Sachen, wenn es mir nicht gut geht. Also psychisch nicht gut, meine ich natürlich.
Linus seufzt leise und tritt ein paar Schritte zurück. Er hält meine Ellenbogen in seinen Händen. Das muss bestimmt komisch aussehen.
"Eigentlich wollte ich es dir ja erst nächste Woche zeigen, aber ich möchte, dass du jetzt schon mitkommst." Er legt seinen Kopf schief, als würde er nachdenken.Am liebsten würde ich ihm seine blöde Sonnenbrille aus den Gesicht reisen. Ich mag es nicht, wenn ich einer Person, mit der ich ein Gespräch führe, nicht in die Augen sehen kann. Statt dessen antworte ich nur: "Da muss ich sowieso noch mal mit dir drüber reden, aber das geht auch im Auto."
Linus nickt nur.
Ich öffne die Autotür und mir kommt wieder der typische Orangenschokoladen Geruch entgegen. Als auch Linus im Auto ist, stelle ich laut fest: "Du, dein Auto riecht irgendwie immer so gut, wie kommt das?"
Er nimmt die Sonnenbrille ab. Dunkle Augenringe leuchten um seine Augen. Er sieht müde aus.
Anstatt zu antworten, zeigt er auf die Rückbank. Ich drehe mich um. Meine Augen werden weit. Tatsächlich: eine Packung feine Orangen-Schokoplättchen von Lindt. Das sind die Besten!
Linus lacht: "Die hab ich immer mit, falls ich Hunger bekomme. Sie sind köstlich und verbreiten einen zauberhaften Duft." Er fährt mit seiner rechten Hand durch sein wuscheliges braunes Haar bevor er das Auto startet und wir los düsen.Wir sind schon ein paar Minuten gefahren, als mir wieder einfällt, dass ich noch von unseren Freitagsplänen erzählen wollte. Also versuche ich, so überzeugend ich nur kann, Linus zu erklären, wie toll es wäre, wenn er an Leas und meinem Filmabend teilhaben würde.
Er sieht dabei so skeptisch aus, dass ich schon fest der Überzeugung bin, dass er nicht kommen will."Na gut", sagt er dann doch, lächelt mich noch einmal an, während das Auto zum stehen kommt. Auch wenn er versucht, glücklich auszusehen, seine Augen verraten, dass irgendwas Negatives noch in ihm schlummert. Vielleicht kann ich ihm das ja entziehen.
Erst einmal gilt es aber, auszusteigen und die Gegend zu inspizieren. Mal sehen, wo Linus mich hingebracht hat. Ich strecke mich und drehe dabei eine Pirouette. Zu meiner Überraschung stelle ich fest, dass wir an dem kleinen Wald sind, in welchem ich als Kind öfters mit meiner Familie spazieren gegangen bin. Dort gibt es auch einen ziemlich großen Spielplatz mit Reifenschaukeln und einer großen Kletterwand. Ich habe diesen Ort geliebt.
Linus steht bereits ein paar Schritte von mir entfernt und gibt mir ein Handzeichen, dass ich ihm folgen soll. Das kurze Stück zu ihm laufe ich. So kann ich mich wenigstens mit ihm unterhalten. Wir gehen in die entgegengesetzte Richtung, als die, welche ich mit meinen Eltern immer gegangen bin. Hier war ich noch nie. Irgendwie komisch.
Ich will schon anfangen, ihm von meinen Kindheitserinnerungen zu erzählen, doch da sagt er schon: "Felix, ich zeige dir jetzt etwas besonderes. Du weist, das ist mein Lieblingsort und ich möchte nicht, dass du irgendwem davon erzählst, okay?" Während er dies sagt, guckt Linus mir direkt in die Augen. Sein Blick hat etwas strenges, dieser Ort ist ihm wirklich wichtig. Er hat mir nur einmal davon erzählt, aber das hat schon gereicht, um mir zu zeigen, dass Linus anscheinend eine tiefere Bedeutung in diesem Ort sieht.Ein paar Meter sind wir schon in den Wald gelaufen, als Linus auf einmal den kleinen Trampelpfad verlässt, welche die unzähligen Touristen hier hinterlassen haben müssen, und direkt in ein Gebüsch hinein läuft. Hat er keine Angst, sich weh zu tun? Kurz zögere ich, aber ich will ihn auch nicht im Stich lassen, also folge ich ihm weiter.
Das Gebüsch ist zum Glück nur einen Schritt breit und Linus hält die größten Äste für mich fest, bevor ich auf eine kleine grüne Wiese trete. Auf der anderen Seite der Wiese stehen ein paar Steine direkt an einem See. Na ja, kann man das See nennen? Vielleicht eher ein kleiner Tümpel. Aber trotzdem hat das ganze etwas schönes. Als hätte ich die Welt, wie ich sie kenne, verlassen, um nun an diesem Ort zu sein.
Linus sitzt in Schneidersitz in der Mitte der Wiese und guckt mich schmunzelt an. Er muss bemerkt haben, dass ich diesen Ort faszinierend finde.
"Ich glaube, du verstehst ein bisschen, warum ich so gerne hier bin!" sagt er und streckt seine Hand aus. Ich lege meine hinein und setzte mich zu ihm.
"Weißt du, ich war öfters mit meiner Mutter hier, als ich noch klein war. Dieser Ort ist voll mit Erinnerungen an eine schöne Zeit. Wenn ich her komme, habe ich fast das Gefühl, die Erinnerungen noch deutlicher spüren zu können. Vor allem, wenn ich schlecht drauf bin, ist es mein Zufluchtsort." Er flüstert seine Worte, legt dabei den Kopf schief und lächelt. Diesmal leuchten seine Augen mit. Erinnert er sich?Plötzlich lässt er sich auf den Rücken fallen. Ich lege mich neben ihn ins Gras. Er schaut hinauf in die Wolken. Schön sieht er aus, verträumt irgendwie.
Ich rücke so nah es geht an ihn heran. Unsere Arme berühren sich, er schreckt aber nicht zurück, vor einem Jahr hätte ich nicht gedacht, dass wir jemals in so eine Situation kommen würden, ich hätte niemals gedacht, dass er sich jemals mit mir treffen wollen würde.Das erste Mal habe ich ihn im Stadt-Café gesehen. Einer unserer typischen Abende dort. Er stand an der Theke. Seine Haare waren zerzaust, er hatte bunte Farbkleckse an der rechten Hand, was ich irgendiwe süß fand. Ich wollte ihn nicht ansprechen. Mir war bewusst, dass er mindestens zwei Jahre ältern sein müsste als ich. Und viel zu schön war er für mich auch. Auf eine Abfuhr hatte ich keine Lust.
Das zweite Mal sah ich ihn im Park, als ich dort Hausaufgaben gemacht habe, um meinen Eltern zu entfliehen, welche früher von der Arbeit gekommen sind. Er saß auf der Bank am Teich und fütterte die Enten. Ich habe mich zu ihm gesetzt und wir haben sogar ein paar Worte geredet. Ein Wunder bei meiner Sozialkompetenz.
Beim dritten Mal habe ich mich endlich getraut. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie ich mit zitternder Stimme gefragt hatte, ob wir was zusammen machen wollen. Und seit dem treffen wir uns immer öfter."Du Felix?", fragt er mit seiner weichen, warmen Stimme. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, er wäre Sänger oder vielleicht Radiomoderator. Obwohl, weiß ich es denn besser?
"Hm?" Ich drehe meinen Kopf zu ihm. Er guckt immer noch hoch. Was er wohl in den Wolken sehen kann?
"Was ist eigentlich deine Lieblingsfarbe?" Er dreht sich nun zu mir, legt seine Hand auf meine Schulter.
Am liebsten würde ich "Braun" antworten. Schokoladen Braun, Reh-Braun, genau wie seine Augen. Ist das nicht zu kitschig?
"Ich denke Blau", antworte ich dann. Das passt. Ich mag Wasser.
"Was ist mit dir?"
"Gelb"
"Gelb?", ich lache. Das war die kürzeste Antwort, die ich je von ihm bekommen habe.
"Atomkraft-Gelb?" Ich wackle mit den Augenbrauen. Kaum zu glauben, ich dachte, jetzt kommt wieder irgendwas tiefgründiges.Linus guckt mich an, als wäre ich verrückt.
"Gelb wie Sonnenblumen... Sand am Meer..." er guckt wieder hoch, nimmt seine Hand zurück und wuschelt durch seine Haare.
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Gelb
Teen FictionIch lege mich neben ihn ins Gras. Er schaut hinauf in die Wolken. Schön sieht er aus, verträumt irgendwie. Ich rücke so nah es geht an ihn heran. Unsere Arme berühren sich, er schreckt nicht zurück. Vor einem halben Jahr hätte ich nicht gedacht, das...